Wissenschafts- und Universitätsgeschichte »... ergab sich bald ein merkwürdiges Hindernis ... « Zur Aktualität von Ludwig Edingers neurowissenschaftlichem Projekt udwig Edinger (1855–1918) Lgalt als »die größte Autorität der vergleichenden Neurologie« /1/. Un- ter Neurologie verstand man sei- nerzeit alle Fächer, die zur Lehre vom Nervensystem beitrugen. In die- sem Sinne konzipierte Edinger sein Neurologisches Institut als interdiszip- linäre Arbeitsstätte zur Erforschung des Nervensystems. Neuroanatomie und Neuropathologie erhielten hier 1907 jeweils eigene Abteilungen, Aquarien und Terrarien standen für tierpsychologische Beobachtungen zur Verfügung, und Edinger hatte als Leiter der ersten Frankfurter Po- liklinik für Nervenkranke das ganze Spektrum neurologischer Krank- heitsbilder vor Augen. 1910 grün- dete er überdies einen Psychologi- schen Verein, in dem Mediziner mit Zoologen und Psychologen zusam- menarbeiteten. Durch Interdisziplinarität eine ■1 Das von Lovis Brücke zwischen Hirnforschung Corinth (1858 – und Psychologie zu schlagen, war 1925) gefertigte das erklärte Ziel Edingers, und Ölgemälde Ludwig Edingers zeichnete sein Institut unter den (145 × 110 cm) »interakademischen Hirnforschungs- entstand 1909 instituten« aus, die sich nach der und gilt als eines Jahrhundertwende zur »Brain der bedeutendsten Commission« zusammengeschlos- Arztporträts des sen hatten. Der Erste Weltkrieg setz- 20. Jahrhunderts. te dieser internationalen Kooperati- Das Bild gehört heute zu den Be- on ein Ende, die erst in den 1960er ständen des His- Jahren als »Neuroscience« wieder torischen Muse- institutionelle Strukturen finden ums in Frankfurt sollte. Allerdings ist es bisher nicht am Main. gelungen, die konzeptionell unver- bundene Praxis der einzelnen neu- rowissenschaftlichen Fächer in eine dass ein Teil der vom Nervensystem portional ausbildende Neuhirn Disziplin zu überführen, die das geleisteten Arbeit dem Träger be- (Neencephalon), auf dem die höhe- Verhältnis von Gehirn und Be- wusst werden kann«. Wie sein Wie- ren kognitiven Leistungen des wusstsein paradigmatisch aufklärt. ner Kollege Sigmund Freud (1856- Menschen beruhen. Diese neuro- Diese Grundlagenproblematik be- 1939) plädierte er bei neurotischen anatomischen Strukturen bezog stand bereits zu Edingers Zeiten /2/. Erkrankungen für die Eigenständig- Edinger auf das neurophysiologi- keit einer psychologischen Thera- sche sowie das experimentell be- Ludwig Edingers neuro- pie, ohne die Möglichkeit einer zu- obachtbare Verhaltensrepertoire der wissenschaftliches Projekt künftigen Einheit von Psychologie jeweiligen Tiere. Mit diesem Kon- Die zeitgenössischen Ansätze, das und Hirnforschung auszuschließen. zept hoffte er »an einen Punkt zu Seelenleben des Menschen aus dem Ausgehend von Fischen, über kommen, wo die Annahme des Be- Bau des Gehirns heraus zu verste- Amphibien und Reptilien zu Vögeln wusstseins notwendig wird […] An hen, setzten nach Edingers Auffas- und Säugetieren fortschreitend, dieser Stelle greifen die psychologi- sung viel zu hoch an. Als prakti- entdeckte Edinger eine Grundstruk- sche Analyse und die anatomische zierender Nervenarzt war er sich tur des Wirbeltiergehirns: das Ur- Beobachtung ineinander über.« darüber im klaren, dass »wir keine oder Althirn (Palaeencephalon) und Wie weit sich die Verflechtung Ahnung (haben), wie es kommt, das sich in der Evolution überpro- von Leiblichem und Geistigem in Forschung Frankfurt 1/2005 71 Wissenschafts- und Universitätsgeschichte ■3 Ludwig Edinger (Bildmitte) im Kreis seiner Schü- ler und Mitarbei- ter vor der alten Senckenbergi- schen Anatomie in Frankfurt, März 1905. Ludwig Edinger: Gründer des neurologischen Instituts 13. April 1855: Ludwig Edinger wird in Worms als ältestes von fünf Kindern des jüdischen Ehepaares Marcus und Julie Edinger geboren. Der Vater ist Textilfabrikant und demokratischer Abgeordneter im Landtag von Hessen-Darm- stadt, die Mutter Tochter eines bedeutenden Karlsruher Arztes. 1872 – 1874: Studium der Medizin in Heidelberg. 1874 – 1877: Studium der Medizin in Straßburg; dort Promotion bei Wilhelm Waldeyer sowie ärztliche Approbation. 1877 – 1878: Assistenzarzt bei Adolf Kussmaul in Straßburg. 1878 – 1882: Assistenzarzt bei Franz Riegel in Gießen; dort 1881 Habilitation für Innere Medizin. 1882 – 1883: Der wiederaufflammende Antisemitismus zerstört Edingers Hoffnungen auf eine akademische Karriere. Bei einem »Reiseurlaub« kann er auch in Berlin und Leipzig keine Anstellung finden. Aus Paris, wo ihm ein Posten an- geboten wird, kehrt er zurück, um »der Heimat nicht verloren zu gehen«. 1883: Niederlassung in Frankfurt am Main als einer der ersten »Spezialisten für Nervenkrankheiten« in Deutschland. In seinem Schlafzimmer unternimmt Edinger neuroembryologische Studien. Die Veröffentlichung seiner im Ärztlichen Verein gehaltenen »Zehn Vorlesungen über den Bau der nervösen Zentralorgane« macht ihn schlagartig international berühmt. 1885: Berufung des ebenfalls vom Antisemitismus betroffenen Pathologen Carl Weigert an die Senckenbergische Anatomie in Frankfurt am Main, wo Edinger einen Arbeitsplatz erhält. Hier entsteht das Neurologische Institut. 1886: Heirat mit Anna Goldschmidt, der Tochter einer in Frankfurt alteingesessenen jüdischen Bankiersfamilie. 1906 tritt Anna Edinger ein Millionenerbe an. 1907: Neueröffnung des Neurologischen Instituts im Neubau der Senckenbergischen Pathologie am Sachsenhäuser Mainufer. 1912: Ludwig Edinger gehört mit seinem Neurologischen Institut zu den Unterzeichnern des Stiftungsvertrags der Univer- sität Frankfurt. 1914: An der neu eröffneten Frankfurter Universität wird Ludwig Edinger erster Ordinarius für Neurologie in Deutschland. 1917: Ludwig Edinger begründet die Ludwig Edinger-Stiftung, die den Unterhalt des Neurologischen Instituts dauerhaft sicherstellen soll. Ihre Satzung wird 1919 vom Preußischen Ministerium anerkannt. Noch heute ist das Edinger-In- stitut innerhalb des Fachbereichs Medizin der Universität Frankfurt ein »Institut besonderer Rechtsnatur«. 26. Januar 1918: Ludwig Edinger stirbt an Herzversagen nach zunächst erfolgreich verlaufener Prostataoperation. Literatur /1/ Santiago Ramón /2/ Gerald Kreft: /3/ Durchgeistete am Main (Peter Kreft, Werner /5/ Hirnforschung y Cajal: Recollecti- Deutsch-jüdische Natur. Ihre Präsenz Lang) 2000. Friedrich Kümmel, und Willensfrei- ons of my Life. Phi- Geschichte und in Goethes Dich- Wolfgang Schlote heit. Zur Deutung ladelphia (The Hirnforschung. tung, Wissenschaft /4/ Ludwig Edinger: und Reiner Wiehl. der neuesten Expe- American Philoso- Ludwig Edingers und Philosophie. Mein Lebensgang. Frankfurt am Main rimente. Heraus phical Society) Neurologisches In- Herausgegeben von Erinnerungen ei- (Waldemar Kra- gegeben von Chris- 1937. stitut in Frankfurt Alfred Schmidt und nes Frankfurter mer) 2005. tian Geyer. Frank- am Main. Frank- Klaus-Jürgen Arztes und Hirnfor- furt am Main furt am Main (Ma- Grün. Frankfurt schers. Herausgege- (Suhrkamp) 2004. buse) 2005. ben von Gerald 72 Forschung Frankfurt 1/2005 Wissenschafts- und Universitätsgeschichte Zukunft aufklären lassen wird, pflegten Richtungen der anderen ■2 Das Neuhirn (Neencephalon, rot) stand für Edinger dahin. Ihn selbst nützlich sein muss, und aus den oft nimmt gegenüber dem Althirn (Palaeen- leitete der Wahlspruch Goethes: sehr lebhaften Debatten lernen wir cephalon, grau) beim Menschen über- »Willst Du ins Unendliche schrei- alle.« proportional zu. Die von Edinger entdeckte Grundstruktur des Wirbel- ten, geh’ nur im Endlichen, nach Mit dieser Reflexion auf offene tiergehirns illustriert, wie Natur sich allen Seiten.« Verständigungsprozesse im Medium gleichsam in »Metamorphosen« Goe- der Alltagssprache, die durch Fach- theanischer »Urformen« entwickelt. Naturphilosophie und Dialog sprachen weder hintergangen noch Damit gab Edinger seine natur- aufgelöst werden können, bewegte philosophische, durch wissenschaft- sich Edinger jenseits von wissen- liche Forschung nicht einholbare schaftlich nicht verifizierbarer Me- Hintergrundannahme zu erkennen: taphysik und Fakten-fixiertem Posi- In jedem Einzelnen vollzieht sich tivismus. der unendliche Schöpfungsprozess Bald ein Jahrhundert später er- einer qualitativen, immer schon ge- regen Hirnforscher wie Wolf Singer Hai (Chimaera) formten, durchgeisteten Natur /3/. oder Gerhard Roth die Gemüter. Ih- Diese lässt sich in Gestalten des Le- re Forschungsergebnisse sollen un- bendigen anschauen, aber nur in ser überkommenes Selbstbild, etwa Metaphern aussprechen ■2 . das vom »freien Willen«, erschüt- Edinger blieb nicht bei der heu- tern /5/. Dabei sind Daten und Inter- ristischen Formulierung seiner Welt- pretationen allerdings nicht restlos anschauung stehen. Am Ende seiner voneinander separierbar. Auch Eidechse (Varanus) nachgelassenen Autobiographie /4/, heutige Neurowissenschaftler wer- die selbst dem Muster eines den durch empirisch uneinholbare Goetheanischen Bildungsromans Ideen wie der des »neuronalen De- folgt, vermittelte er dieses Credo terminismus« stimuliert. Mit leiser mit seiner neurowissenschaftlichen Ironie bemerkte schon Edinger: Praxis: »Für meine psychologischen »Ohne den Schimmer der Poesie Studien ergab sich bald ein merk- gedeiht eben auch die Wissenschaft Kaninchen (Lepus) würdiges Hindernis, es stellte sich nicht, es erlahmen ihre Flügel, heraus, dass die verschiedenen wenn ihr ständig die Bleigewichte Richtungen der Psychologie, die der Kritik angehängt werden.« ◆ vergleichende, die experimentelle, die philosophische, ganz verschie- dene Sprachen benutzten, dass sie sich dadurch ferne[r]
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