Länderbericht Russland

Länderbericht Russland

Schriften reihe Band 1066 Heiko Pleines / Hans-Henning Schröder (Hrsg.) Länderbericht Russland Bundeszentrale für politische Bildung Inhalt I. Landeskundliche Grundlagen und historisches Erbe 9 JÖRG STADELBAUER Russlands Geografie Landschaftszonen, Bodenschätze, Klimawandel und Bevölkerung Bonn 2010 11 STEFAN PLAGGENBORG © Bundeszentrale für politische Bildung Das Erbe: Von der Sowjetunion zum neuen Russland 29 Adenauerallee 86, 53113 Bonn Redaktion: Verena Artz, Heinrich Bartel 11. Politisches System 53 Herstellung: Wolfgang Hölker MARGARETA MOMMSEN Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für po­ Das politische System unter Jelzin - litische Bildung dar. Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Autor/-innen die Ver- ein Mix aus DenlOkratie, Oligarchie, Autokratie und Anarchie 55 antwortung. PETRA STYKOW Hinweis: Die Inhalte der im Text und Anhang zitierten Internet-Links unterliegen ~ie au~?ritäre Konsolidierung des politischen Systems der Verantwortung der jeweiligen Anbieter/-innen. Für eventuelle Schäden und For­ 111 der Ara Putin 71 derungen können Herausgeberin und Autor/-innen keine Haftung übernehmen. WLADIMIR GELMAN Föderalismus, regionale Politik und Die Umschrift russcher Personen namen und geografischer Bezeichnungen folgt der kommunale Selbstverwaltung in Russland 95 in der deutschen Publizistik üblichen Schreibweise. Auch im Deutschen gängige Vornamen (Viktor, Alexander etc.) werden in deutscher Schreibweise wiedergege­ UWEHALBACH ben. Anlautend stimmhaftes })s« (wiss.: })z«) wird in der Regel mit })s« (aber, wenn Brennpunkt Nordkaukasus 113 eingeführt als })Z(C Zagorskij etc., auch: Gazprom)), stimmhaftes })sch« (wiss.: }f<) mit })sh« (Breshnew, Nishnij Nowgorod) transkribiert. ANGELIKA NUSSBERGER Rechtswesen und Rechtskultur 131 CORNELIA RABITZ Kartografie: Kämmer-Kartographie, Berlin Ohne Zensur und doch nicht frei Umschlaggestaltung: M. Rechl, Kassel Russlands Medienlandschaft 153 Umschlagfoto: Olaf Meinhardt, Rötgesbüttel Satzherstellung: Naumilkat, Düsseldorf JENS SIEGERT Druck: CPI books GmbH, Leck Zivilgesellschaft in Russland 172 ISBN 978-3-8389-0066-7 www.bpb.de 191 LEW GUDKOW 111. Außenpolitik ?ie p~litische Kultur des postsowjetischen Russland 1m SpIegel der öffentlichen Meinung 410 DMITRI] TRENIN 193 Die Entwicklung der russischen »Westpolitik« und ihre Lehren THOMAS BREMER Die orthodoxe Kirche als gesellschaftlicher Faktor in Russland 441 ANDRE] ZAGORSKI] 217 Russland im postsowjetischen Raun, UWEHALBACH Islam in Russland 457 SABINE FISCHER 231 Russland und die Europäische Union ELlSABETH CHEAUKE Frauen in Russland 466 ANGELA STENT 247 Die russisch-deutschen Beziehungen zwischen 1992 und 2008 ULRICH SCHMID Alltagskultur und Lebensstil 493 HANNES ADOMEIT 263 Russische Militär- und Sicherheitspolitik Anhang 527 287 IV. Wirtschaft Statistische Daten 529 PEKKA SUTELA Kurzbiografien der wichtigsten Akteure 551 Die russische Wirtschaft von 1992 bis 2008 - 289 Entwicklungen und Herausforderungen Webadressen 562 KSENIA GONCHAR Weiterführende Literatur 565 Wettbewerbsfahigkeit und Innovationen in der russischen Industrie 315 Die Autorinnen und Autoren 580 HEIKO PLEINES Energiewirtschaft und Energiepolitik 329 PETER LlNDNER Die russische Landwirtschaft 346 Privatisierungsexperiment mit offenem Ausgang 359 V. Gesellschaft, Alltag, Kultur HANS-HENNING SCHRÖDER Gesellschaft im Umbruch Schichtung, demografische Entwicklung und soziale Ungleichheit 361 JEWGENIJ GONTMACHER Sozialpolitik - Entwicklungen und Perspektiven 379 STEFAN MEISTER Bildung und Wissenschaft 391 v. Gesellschaft, Alltag, Kultur Petrusevskajas Erzählung »Slucaj bogorodicy« und die These vom Sowjetmatri­ Ulrich Schmid archat. Versuch einer psychoanalytischen Deutung, in: Zeitschrift für Slawistik, 45. Jg., 2000, Nr. 2, S. 173-184; Michail Ryklin/lvailo Ditschew, Katastroika, in: Alltagskultur und Lebensstil Lettre International, Nr. 14, 1991. 1 Kulturnorm und Ausdrucksfreiheit Die russische Alltagskultur hat sich seit dem Zusammenbruch der Sowjet­ union grundlegend verändert. Zuvor gab es einen weitgehenden ge­ sellschaftlichen Konsens darüber, was »Kultur« war, und vor allem auch darüber, was nicht zur »Kultur« gehörte.1 Zentrale Bedeutung kam dem ursprünglich stalinistischen Konzept der »Kultiviertheit« (ku!'turnost') zu, das die herrschende Ideologie in den Alltag übersetzte.2 Wer »kultiviert« war, konnte sich vom Pöbel unterscheiden - über den diskursiven Umweg der ku!'tumost' baute die Sowjetgesellschaft wieder genau jene innere Stil­ hierarchie auf, die zuvor als bourgeois diffamiert worden war.3 Dabei ist die Frage, inwieweit dieses Kulturverständnis von oben dekretiert wur­ de und welchen Anteil die individuelle Verinnerlichung der Geschmacks­ präferenzen an der konkreten Ausgestaltung des sowjetischen Lebens hatte, schwierig zu entscheiden. Für die 1930er Jahre muss man von einem er­ heblichen offiziellen Druck ausgehen, der mit der Verpflichtung auf die Stilrichtung des sozialistischen Realismus faktisch eine Gleichschaltung der Kultur bedeutete. Die Lenkungsaktivitäten richteten sich auf die ge­ samte sym~bolische Ordnung der neuen Gesellschaft - vom individuellen Lebensstil über den öffentlichen Diskurs bis ZUln künstlerischen Design. Bemerkenswert ist dabei das hohe persönliche Engagement Stalins. Das Einwirken des Diktators auf das Kunstgeschehen ging bisweilen so weit, dass er eigenhändig Theaterstücke modifizierte, Romanmanuskripte kor­ rigierte und Drehbücher bearbeitete.4 Favorisiert wurden Erlösungsge• schichten, die nach einem einfachen Schema gestrickt waren: Ein junger Mann Gngt in einer Fabrik an, stößt mit seinen Aufbauideen auf Wider­ stand, erhält von einem Mentor Zuspruch und triumphiert am Schluss mit seiner staatstreuen Idee. 5 In spätsowjetischer Zeit hatte sich diese kulturpo­ litische Linie so weit etabliert, dass die Kulturbehörden nur noch in Aus­ nahmefällen in den offiziellen Betrieb eingreifen mussten. Um~ so lauter waren dann aber die AfGren, die den Burgfrieden störten: Boris Pasternak musste 1958 nach einer massiven Hetzkampagne auf den Nobelpreis ver­ zichten, die Schriftsteller Andrej Sinjawskij und Julij Daniel wurden 1966 zu langen Lagerhaftstrafen verurteilt, Alexander Solshenizyn wurde 1969 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, im Jahr 1974 walzten Bull- 492 493 V. Gesellschaft, Alltag, Kultur Ulrich Schmid, Alltagskultur und Lebensstil dozer eine Underground-Kunstausstellung platt und 1980 wurden die starkes Make-up, Lederstiefel nüt hohen Absätzen und Minirock g lt . .., h e en In Autoren des privat verlegten Almanachs »Metropol'« Opfer von Repres­ e1l1em europalsc en Kontext oft als ordinär, während ein solches Auftre- sionsnnßnahmen. Die Schere im Kopf hatte sich als Kontrollinstrunlent te~l 111 Russlan~ ~aum entsprecheI:de Assoziationen hervorruft. Im Gegen­ bewährt. teIl: E1I1 sorgfaltiges, nach westlIchen Vorstellungen sogar übertrieb · k" I enes Der Konsens über »Kultur« ging aber über Inhalt und Stil offizieller S ty1 1I1g mar Iert 111 Russ and Zugehörigkeit zur neuen Oberschicht d' . h 1 d ' Ie Kulturprodukte weit hinaus. Wie Klaus Mehnert schon in den 1950er SIC nac 1 em Zusammenbruch der Sowjetunion herausgebildet hat. Jahren beobachtete, war die Sowjetgesellschaft nach einer avantgardis­ tisch-revolutionären Phase in ihr bürgerliches Zeitalter eingetreten.6 Be­ sonders deutlich ließ sich diese paradoxe »Verbürgerlichung« an der Gestal­ 2 Fernsehen tung des privaten Lebensraums ablesen. Sowjetische Wohnungen glichen einander nicht nur in der Raumaufteilung, sondern auch in der Innenein­ Auch noch in der späten Sowjetzeit verkündeten russische Intellektuelle richtung wie ein Ei denl anderen. Furnierte Pressspanregale mit einigen stolz, dass die Literatur nach wie vor das Leitmedium der russischen Kultur Klassikerausgaben, Teppiche an den Wänden, überall gehäkelte Deckchen sei. Dieser anachronistische Zustand hat sich nach 1991 grundlegend ver­ und folkloristische Nippes, die obligate Wohnwand mit dem herunter­ ändert. Mit del11~ Wegfall der staatlichen Kontrolle hat die Literatur erheb­ klappbaren Bett - die Vorstellungen über häusliche Gemütlichkeit ließen lich an Relevanz verloren. Mit einem Schlag waren alle Samizdat- und sich auf einen relativ großen gemeinsanlen Nenner bringen. Ta111izdatpublikationen erlaubt; illegale Druckerzeugnisse, die entweder im Erst in den 1990er Jahren hielt der Eurore111ont (Wohnungsrenovierung Selbstverlag oder im Ausland erschienen waren, konnten nun frei zirku­ nach europäischem Standard) Einzug in Russland. Ohne die tristen Miets­ lieren. Lesen war mit keinem Risiko mehr verbunden und Inithin weitge­ kasernen äußerlich zu verändern, stattete man die Wohnungen mit Ein­ hend uninteressant geworden. bauküchen und modernen Badezimmern aus, verlegte Parkett und baute Heute wird das russische Mediensystem sehr einseitig vom Fernsehen Doppelglasfenster ein. Durch diese Errungenschaft erhielt die Privatwoh­ dominiertJ In 98,9 % aller Haushalte läuft der Fernseher ununterbrochen. 8 nung den Rang eines wichtigen Distinktionsmerkmals: Die Transforma­ Die Printkultur ist hingegen nur wenig entwickelt. Zwar schossen zu Be­ tionsgewinner renovierten ihre Lebensräume nach westlichem Vorbild, die ginn der »wilden« 1990erJahre Zeitungen und Zeitschriften wie Pilze aus Verlierer behielten gezwungenermaßen den sowjetischen Wohnstandard. dem Boden, viele Titel gingen jedoch angesichts der harten Bedingungen Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich auch die Vor­ des Marktes schnell wieder ein. stellungen von kul'turnost'

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