Satyagraha Satyagraha PHILIP GLASS Satyagraha M. K. Gandhi in Südafrika Oper in drei Akten von Philip Glass Text von Constance DeJong und Philip Glass basierend auf der Bhagavadgita Uraufführung am 5. September 1980 an der Stadsschouwburg Rotterdam Charaktere M. K. Gandhi Struktur der Oper Miss Schlesen, seine Sekretärin Mrs. Naidoo, indische Mitarbeiterin Kasturbai, Gandhis Frau 1. Akt TOLSTOI Mr. Kallenbach 1. Kuru, Feld der Gerechtigkeit … Mythos und Geschichte vollziehen Parsi Rustomji, indischer Mitarbeiter sich zugleich. Auf dem sagenumwobenen Schlachtfeld Kuru und auf einer südafri- Mrs. Alexander kanischen Ebene ziehen Verwandte gegen Verwandte und Freunde gegen Freunde Lord Krishna in den Kampf. Inmitten der verfeindeten Heere zweifelt der mythische Kriegerfürst Prinz Arjuna Arjuna am Sinn des Krieges. Ebenso Gandhi, sein moderner Geistesgenosse. Die Gottheit Krishna gemahnt beide an ihre Pflicht zu handeln. 2. Auf der Tolstoi-Farm (1910) … Der Architekt und Weggefährte Orchester Hermann Kallenbach stiftet Gandhi und dessen Mitstreitern ein Grundstück – 3 Flöten (Piccolo) auf dem die unabhängige, genossenschaftlich organisierte »Tolstoi-Farm« errichtet 3 Oboen wird. Hier erproben Gandhi und seine Mitstreiter neue, gemeinschaftliche Englischhorn Lebensweisen. 4 Klarinetten 3. Der Schwur (1906) … Die in Südafrika lebenden Inder lehnen sich 2 Fagotte gegen eine diskriminierende Gesetzesänderung der britischen Kolonialregierung Elektronische Orgel auf: den sogenannten »Black Act«. In Johannesburg geloben über dreitausend Streicher Menschen Solidarität mit Gandhi und dessen Aufruf zum gewaltfreien Widerstand. 2. Akt TAGORE 1. Konfrontation und Errettung (1896) … Nach sechsmonatiger Abwesenheit in Indien – wo er von der Unterdrückung der Inder in Südafrika berichtet hatte – kehrt Gandhi zurück. Bei seiner Ankunft im Hafen von Durban wird Gandhi von einer aufgebrachten Menge Europäer mit Steinen beworfen. Einzig Mrs. Alexander, die Frau des örtlichen Polizeipräsidenten, bietet ihm Schutz. 2. Die »Indian Opinion« (1906) … Zur Verbreitung der Ideen der Satyagraha-Bewegung gründet Gandhi die »Indian Opinion«, die Zeitung wird mit ihren zwanzigtausend Leser*innen zu einem wichtigen politischen Druckmittel. 3. Protest (1908) … Die Widerstandsbewegung wächst, auf Repression der Kolonialregierung reagieren Gandhi und seine Anhänger mit provozierten Massenverhaftungen, um die Behörden zu überfordern, und schließlich mit der öffent lichen Verbrennung von Ausweisen durch über zweitausend Mitstreiter vor der Hamidia-Moschee in Johannesburg. Die Bewegung hat ihre Feuerprobe bestanden. 3. Akt KING Der Marsch auf Newcastle (1913) … Die überwiegend indischen Minen arbeiter von Newcastle treten – angefeuert von einer Gruppe mutiger Frauen English Synopsis Türkçe – aus Protest gegen Repressalien in einen Streik. Tausende schließen sich einem synopsis en français cevirisini von Gandhi angeführten Protestmarsch, von Newcastle in die benachbarte Provinz see page à la page bu sayfada Transvaal, an. In der Reflexion hinduistischer Lehren findet Gandhi Antrieb und 36 38 39 Kraft für den weiteren Kampf und Satyagraha, das Festhalten an der Wahrheit. 3 Kunst ist eine Lüge … ist auch nicht meine Aufgabe als Künstler. Ich bin ja nicht dazu gebe- »Kunst ist eine Lüge!« ten, eine Dokumentation über Gandhi zu kreieren. Wenn ich das wollte, würde ich es nicht mit dieser Oper tun. Als Choreograph versuche ich Sidi Larbi Cherkaoui im Gespräch stets, mich von den Quellen der Sprache zu befreien und stattdessen zu den elementaren Grundlagen zurückzugehen – was für mich heißt: über die Wahrheit des Handelns, zur Energie, zur Chemie. Ich möchte zurück zu der Einfachheit von Inspiration und das Surfen auf der Körpern auf der Bühne und alle Arten von Anekdoten vermeiden. Ich möchte zur Emotion vordringen – an einen Ort, wo es keiner Worte Musik zu Satyagraha bedarf. Haben Worte denn keine Bedeutung? Der Titel der Oper Satyagraha bedeutet übersetzt Sidi Larbi Cherkaoui Natürlich. Als 41-jähriger homose- »Kraft der Wahrheit«. Was ist denn überhaupt die xueller Araber, der mit einander widersprechenden Idealen und einer »Wahrheit«? weißen Haut in Europa aufgewachsen ist, habe ich erfahren, wie mäch- Sidi Larbi Cherkaoui Für mich ist der entscheidende tig Worte sind. Die Fähigkeit, sich verbal zu verteidigen und andere mit Aspekt bei einer Suche nach der Wahrheit, dass wir uns die Frage stel- ihrer eigenen Sprache davon zu überzeugen, die Dinge aus deiner len, was es eigentlich heißt, ein Mensch zu sein – und wie wir mensch- Perspektive zu sehen, ist eine große Kraft. Auch Gandhi wusste dies. licher miteinander umgehen. Es gibt nämlich ganz unterschiedliche Er war eine sehr starke Person und ein Visionär – aber er war eben ein Wahrheiten. Zum Beispiel die Wahrheit, dass die Menschheit schreck- Rechtsanwalt und dachte auch wie ein solcher. Dieses Können erwirbt lich ist – eine Pest, die diesen Planeten zugrunde richtet. Aber die man nicht zuletzt durch das Studium, dem man sich widmet. Bevor ich Wahrheit, nach der wir streben, ist die Suche nach einem tiefen Res- mit dem Tanzen anfing, habe ich als Übersetzer aus dem Englischen pekt für den anderen und die Fähigkeit, miteinander zu teilen. Das ist und Französischen gearbeitet. Der Akt des Übersetzens hat mich in meinen Augen grundsätzlich das Entscheidende: das Teilen – sei es immer fasziniert, und ich realisiere jetzt, dass sich die Fähigkeiten, von Raum, Zeit oder vor allen Dingen von Wissen. Für mich besteht die man im Studium erwirbt, sogar in der eigenen Lebensphilosophie der tiefere Sinn des Lebens darin, dass man weitergibt, was man niederschlagen. Ich habe meine damalige Ausbildung als Übersetzer ge lernt hat. Satyagraha ist mit Blick auf Figuren wie Gandhi oder zwar nicht beendet, aber wenn ich heute choreographiere, fühle ich Ma rtin Luther King geschrieben worden, die große Dinge für die mich immer noch wie eine Art Übersetzer, als ob ich versuchte, Brü- Menschheit getan haben und sich im 20. Jahrhundert als neu gefun- cken zwischen unterschiedlichen Kunstformen zu bauen, und dabei dene, archetypische Helden unseren kollektiven Respekt verdient zeigen möchte, dass manche Dinge getanzt werden können, andere haben. Sie standen zeitweise auf der »falschen« Seite des Gesetzes, vielleicht eher gesungen. Tief im Inneren bleibt man wohl ein Kind aber auf der »richtigen« Seite der Gerechtigkeit. Sie hatten einen pro- seiner Studien. Die tiefere Motivation unseres Tuns bleibt für mich funden Einfluss darauf, was wir heute als richtig oder falsch erachten. immer noch ein Mysterium, das seinen Ursprung womöglich in unse- Und ich finde das ziemlich inspirierend, weil ihr Beispiel uns dazu ren Vorfahren und deren Vorfahren findet. Vielleicht hat es mit Bestim- anregt, eine bessere Person zu werden – was auch immer es heißt, mung zu tun, wie Gandhi sie mithilfe der Bhagavadgita für sich erkannt »besser« zu werden. hat. Zu Beginn der Oper, in der ersten Szene, sagt die Gottheit Krishna in den Worten aus der Bhagavadgita sinngemäß: Du musst sein, wer du In Satyagraha gibt es weder eine sich narrativ ent- bestimmt bist zu sein. Wenn es deine Bestimmung ist, ein Krieger zu faltende Handlung noch Figuren, die sich über ihre sein, dann ist es eben das, was du tun musst.Satyagraha ist in meinen Psychologie erklären. Wird auf der Bühne trotzdem Augen auch deshalb so stark, weil die Worte der Oper ihren Ursprung eine »Geschichte« erzählt? in ebendieser Schrift, einer der ältesten Geschichten der Menschheit, Sidi Larbi Cherkaoui Selbst in den abstraktesten -Wer finden. Es berührt mich, dass die Quellen dieser Oper von diesem sehr ken fühlt es sich am Ende meist so an, als habe man eine Form von weit entfernten Ort kommen. Die Worte sprechen zu uns auf einer Reise erlebt. Insofern glaube ich, dass es immer eine »Geschichte« ganz grundsätzlichen Ebene, wie Mantras. gibt. Möchte ich Gandhis Geschichte erzählen? Nein. Es wird mir nie Ein uralter Mythos, der von Generation zu Generation möglich sein, Gandhi ganz und abschließend zu analysieren. Aber das nach wie vor Relevanz hat. Was können wir aus der Vergangenheit für 4 5 Kunst ist eine Lüge … Kunst ist eine Lüge … die Zukunft lernen? Jede Generation hat auf eine Art und Weise von in Tokyo in sicherer Distanz befand, war das ein sehr beeindruckendes, der vorherigen gelernt. Oft jedoch geht bei diesem Wissenstransfer geradezu traumatisches Erlebnis für mich. Da wurde mir die Macht der etwas verloren, ist »lost in translation«. Deswegen gibt es auch immer Natur plötzlich sehr bewusst. In Japan lebt man mit dem Wissen um wieder Zyklen, die sich wiederholen – nicht, weil wir von unseren diese Macht, weil dort zum Beispiel Erdbeben schon immer ein Teil Eltern etwas Falsches gelernt haben, sondern weil wir nicht alles von der Kultur waren. Aber mir scheint, in Europa haben wir diese Macht unseren Großeltern gelernt haben, was wir vielleicht hätten lernen der Natur vergessen. müssen. Ich denke, es ist sehr wichtig, sich immer wieder vor Augen zu führen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Die Errungenschaften Lässt sich dem durch Bildung und Aufklärung nicht der Bürgerrechtsbewegungen etwa liegen noch gar nicht so weit zurück. entgegenwirken? Sind wir lernresistent? Und doch scheinen wir diese Bewegungen schon fast wieder vergessen Sidi Larbi Cherkaoui Bildung ist sicherlich eine Mög- zu haben. Es gibt eine Generation, die die Rechte, die sie hat, als gege- lichkeit, aber man kann nur bei sich selbst anfangen. Ich denke, das ben hinnimmt und sich schockiert zeigt, wenn diese
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