„Kuhler¨ Abschied von Europa“ – Wien 1938 und der Exodus der Mathematik Arkadenhof der Universitat¨ Wien 17. September – 20. Oktober 2001 Osterreichische¨ Mathematische Gesellschaft Inhalt 1. Einleitung . 1 2. Wien 1938 . 5 3. Karl Menger und das Mathematische Seminar der Universitat¨ Wien . 11 4. Kurt Godel¨ . 25 5. Mathematik und Philosophie in Wien . 35 6. Die Stutzen¨ des Mathematischen Kolloquiums . 47 7. Eduard Helly . 61 8. Alfred Taubers Weg nach Theresienstadt . 67 9. Vertriebene Wiener Mathematiker . 75 10. An der ,Technik‘ . 79 11. Wiener Mathematiker in Berlin . 83 12. Mathematik und Literatur . 95 13. Parteigenossen . 107 14. Die Vertreibung judischer¨ Studenten . 113 15. Geburtig¨ . 121 Eigentumer,¨ Herausgeber und Verleger: Osterr.¨ Math. Gesellschaft. Satz: Osterr.¨ Redaktion und Text: Math. Gesellschaft. Druck: Kopitu, Wied- Karl Sigmund (Univ. Wien, Strudlhofgas- ner Hauptstraße 8–10, 1040 Wien. se 4, 1090 Wien) e-mail [email protected], c 2001 Osterreichische¨ Mathematische http://www.oemg.ac.at/ Gesellschaft, Wien. 1. Einleitung Nicht vielen Wienern ist bewusst, dass ihre Stadt im ersten Drittel des zwan- zigsten Jahrhunderts mathematische Spitzenleistungen hervorbrachte, die durch- aus jenen weit besser bekannten in Medizin, Psychoanalyse oder Philosophie ebenburtig¨ waren. Diese intensive kulturelle Bluteperiode¨ wurde in den dreißiger Jahren abrupt unterbrochen. Mit der Ausstellung ,Kuhler¨ Abschied von Europa‘ – Wien 1938 und der Ex- ” odus der Mathematik“ versucht die Osterreichische¨ Mathematische Gesellschaft (OMG)¨ die Leistungen und Schicksale jener Wiener Mathematikerinnen und Ma- thematiker zu wurdigen,¨ die vom NS-Regime ins Exil oder in den Tod getrieben wurden. Die Ausstellung soll nur ein erster Schritt sein zu einer vollstandigen¨ Aufarbeitung des Themas. Die Verfolgung der Mathematiker bildet nur eine Fußnote im Schwarzbuch der Untaten des NS-Regimes. In gewisser Hinsicht waren die Mathematiker sogar privilegiert: es fiel ihnen meist leichter als etwa Medizinern oder Rechtsanwalten,¨ in anderen Landern¨ beruflich Fuß zu fassen. Wer in Osterreich¨ (schon vor dem Anschluß“) keine Arbeit gefunden hatte, konnte es im Ausland zum beruhmten¨ ” Professor, zum Chefmathematiker der British Navy oder zur Woman of the Year der Los Angeles Times bringen. Das machte trotzdem nie das Trauma der Entwur- zelung wett und den Schmerz um die Freunde und Verwandten, die zuruckgeblie-¨ ben waren. Und neben den Erfolgsgeschichten“ gibt es zahlreiche, naturgemaߨ ” viel sparlicher¨ dokumentierte Schicksale, die in einem armseligen Hotelzimmer oder einer KZ-Baracke endeten. Schon die hier vorliegende Auswahl an Mathematikern vermittelt ein bedrucken-¨ des Bild von der Luckenlosigkeit¨ der burokratischen¨ Schikanen, mit denen die so- genannte Sauberung¨ des Lehrkorpers¨ und der Studentenschaft durchgefuhrt¨ wur- de. Da die Wiener Mathematiker daruber¨ hinaus ungewohnlich¨ intensive Kontakte zu anderen Fachern¨ wie etwa der Philosophie, der Literatur und den Wirtschafts- wissenschaften hatten, ergibt sich auch ein eindringliches Bild der allumfassenden Vergiftung des geistigen Lebens vor und nach dem Anschluß“, die beispielsweise ” Robert Musil in die Emigration trieb, weil er die Luft nicht mehr atmen konnte.“ ” 1 Die OMG¨ hat fur¨ das Zustandekommen der Ausstellung vielen zu danken: * Friedrich Stadler, Reinhard Siegmund-Schultze, Christa Binder, John Daw- son, Anna Maria Sigmund und Hans Ploss fur¨ die intensive Mitarbeit und fachliche Beratung; * Michael Drmota und Christoph Strolz fur¨ den Katalog; * Miriam Weigel fur¨ die graphische Gestaltung der Schautafeln; * dem Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien, dessen Stellwande¨ wir verwendeten; * dem Bundesministerium fur¨ Wissenschaft, Unterricht und Kunst, der Ge- meinde Wien und der Nationalbank fur¨ großzugige¨ finanzielle Unter- stutzung¨ (hier sei besonders die freundliche Hilfe durch Frau Sonja Fink und Herrn Gerd Fischer hervorgehoben); * der Universitat¨ Wien fur¨ die Benutzung des Arkadenhofes; * dem Archiv der Universitat¨ Wien und insbesondere Herrn Hofrat Muhl-¨ berger, dem Archiv der Technischen Universitat¨ und insbesondere Frau Dr. Mikoletzki, dem Dokumentationsarchiv des osterreichischen¨ Widerstands, dem Wiener Stadt- und Landesarchiv, dem Institut fur¨ die Geschichte der Juden in Osterreich¨ und der Osterreichischen¨ Akademie der Wissenschaften fur¨ die Unterstutzung¨ bei den Recherchen und wichtiges Quellenmaterial; * dem Museum der Stadt Wien und dem Bildarchiv der Osterreichischen¨ Na- tionalbibliothek; * dem Boerhave Museum in Leiden (Korrespondenz Hahn-Ehrenfest), der Beineke Library in Yale (Broch), der Duke University (Carnap und Mor- genstern), dem deutschen Exilarchiv 1933–1945 (Tagebucher¨ von Perutz), Herr Ulrich von Bulow¨ vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach (Ta- gebucher¨ Schnitzler), der Yale University (Broch), Marcia Tucker und dem Archiv des Institute for Advanced Study in Princeton (Mayer und Godel),¨ der Osterreichischen¨ Nationalbibliothek, dem Musil-Museum in Klagenfurt und seinem Leiter Heimo Strempfl, dem Haus fur¨ Osterreichische¨ Literatur; * der Fachbibliothek fur¨ Mathematik der Universitat¨ Wien und hier insbeson- dere Hans-Georg Schwabl und Renate Krachler; * fur¨ tatkraftige¨ Mithilfe Leopold Schmetterer, Edmund Hlawka, Hans Lausch, Gary Tee, Kurt Hajduska, Gerhard Sonnert, Peter Jagers, F.G. Lieb- mann, Peter Michor, Franz Diboky, Klaus Lohrmann, Joachim Schwermer, Wolfgang Reiter und Josef Teichmann; 2 * fur¨ wichtige Hinweise auf literarische und philosophische Bezuge¨ Hans- Harald Muller,¨ Sylvia Asmus, Brita Eckert und Ulrike Siebauer (Perutz), Paul Michael Lutzeler¨ und Christa Sammons (Broch), Walter Fanta und Andreas Fingernagel (Musil), Josef Agassi, Peter Mitford und Malachi Ha- cohen (Popper), Michael Stoltzner¨ (von Mises und Frank), Peter Paul Sint (Schlesinger) und Ekkehard Kohler¨ (Wiener Kreis und Godel);¨ * fur¨ die Erschließung besonders reichhaltiger Quellen Robert Manuel Wald (Abraham Wald), Walter Helly (Eduard Helly), John Todd (Olga Taussky- Todd) und Franz Alt (Karl Menger). Schließlich sei noch betont, dass die Anregung zu dieser Ausstellung von der Deutschen Mathematiker-Vereinigung herruhrt.¨ Deren Ausstellung “Terror and Exile”, die 1998 in Berlin aus Anlass des mathematischen Weltkongresses statt- fand, hat das Thema aus Berliner Sicht geradezu mustergultig¨ aufgearbeitet. Im Berliner Katalog1 und im Buch von Siegmund-Schultze2 findet man eine umfas- sende Dokumentation dieser tragischen Ereignisse. Wien, im September 2001 Karl Sigmund 1 J. Bruning,¨ D. Ferus und R. Siegmund-Schultze (1998), Terror and Exile, Katalog zur gleich- namigen Ausstellung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. 2 R. Siegmund-Schultze (1998), Mathematiker auf der Flucht vor Hitler, Quellen und Studien zur Emigration einer Wissenschaft, Dokumente zur Geschichte der Mathematik, Band 10, Deut- sche Mathematiker-Vereinigung, Vieweg. 3 2. Wien 1938 Naziaufmarsch am Ring In einer Hinsicht ging es uns besser als den deutschen Juden. In ” Deutschland wurden die Schrauben nur langsam angezogen. (...) Dar- um zogerten¨ viele deutsche Juden, bis es zu spat¨ war. In Osterreich¨ wurde innerhalb weniger Tage klar, daß es keine Alternative zum Ver- lassen des Landes gab. (...) Ich bin nie zuruckgekehrt.“¨ Walter Rudin, So hab ich’s erlebt – Von Wien nach Wisconsin“. Der Mathemati- ” ker Walter Rudin erlebte den Anschluß“ als Siebzehnjahriger.¨ ” 5 Warteschlange vor dem Polizeikommissariat Margarethen Als das Sommersemester 1938 begann und der Vorlesungsbetrieb am 25. April feierlich wiederaufgenommen wurde, war die sogenannte Sauberung¨ bereits voll- zogen. Allein an der Philosophischen Fakultat¨ zahlten¨ 14 von 45 Ordinarien, 11 von 22 außerordentlichen Professoren, 13 von 32 emeritierten Professoren und 56 von 159 Privatdozenten als Abgange“.¨ ” Wesentliches Druckmittel war der Diensteid, den die Professoren (naturlich¨ nur die arischen) am 22. Marz¨ 1938 abzulegen hatten. In seiner Rede bemangelte¨ da- mals der kommissarische Rektor Knoll die bisherige Zuruckhaltung¨ gegenuber¨ dem Nationalsozialismus und verkundete:¨ Nun ist alles anders geworden. Der Anschauungsunterricht, den die ” Professorenschaft wahrend¨ der Zeit der Anwesenheit des Fuhrers¨ in Wien genossen hat, wird seine Wirkung nicht verfehlen (...)“ Die Neuordnung des Berufsbeamtentums“ lieferte die Handhabe fur¨ die Verset- ” ” zung in den Ruhestand“. 6 7 Im Februar 1938 kam es zu einer Kundgebung nationalsozialistischer Studenten vor der Universitat.¨ Zu dieser Zeit – einen Monat vor dem Anschluß“ – war die ” NSDAP in Osterreich¨ verboten und dennoch hochst¨ prasent.¨ Bereits 1931 war der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund die starkste¨ Fraktion in der Deutschen Studentenschaft Osterreichs“.¨ Diese wurde zwar im Juli 1933 auf- ” gelost,¨ aber trotz aller Verbote und staatsburgerlicher¨ Pflichtvorlesungen“ domi- ” nierte das NS-Gedankengut die politischen Anschauungen an den Hochschulen. Nicht immer gelang der Hitlergruß so stramm wie von den neuen Machthabern gewunscht,¨ und bereits im Mai 1938 musste der NS-Studentenfuhrer¨ in einem Rundschreiben der grassierenden Haltungslosigkeit“ entgegentreten. Jeder Hal- ” tungslose wird gewarnt, dass er sich jenseits unserer Gemeinschaft“ stellt, die ” ” von nun an geschlossen und scharf“ dagegen vorgehen wird. 8 Nazi-Kundgebung Literatur 1. S. Ganglmaier et al. (1988), Wien 1938 – Katalog zur Sonderausstellung des Histori- schen Museums der Stadt Wien. 2. W. Reiter (2001), Die Vertreibung
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