Von Der Glaubensgemeinschaft Zur Machtmaschine Wie Die Europäische Volkspartei Immer Größer Und Mächtiger Wurde Und Warum Sie Heute Vor Kraft Kaum Noch Laufen Kann

Von Der Glaubensgemeinschaft Zur Machtmaschine Wie Die Europäische Volkspartei Immer Größer Und Mächtiger Wurde Und Warum Sie Heute Vor Kraft Kaum Noch Laufen Kann

10 forum 396 Politik Von der Glaubensgemeinschaft zur Machtmaschine Wie die Europäische Volkspartei immer größer und mächtiger wurde und warum sie heute vor Kraft kaum noch laufen kann Teil 2: Der große Umbau1 Pierre Lorang Im folgenden zweiten Teil des (mittlerweile auf drei Teile erweiterten) Beitrags über den Wandel der Europäischen Volkspartei (EVP) von 1976 bis in die Gegenwart wird dargelegt, wie die „konservative Frage“, die bis Anfang der neunziger Jahre einen Riss durch das Parteienbündnis zog und für viele hitzige Kontroversen sorgte, sich langsam aber sicher von der Tagesordnung verabschiedete. Ein historischer Wendepunkt im Streit zwischen den Bewahrern einer „reinen“ christlich-demokratischen und christlich-sozialen Lehre einerseits und den Machtpragmatikern andererseits, die ein breites Mitte-rechts-Kartell des „bürgerlichen Lagers“ anstrebten, war der Beitritt des Partido Popular aus Spanien und die Implosion der italienischen Democrazia Cristiana. Von da an setzte der große Umbau ein. Plötzlich saßen die britischen Tories mit im Boot, derweil immer neue Gesichter unter den EVP-Granden eine tiefgreifende ideologische Metamorphose verkörperten: José María Aznar, Valéry Giscard d’Estaing, Silvio Berlusconi, José Manuel Barroso, Nicolas Sarkozy… Die Erblast des Franquismus Portugals 1986 in die EVP aufgenommen, machte aber zugleich bei der EDU2 mit. Aus heutiger Per- Spanien und Portugal stellen einen Sonderfall in der spektive, wo es scheinbar unmöglich geworden ist, europäischen Nachkriegsgeschichte dar, weil sie bis dass eine Partei selbst bei gröbsten Verstößen gegen Mitte der siebziger Jahre diktatorisch regiert wurden. die EVP-Grundwerte aus dieser ausgeschlossen wird Ein demokratisches Mehrparteiensystem existierte – die Largesse gegenüber dem ungarischen Fidesz weder unter General Francisco Franco in Spanien von Viktor Orbán grenzt an Narrenfreiheit –, mutet noch im korporatistischen Estado Novo des António es schon seltsam an, dass das CDS wegen der „blo- de Oliveira Salazar. In Portugal bildete sich nach der ßen“ Ablehnung des Maastrichter EU-Vertrags und Nelkenrevolution vom 25. April 1974 und der Wie- Nichtzahlung der Mitgliedsbeiträge 1993 aus der dereinführung der Demokratie eine relativ kleine EVP rausflog.3 und sehr rechtskatholische Partei mit sowohl christ- lich-demokratischen wie konservativen Referenzen: Wesentlich komplexer (und mit weitreichenderen der Partido do Centro Democrático Social (CDS). Konsequenzen) stellt sich der Fall Spanien dar. Vor Sie wurde rasch in die EUCD und beim EG-Beitritt dem Bürgerkrieg (1936-1939) und der Errichtung Politik Juni 2019 11 der Franco-Diktatur gab es faktisch nur im Basken- Bei den Parlamentswahlen vom Oktober 1982 land4 und in Katalonien5 so etwas wie eine lupen- implodierte die UCD und der Sozialist Felipe Vor dem Bür- reine Christdemokratie freiheitlich gesinnter Katho- González übernahm die Regierungsgeschäfte. Drei gerkrieg gab es 6 liken. In den anderen Regionen interpretierte die Monate zuvor hatten 13 christdemokratische Abge- faktisch nur im katholische Kirche die Vorgaben der noch jungen ordnete unter Führung von Óscar Alzaga die UCD Baskenland und römischen Soziallehre meist allzu einseitig zum Vor- verlassen und eine neue Kleinpartei, den Partido in Katalonien so teil von Großbürgertum und Aristokratie. Progres- Demócrata Popular (PDP) gegründet. Dieser schloss etwas wie eine sive katholische Laienbewegungen wie die christli- ein Wahlabkommen mit der AP, die zur stärksten che Arbeiterjugend tendierten zu den Sozialisten. Oppositionsfraktion im Parlament avancierte. Sechs lupenreine Christ- Jahre später, im Januar 1989, fusionierten AP, PDP8 demokratie frei- Dennoch formierten sich im Umfeld der 1963 und der Partido Liberal (PL) zum Partido Popular heitlich gesinnter gegründeten Kulturzeitschrift Cuadernos para el (PP). Fraga und seine bayerischen Freunde hatten Katholiken. Diálogo schon unter Franco vereinzelte Initiativen ihr Ziel erreicht. Es sollte die erfolgreichste Partei- oppositioneller Katholiken. Nach dem Tod des Cau- neugründung der jüngeren europäischen Geschichte dillo 1975 kam es zur Gründung diverser Kleinpar- werden. teien wie u.a. der Izquierda Democrática (Demo- kratische Linke) von Joaquín Ruiz-Giménez. Ihre EVP-intern war beim EG-Beitritt Spaniens 1986 Wahlergebnisse bewegten sich in homöopathischen unumstritten, dass der baskische PNV, die katalani- Dimensionen. Offenkundig waren die Bürger nach sche UDC sowie der gesamtspanische PDP dazuge- Jahrzehnten klerikalfaschistischen Miefs nicht für hören müssten. Schwieriger wurde es, nachdem der ihre Ideen empfänglich. Nach etlichen Um- und PDP im nach Meinung von Kritikern „postfranquis- Neustrukturierungen gingen die Christdemokraten tischen“ PP aufgegangen war. Dieser nahm – wie schließlich in der zentristischen Föderation Unión zuvor schon die AP – ganz selbstverständlich an den de Centro Democrático (UCD) des ersten demokra- Tagungen der aus Wien gelenkten EDU teil.9 In die tisch gewählten Ministerpräsidenten nach Francos EVP gelangte der PP in zwei Schritten (und gegen Tod, Adolfo Suárez, auf. Diese wurde tatkräftig von erheblichen Widerstand von Basken10 und Katala- der deutschen CDU und ihrer Konrad-Adenauer- nen): 1989 durch die Aufnahme seiner Europaab- Stiftung unterstützt. Franz Josef Strauß und die geordneten in die EVP-Fraktion; 1991 durch Erlan- CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung investierten dage- gung der Vollmitgliedschaft in der Partei. Sogleich gen in andere Aktien: die rechtskonservative Volks- meldeten die Spanier ihren Führungsanspruch an allianz (Alianza Popular, AP) von Manuel Fraga und besetzten wichtige Schlüsselpositionen, zuerst Iribarne, der in den sechziger Jahren unter Franco in der Fraktion, später auch im Parteiapparat.11 als Informationsminister gedient hatte.7 Fraga ging es weniger um autoritäre Restauration als vielmehr Tangentopoli und das Ende der DC darum, Erbe und Andenken des Franquismus in Ehren zu halten und dem millionenfachen Fußvolk Die Integration des spanischen PP bedeutete des Regimes eine neue politische Heimat im demo- einen zentralen Wendepunkt in der Geschichte kratisch verfassten Spanien zu offerieren. der EVP. Von nun an waren die Befürworter einer Der Gründervater des spa- nischen PP, „Don Manuel“ Fraga, diente unter Genera- lissimo Francisco Franco als Informationsminister. Via European People's Party People's European Via 12 forum 396 Politik Foto via European People’s Party People’s via European Foto / Mussolini via Facebook Foto Silvio Berlusconi und EVP-Generalsekretär Antonio López-Istúriz Auch 2019 kandidierte die Enkelin des Duce, beim vertraulichen Tischgespräch. Alessandra Mussolini, wieder für das EP. Umwandlung zur „political family of the centre- Als Herold eines freien, unverfälschen Marktes mit right“ deutlich in der Überzahl. Diese Tendenz ausgeprägter Aversion gegen staatliche Regulierung, verstärkte sich, als die italienische DC, lange Zeit Fiskus und „rote“ Richter passte der Milliardär auch tragende Säule des christdemokratischen Pols, im ideologisch besser ins Konzept. Dessen Selfmade- Zuge der Mailänder Justizermittlungen Mani pulite Retortenpartei Forza Italia (FI), 1994 als politischer („Saubere Hände“) ab 1992 im Korruptionssumpf Ableger des Mailänder Fininvest-Konzerns gegrün- des Tangentopoli-Schmiergeldskandals versank. Bin- det, trat 1998 der EVP-Fraktion im Straßburger nen zwei Jahren zerbarst das gesamte Parteiensystem Parlament bei. Am 1. Oktober 1999 wurde sie mit der Ersten Republik in tausend Stücke, die DC löste Handkuss als Vollmitglied in die Parteienfamilie des sich am 16. Januar 1994 auf. In den Folgejahren zer- europäischen centro-destra aufgenommen. splitterte sie in alle Richtungen, von ziemlich rechts bis konturiert links. Ihre Altvorderen, Jungspunde Als der Cavaliere seine Forza-Partei 2009 mit der und Nachgeborenen gründeten immer neue, sowohl nationalkonservativen Alleanza Nazionale (AN)12 linke wie rechte Sammelbewegungen, schmiede- zur neuen Bewegung „Il Popolo della Libertà“ (PdL) ten Wahlallianzen, kultivierten in Myriaden von verschmolz, zogen automatisch auch die früheren Kleinstparteien ihr eitles Ego und überzogen sich Nostalgiker des Faschismus in die EVP ein – ohne gegenseitig mit Gerichtsprozessen. Am schlimmsten dort noch irgendwie peinliche Berührung zu provo- aber dürfte der Tatbestand wiegen, dass die rechten zieren. Infolge der ungezählten Skandale Berlusconis Wähler der DC, deren Kinder und Enkel heute aus und interner Rivalitäten fiel das „Volk der Freiheit“ Überzeugung und ohne schlechtes Gewissen rechts im November 2013 jedoch mit Karacho ausein- (Forza Italia) oder noch rechter (Lega) wählen. ander, aus dem PdL wurde Forza Italia 2.0. Viele Ex-AN-Leute gingen wieder eigene Wege, Duce- Der einst starke linke DC-Flügel war von 1994 bis Enkelin Alessandra Mussolini aber blieb an Bord. 2002 im neugegründeten Partito Popolare Italiano Als Europaabgeordnete wurde sie 2014 Mitglied der (PPI) organisiert. Innerhalb der EVP versuchte er, EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. das ideelle Erbe der DC am Leben zu erhalten – ohne viel Erfolg. Der Wähleranteil des PPI betrug noch Das Gastspiel der Tories (1992-2009) knapp zehn Prozent, weniger als ein Drittel des vor- maligen DC-Kapitals, sein moralisches Ansehen war Nicht nur wegen des Stenz’ aus Mailand, sondern ramponiert. Drum setzte die neue EVP-Achse Ber- generell sollte das Jahr 1999 für die EVP eine Zäsur lin-Madrid recht bald auf ein neues, unverbrauch- darstellen: Dank ihrer geschickten – oder eher skru-

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