WOLFRAM SCHURIG (*1967) 1 Ultima Thule (2003-04) für fünf Ensembles 20:09 2 Augenmaß (2000) für Kammerorchester 14:47 3 Hoquetus (1997-98) für Violine und Kammerorchester 19:21 P Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks Köln, 1999 4 Gespinst (1990) für sechs Instrumente mit Baßklarinette 10:38 TT: 65:18 3 Annette Bik, Violine 4 Ernesto Molinari, Baßklarinette Klangforum Wien 1 - 2 Sylvain Cambreling 3 Emilio Pomárico 4 Beat Furrer Coverfoto: © Eva Beatrix Timpe 2 Klangforum Wien Eva Furrer Flöten 1 2 3 Vera Fischer Flöten 1 2 3 Sylvie Lacroix Flöte 4 Markus Deuter Oboe 2 3 Donna Wagner-Molinari Klarinetten 4 Bernhard Zachhuber Klarinetten 3 Heinz-Peter Linshalm Klarinetten 1 2 Christopher Woods Klarinetten 3 Petra Stump Klarinetten 1 2 Bianca Schuster Fagott 3 Maria Gstättner Fagott 2 Saša Dragović Trompete 3 Anders Nyqvist Trompete 1 2 Tamás Davida Trompete 1 Andreas Eberle Posaune 1 2 3 Gerald Preinfalk Saxophon 2 Annette Bik Violine 1 2 Gundelind Jäch-Micko Violine 3 4 Ivana Pristasova Violine 1 Sophie Schafleitner Violine 2 Dimitrios Polisoidis Viola 1 2 3 Petra Ackermann Viola 1 Benedikt Leitner Violoncello 1 4 Andreas Lindenbaum Violoncello 1 2 3 Christoph Walder Horn 1 2 Virginie Tarrête Harfe 1 2 Gabriela Mossyrsch Harfe 4 John Eckhardt Kontrabaß 1 2 Uli Fussenegger Kontrabaß 3 Mathilde Hoursiangou Klavier 4 Björn Wilker Percussion 3 Lukas Schiske Percussion 1 2 3 Adam Weisman Percussion 1 2 3 Daniel Ender Naturgewalten ihre energetischen Ausgangspunkte Die Paradoxien schöpferischen Neulands bilden. Anmerkungen zum kompositorischen Werk von Höchste strukturelle Dichte auf der einen und leeres Verharren auf der anderen Seite, prägnant gebün- Wolfram Schurig delte Akzente hier und ausgeprägte Linien dort – solcher Art sind die gestalterischen Pole, die ein- Komponieren muß heißen: (…) der eigenen Phanta- ander häufig zunächst scheinbar unvermittelt ge- sie über ihre Grenzen hinweghelfen. genüberstehen. Doch schon mit ihrer Setzung hat Helmut Lachenmann – anfangs unmerklich, dann unverkennbar – eine Auseinandersetzung mit ihnen begonnen. Die star- Die Grenzen des Vertrauten zu durchbrechen, ein- ren Gegensätze geraten in Bewegung, tauschen die gespielte Wahrnehmungsmuster in Frage zu stellen, Positionen, bis hin zur Klimax dialektischer Durch- ins Offene und Unbestimmte schöpferischen Neu- dringung: dem Umschlagen eines Extrems ins an- lands vorzudringen – diese Stoßrichtung bildet eine dere. vielgestaltige Konstante, die die Kompositionen Nicht daß die Widersprüche damit aufgelöst wären, Wolfram Schurigs von Beginn an auszeichnet. Als doch etwas von ihrer Problematik hat sich gelöst. äußeres Zeichen jenes Vorgangs einer Selbstüber- Vor allem aber wird in solchen Momenten unerwar- schreitung der Phantasie können die paradoxen teter, ja zunächst gar nicht möglich scheinender Denkfiguren gelten, die viele seiner Titel auf den Bewegung erahnbar, was wir von der Kunst le- Punkt bringen: per due – inferno heißt jenes Werk rnen könnten: einen Umgang mit Konflikten, der für einen (!) Gitarristen, das die offizielle Werkliste im nicht vom sturen Reflex bestimmt wird, sondern Jahr 1986 eröffnet, hot powdery snow umschreibt von Phantasie – einer Phantasie, die nicht vor sich die widerstreitenden schöpferischen Energien, die selbst auferlegten oder von äußeren Umständen in ein Werk für Streichquartett von 1994/95 einge- vorgegebenen Grenzen haltmacht. flossen sind. Daß es im Grunde stets innermusikalische, das Bereits an spannungsreichen Formulierungen wie heißt kompositionstechnische und / oder wahrneh- in den erwähnten Werktiteln zeigt sich, daß dieses mungspsychologische Problemstellungen sind, die Œuvre mehr sein möchte als ein Kompendium artifi- im Zentrum der einzelnen Werke Wolfram Schurigs zieller Gebilde auf höchstem Niveau. Vielmehr rückt stehen, sollte nicht den Blick dafür trüben, daß jene in den hier heraufbeschworenen enigmatischen Bil- musikalischen Probleme unwillkürlich zu Chiffren dern ein Anspruch auf gedankliches Durchdringen für existentielle Fragen werden. Doch eröffnen sie intuitiv erfaßter Problemstellungen in den Blick – ein ungeachtet der Komplexität, die in den Partituren Anspruch, den die einzelnen Werke je auf ihre Weise Gestalt annimmt, mögliche Zugänge zu verschlun- einzulösen suchen: als zutiefst dialektisches Sich- genen Oberflächenstrukturen, denen – gar nicht Abarbeiten an jenen Widersprüchen, die schroff wie so im Verborgenen – dennoch oft verblüffend klare 4 Konstellationen zugrunde liegen. Jenes Verhältnis Verdichtung der Gedanken teilnimmt, zuweilen aber zwischen einer transparenten Grundidee und ihrer auch ihre Eigenständigkeit behauptet. Diese Pro- oft intrikaten, doch immer stringenten Durchführung zesse sind unmittelbar verknüpft mit der Grundidee wird von einem kompositorischen Denken gewähr- des Werkes: einem Wechselspiel zwischen der leistet, das skrupulös noch den kleinsten Übergang Bündelung des Geschehens in Brennpunkten und dem Formplan des Ganzen eingliedert. Umgekehrt seiner Zerstreuung in weitgehend selbständigen ist jede noch so durchdachte konstruktive Kalkula- Verläufen. tion der Sinnlichkeit des Klanges abgerungen. Gespinst (1990) Hoquetus (1997-98) Trotz und vor dem konstruktiven Kalkül liegt der Wolfram Schurig war immer auch ein Grenzgänger Ansatzpunkt von Wolfram Schurigs Kompositionen zwischen den Stilepochen. Seine Erfahrungen als ursprünglich in der unmittelbaren Körperlichkeit Blockflötist und Mitbegründer mehrerer Spezialen- des Klangs. Wesentlich in die Reflexion einbezo- sembles für Alte Musik sind wiederholt in seine gen werden die realen Entstehungsbedingungen kompositorischen Werke eingeflossen. Dies macht von Klängen und Gesten, und die Extrempunkte sich freilich nur transformiert bemerkbar. Bezüge zu in den Partituren fragen stets nach dem gerade Alter Musik gerinnen zu zeitgemäßen musikalischen noch Möglichen: den Begrenzungen eines langen Ideen, die die stilistische Einheitlichkeit der Stücke Atems oder einer Figuration. Insbesondere ist die- nie in Frage stellen, sondern eher noch stärken. ses Ansetzen an der klanglichen Sinnlichkeit in In Hoquetus für Violine und Kammerorchester jenem Werk zu verspüren, das als erstes Ensem- (1997/98), jenem Werk, das der Komponist als sein blewerk überhaupt erst eine persönliche Sprache damaliges „Opus summum“ bezeichnet, in das entwickelt: Gespinst für sechs Instrumente mit er alles zu jener Zeit ästhetisch, gedanklich und Baßklarinette (1990). Schon die Besetzungsangabe konstruktiv Verfügbare zusammengefaßt habe, ist genauso rätselhaft wie bezeichnend: Das Wort nimmt er auf ein Gestaltungsprinzip der Musik des „mit“ (anstatt „und“ oder den Zusatz „solo“) lenkt späten Mittelalters Bezug: „Hoquetus“ bezeich- die Aufmerksamkeit auf ein problematisch gewor- nete seit dem 13. Jahrhundert die Aufteilung einer denes Verhältnis, jenes zwischen Solisten und En- melodischen Linie auf zwei Stimmen, so daß der semble, zwischen Individuum und Kollektiv. Ob die Eindruck des Hin- und Herspringens der Gestalt Baßklarinette ein Soloinstrument ist oder nicht, läßt zwischen den beiden Parts entstand. In seiner Les- auch das Werk selbst letztlich offen. Diese Frage art dieses Phänomens steht für Wolfram Schurig bleibt jedoch unverkennbar im Raum stehen, wenn dabei der räumliche Aspekt im Vordergrund, der die Baßklarinette zuweilen an der knotenartigen – unabhängig von der tatsächlichen Lokalisierung 5 Gespinst © Ariadne Verlag 6 der Ausführenden – allein durch die Schreibweise Nullpunkt – von vorn zu beginnen und im weiteren gewährleistet ist. In Hoquetus geht es – in einer Verlauf sich selbst zu überschreiben. Wie beim Ent- aktualisierenden Verfeinerung des historisch moti- stehungsprozeß eines gemalten Bildes werden im vierten Grundprinzips – zunächst um die Verteilung Verlauf der unterschiedlichen „Stadien“ von Augen- von Linien zwischen der Solostimme und dem maß einmal manche Linien forciert und dann wie- Ensemble, dann um deren Unterbrechen sowie der andere Konturen kaschiert. Dies führt beim schließlich um das Aufbrechen und In-Frage-Stel- Hören zu einem Wechselspiel von Erinnerung und len von Linerarität überhaupt, bis aus kontinuier- Wahrnehmung, das das Prozeßhafte des Werks un- lichen Verläufen durch Brechung neue Räume her- willkürlich rekonstruiert. vorgehen. Augenmaß (2000) Ultima Thule (2003-04) Die Reflexion über das Verhältnis zwischen einer Als Motto für die gesamte Arbeit Wolfram Schurigs Skizze und dem dazugehörigen vollendeten Werk könnte das schon in der Besetzungsangabe gren- bei Tintoretto (Die Eroberung von Konstantinopel zensprengende Werk Ultima Thule für fünf Ensem- durch die Venezianer) war es, die den Ausgangs- bles (2003/04) einstehen, welches jenen utopischen punkt für Augenmaß für Kammerorchester bildete. Ort beschwört, auf den für den Komponisten jede Wenn Wolfram Schurig die auf einem Skizzenblatt authentische künstlerische Tätigkeit ohnehin aus- nur angedeuteten ersten Gedanken sowohl beim gerichtet sein sollte. Thule war in der griechischen italienischen Meister des 16. Jahrhunderts als auch Antike eine Bezeichnung für den nördlichsten Teil bei eigenen Arbeiten oft vollkommener und lebens- der Welt, über dessen Erreichbarkeit oder Existenz voller erscheinen als deren Ausführung im abge- jedoch niemals Klarheit herzustellen war. Seit Vergil schlossenen Werk, so liegt in dieser Überlegung wurde die Bezeichnung „Ultima Thule“ zur Metapher wiederum der Impetus einer Herausforderung der für das Ziel allen menschlichen Strebens und be- schöpferischen Phantasie. Das Stück entstand, im sonders seit
Details
-
File Typepdf
-
Upload Time-
-
Content LanguagesEnglish
-
Upload UserAnonymous/Not logged-in
-
File Pages19 Page
-
File Size-