VI. Zwischen „Cartel des Gauches" und „Union nationale" 1924-1928 Mit dem Wahlsieg des radikalsozialistisch dominierten, durch die Sozialisten tole- rierten „Cartel des Gauches" vom Mai 1924 wurde eine innen- wie außenpolitisch klare Wende in der französischen Politik eingeleitet.1 Unter Anlehnung an die Vorstellungen Briands verfolgte der neue Ministerpräsident Herriot auf interna- tionaler Ebene gewandelte Konzeptionen, deren Grundzüge verkörpert in der Person des Außenministers bis zum Ende des Jahrzehnts überdauerten. Er betrieb die Abkehr von der strikten Zwangspolitik gegenüber Deutschland, leitete eine umfassende Abrüstungspolitik in die Wege und akzeptierte die reparationspoliti- schen Regelungen des Dawes-Plans, die damit auch das Verhältnis zu den ehema- ligen angloamerikanischen Alliierten auf eine neue Basis stellten. Innenpolitisch setzte man eine intensive Laizisierungspolitik in Gang und beschritt auf sozialpo- litischem Feld neue Wege etwa im Ausbau des staatlichen Schlichtungswesens bei Arbeitskämpfen. Paul Reynaud hatte bei den Maiwahlen seinen Parlamentssitz im Heimatdepar- tement „Basses-Alpes" gegen die Bewerber einer sozialistischen Konkurrenzliste verloren.2 Gezwungenermaßen kehrte er nun in den Anwaltsberuf zurück, nicht ohne allerdings auf regelmäßigen, sonntäglichen Redereisen in die Provinz vor al- lem die Deutschlandpolitik der neuen Regierung unter Beschüß zu nehmen3 und auf innenpolitischem Gebiet ein véritables Schreckensszenario zu skizzieren. Der drohende Verlust des Budgetgleichgewichts, das Wiederaufleben des revolutionä- ren Syndikalismus, Streiks im öffentlichen Dienst, Nepotismus bei der Besetzung von Schlüsselstellen und das allgemeine Fehlen eines wirklichen Reformpro- gramms waren die Schlüsselbegriffe seiner Kritik am Kartell, die sich in den fol- genden zwei Jahren zu Topoi seiner außerparlamentarischen Oppositionsrhetorik entwickelten.4 Sie standen auch zunächst im Mittelpunkt seiner erneuten Bewer- bung um ein Abgeordnetenmandat im Frühjahr 1926. ' Zum Wahlsieg des Linkskartells vgl. François Goguel, La politique des partis sous la Ule Républi- que, Paris 31953, S. 225 ff.; Serge Berstein/Pierre Milza, Histoire de la France au XXe siècle. Band I: 1900-1930, Brüssel 1990, S. 509-511. Zu seiner Geschichte vgl. die Gesamtdarstellung von Jean- Noël Jeanneney, Leçon d'histoire pour une gauche au pouvoir. La faillite du Cartel 1924-1926, Paris 1977; Ders., De Wendel, S. 194-318; Berstein, Parti Radical I, S. 390-434; Berstein/Milza, Histoire I, S. 511-522. 2 Dazu: Reynaud, Mémoires I, S. 187-197. 3 Zur Fortentwicklung der deutschlandpolitischen Vorstellungen Reynauds seit 1923 siehe unten Ka- pitel VII.2.b). 4 Vgl. als einen Beleg für viele Äußerungen in ähnlichem Sinne: Paul Reynaud, „Le douze mai", in: Revue Hebdomadaire, 24. 5. 1924; Reynaud, Mémoires I, S. 202-214. Ein Resümee des kartellisti- schen Wahlsiegs hatte Reynaud im Rahmen einer großangelegten Umfrage gezogen, die die Revue Hebdomadaire im Sommer 1924 in den Reihen der unterlegenen Abgeordneten veranstaltet hatte (vgl. „La chambre du 11 mai et les devoirs de la minorité", in: Revue Hebdomadaire, 19. 7. 1924). 110 VI. Zwischen „Cartel des Gauches" und „Union nationale" 1924-1928 1. Zur Formierung antikartellistischer Opposition: Die Nachwahlen im zweiten Wahlbezirk von Paris 1926 Die Nachwahlen im zweiten „secteur électoral" von Paris, an denen Reynaud als Kandidat einer dem ehemaligen „Bloc national" verbundenen Liste teilnahm, markierten eine wichtige Etappe nicht nur seines persönlichen politischen Werde- gangs. In der bislang ungeschriebenen Geschichte dieses Wahlentscheids3 läßt sich gleichsam paradigmatisch vor dem Hintergrund eines von deutlichen Auflösungs- tendenzen gezeichneten „Cartel des Gauches" die organisatorische und program- matische Lage der rechtsliberal-konservativen Opposition zwei Jahre nach ihrer Wahlniederlage vom Mai 1924 fassen. Als Probe aufs Exempel für die Dauerhaf- tigkeit der zerfallenden Regierungskoalition und die Akzeptanz alternativer Pro- blemlösungen von rechts und links verstand schon die zeitgenössische politische Öffentlichkeit den Vorgang, standen sich doch die politischen Kräfte in weitge- hend identischer Konstellation wie bei den Maiwahlen des Jahres 1924 gegen- über.6 Zusätzliche Brisanz erhielt der Termin vor dem Hintergrund der seit 1924 erfolgten zunehmenden Polarisierung der innenpolitischen Situation. In Reaktion auf die Machtübernahme durch das „Cartel" war es auf Seiten der kommunisti- schen Linken wie der konservativen Rechten zu einer Radikalisierung der Positio- nen und der politischen Agitation unter „antikartellistischen", „antifaschisti- schen" bzw. „antikommunistischen" Vorzeichen gekommen, die bis 1926/27 das politische Geschehen in Paris bestimmte. Während der Nachwahlen vom März 1926 standen sich beide Tendenzen teils aktiv, teils im Hintergrund beobachtend gegenüber; zwischen beiden Extremen hatte Paul Reynaud im Verlauf der Wahl- kampagne und dessen Nachgeschichte seinen Weg zu bestimmen. Die staatlichen Überwachungsorgane des Innenministeriums waren in Vorwegnahme dieser Konstellation gerüstet und hatten ihre im oppositionellen Milieu plazierten Infor- manten zur besonderen Aufmerksamkeit angehalten.7 Der Tod zweier Abgeordneter während der laufenden Legislaturperiode hatte die Nachwahlen erforderlich gemacht, deren erster Durchgang für den 14. März vorgesehen war. Da die Bewerberlisten jeweils nur zwei Kandidaten umfaßten, konnte auf die Anwendung des Verhältniswahlrechts verzichtet werden, vielmehr wurde festgelegt, daß der erste Wahlgang durch die absolute, der vorgesehene zweite durch die relative Mehrheit entschieden werden sollte. Zwei allgemeine Wahlgänge hatten in dem aus dem 1., 2., 3., 4., 11., 12. und 20. Arrondissement be- stehenden Bezirk innerhalb der vorangegangenen zwei Jahre bereits stattgefun- 5 Knappen Aufschluß bieten Bonnefous, Histoire politique IV, S. 127 sowie die Memoiren von Paul Reynaud und seines kommunistischen Gegenkandidaten Jacques Duelos, der ein ganzes Kapitel seiner Erinnerungen unter den Titel „Elu député contre Paul Reynaud" stellt (Jacques Duelos, Mé- moires I (1896-1934). Le chemin que j'ai choisi. De Verdun au Parti communiste, Paris 1968, S. 243-293, bes. S. 243-251; Reynaud, Mémoires I, S. 214-223). (> So die zutreffende Analyse von Le Temps, 7. 3. 1926. 7 Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, S. 271 ff., 396, 546. Allgemein zum Zustandekommen der in der sogenannten „Serie F7" im Pariser Nationalarchiv er- haltenen Informantenberichte vgl. Jean-Paul Brunet, La police de l'ombre. Indicateurs et provoca- teurs dans la France contemporaine, Paris 1990. 1. Nachwahlen im zweiten Wahlbezirk von Paris 1926 111 den, wobei die angetretenen bürgerlichen Gruppen jeweils deutlich die Oberhand über die kartellistischen oder kommunistischen Listen behalten hatten. Sowohl aus den Parlamentswahlen vom 11. Mai 1924 wie den Stadtratswahlen vom 3. Mai 1925 war die konservative „Union Républicaine Nationale" entgegen dem natio- nalen Trend als deutliche Siegerin hervorgegangen, gefolgt von den Listen des „Cartel des Gauches" (1924) bzw. der SFIO (1925) und den unter der Bezeich- nung „Bloc Ouvrier et Paysan" angetretenen Kommunisten. Dabei war es der bürgerlichen Gruppierung 1924 gelungen, allein sechs ihrer Kandidaten zu einem Parlamentssitz zu verhelfen, darunter Pierre Taittinger und die verstorbenen Ab- geordneten Bonnet und Ignace. Das „Cartel des Gauches" entsandte drei Bewer- te ber, unter ihnen Léon Blum; die kommunistische Liste erhielt immerhin noch zwei Mandate. In der Tendenz hatte die Union Républicaine zwischen beiden Wahlen ihren Stimmenanteil in etwa gehalten, während das Cartel seinen Anteil um mehrere Tausend Stimmen zu Ungunsten der Kommunisten hatte ausbauen können.8 Anhaltspunkte für sichere Voraussagen boten diese Tendenzen wegen des unterschiedlichen Charakters der Urnengänge allerdings kaum. Angesichts ihrer Bedeutung bereiteten sich neben thematisch eng konzipierten Interessen- gruppen oder reinen Protestlisten die großen politischen Strömungen dennoch mit einer Sorgfalt vor, die eher für nationale Wahlgänge typisch war. Paul Reynaud war die Bewerbung Anfang 1926 durch Alexandre Millerand an- getragen worden.9 Damit verbunden erhielt er die Investitur durch die „Ligue Ré- publicaine Nationale", die von dem ehemaligen Staatspräsidenten im November 1924 als außerparlamentarisches Forum zur Sammlung der konservativen, anti- kartellistischen und antikommunistischen Kräfte gegründet worden war. Die Gruppierung verstand sich als Hilfskorps zur Unterstützung der Staatsmacht im Falle bolschewistischer Unruhen; daneben agierte sie als Wahlhilfs- und Propa- gandaorganisation, ohne sich selbst im engeren Sinne parteipolitisch engagieren zu wollen.10 Versehen mit so starkem Rückhalt konnte sich Reynaud innerhalb des Wahlkomitees der „Alliance Républicaine Démocratique" des zweiten Wahl- bezirks von Paris problemlos gegen einen Mitbewerber durchsetzen und wurde am 23. Februar einstimmig als Kandidat aufgestellt. Am 10. Februar bereits hatte die konservative „Fédération Républicaine" auf persönliche Intervention unter anderem von Louis Marin hin den konservativen Publizisten Henri de Kerillis als Bewerber für den zweiten Listenplatz vorgeschlagen. Ein Kongreß aller an der Konstituierung der Liste „Union Républicaine Sociale et Nationale" beteiligten Gruppierungen, die nicht nur ihrem Namen nach an
Details
-
File Typepdf
-
Upload Time-
-
Content LanguagesEnglish
-
Upload UserAnonymous/Not logged-in
-
File Pages35 Page
-
File Size-