Je crois, donc je suis Glauben und Denken bei Blaise Pascal Der Philosophischen Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Philosophie (Dr. phil.) genehmigte Dissertation von Brigitte Müller-Vollbrecht geboren am 02.06.1942 in Remscheid 2011 Referent: Prof. Dr. Johannsen Korreferent: Prof. Dr. Becker Tag der mündlichen Prüfung: 17.01.2011 Zusammenfassung Pascal ist eines der größten Genies der frühen Neuzeit. Mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auf theoretischem, experimentellem und praktischem Gebiet hat er den Weg in die Moderne gewiesen. Hat sich Pascal in seinen Anfangsjahren dem Studium der „abstrakten Wissenschaften“, also der Mathematik und Physik, gewidmet, so wendete er sich später in den „Pensées“ dem „Studium des Menschen“ zu und zwar aus apologetischem Interesse. Die „Pensées“ entziehen sich jeder Einordnung und jeder Systematisierung. Das entspricht dem Zweck, den sie verfolgen, nämlich in einen Dialog mit dem naturwissenschaftlich und philosophisch gebildeten, aufgeklärten Ungläubigen seiner Zeit, dem „honnête homme“ zu treten und ihn aus seiner falschen Selbstsicherheit herauszuholen. Pascal will ihm seine Fragwürdigkeit und Widersprüchlichkeit aufdecken und ihn dadurch für den Glauben aufnahmebreit machen. Nach dem Zusammenbruch des mittelalterlichen Weltbildes kann der Mensch seinen Stand nicht mehr bestimmen. Sein Elend besteht darin, dass er ruhelos gespannt ist in die Mitte zwischen Nichts und Allem, verloren in der schweigenden, unermesslichen Leere des Weltalls. Die Erforschung der Natur führt zur Erkenntnis der Ohnmacht des Menschen. Seine Größe besteht darin, dass er durch das Denken sein Elend begreift, die Dialektik von Größe und Elend ist jedoch vom Menschen her nicht aufzulösen. Aber Pascal deckt nicht nur die kosmologische, sondern auch die psychologische Ambivalenz des Menschen auf. Alle Menschen suchen nach dem Glück, aber ihre Beschäftigungen dienen nur der Zerstreuung, die die Angst vor dem Alleinsein, vor der Leere und dem daraus folgenden Lebensüberdruss überdecken soll. Über allem schwebt das Bewusstsein der Begrenztheit des Lebens und das Bedrohtsein durch den Tod. Der Mensch, der glaubt, auf sich selbst gestellt leben zu können, verkennt seine wirkliche Lage. Da er seine wahre Bestimmung verloren hat, flieht er vor sich selbst. Die Philosophie gibt keine schlüssige Antwort auf die Frage nach dem Menschen, da sie jeweils nur eine Seite des Menschen absolut setzt und somit das Wesen des Menschen, die Gleichzeitigkeit von Größe und Elend nicht erfassen kann. Die Dialektik von Größe und Elend des Menschen sind für Pascal konkrete Wirklichkeit und auch für die Vernunft einsehbar. Aber die Vernunft kommt hier an ihre Grenzen. Als gläubiger Christ will Pascal seinem Gegenüber aufzeigen, was die christliche Religion über den Menschen sagt. Eine Lösung der menschlichen Dialektik ist vom Menschen aus nicht zu finden ist, sondern nur im Glauben. Wenn das menschliche Denken an diesen Widersprüchen zerbricht, wird der Weg frei für das Evangelium. Nur die Bibel kann dem Menschen sein wahres Sein aufdecken. Sie sagt ihm, dass durch den Sündenfall seine ursprüngliche Bestimmung, das Sein in Gottes Liebe, verloren hat und Christus gekommen ist, um den Menschen wieder mit Gott zu versöhnen. Vom Glauben her ist daher die Lage des Menschen zu erklären, seine Größe aus dem ursprünglichen Stand in der guten Schöpfung Gottes und sein Elend durch den Sündenfall. Aus dieser Lehre werden die Erfahrungen von Elend und Größe des Menschen verstehbar. Hier lösen sich die Widersprüche auf. Jesus hat das Elend des Menschen auf sich genommen. Durch ihn hat der Mensch seine Mitte wiedergefunden. Damit ist das Daseinsparadox aufgehoben. Die Glaubensgewißheit gibt Gott dem Menschen ins Herz. „C’est le cœur qui sent Dieu et non la raison. Voilà que c’est la foi: Dieu sensible au coeur, non à la raison.“ Es gibt viele Dinge, die die Vernunft übersteigen. Daher besteht das Christentum aus Unterwerfung und Gebrauch der Vernunft. Ist das Herz vom Glauben erfüllt, dann steht der Mensch in der Ordnung der Liebe Gottes. Pascal ist frei von allem Dogmatismus. Er will erreichen, dass sich der Mensch von Gott her versteht. Man kann nicht von Gott sprechen, ohne existentiell erfasst zu sein. Grund des Glaubens ist das Kreuz, das in den Augen der Menschen Torheit ist. Pascal hat die unmittelbare Glaubensgewissheit in der Nacht vom 23. November in einer Erleuchtung erfahren, die sein ganzes weiteres Leben bestimmt hat. Der Glaube ist nicht abstraktes Wissen, sondern erfaßt den ganzen Menschen. Dabei bezieht sich Pascal ausdrücklich auf Paulus (Röm. 1, 17 ; Röm. 10,17) „Justus ex fide vivit … fides ex auditu, mais cette foi est dans le cœur, et fait dire non scio, mais credo.“ Daher lässt sich Pascals Selbstverständnis und Glaubensverständnis in dem Satz zusammenfassen: je crois, donc je suis . Pascal on Faith and Reason - abstract Pascal is one of the most renowned geniuses of early modern times. His scientific activities helped to point the way to the modern era. At first he devoted himself to “abstract sciences”, i.e. mathematics and physics. Later on, in his “Pensées”, man became the focus of his interest. His “Pensées” are beyond any classification or systematization. Their aim is to enter into a dialogue with the unbelieving, enlightened “honnête homme” who is well informed in matters of the natural sciences and philosophy. Pascal wants to make him aware of his misguided self- confidence, thus making him able to grasp the Christian faith. After the collapse of the medieval world view, man feels lost in the silent universe. As a result he is miserable. However, he is great, too, because he understands his misery. Pascal sees not only the cosmological but also the psychological ambivalence of man. All men search for happiness. Their activities, however, are only attempts at covering the human sickness/condition and the fear of loneliness. Man flees from himself as well as from the fear of death. Human reason is able to understand this line of thought, but philosophy cannot explain man’s situation. An explanation can only be provided by the Biblical story of the Fall. Jesus came to reconcile man with God. God instils faith into man’s heart. “Voilà ce que c’est que la foi. Dieu sensible au coeur, non à la raison.” If man’s heart is filled with faith, he feels God’s love and is liberated from the paradox of human existence. Therefore we can summarize Pascal’s view of faith and man by saying: “Je crois, donc je suis.” Schlagwörter: Glauben Denken Größe und Elend des Menschen Keywords: faith reasoning greatness and misery of man Meinem Vater Walter Vollbrecht in dankbarer Erinnerung Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 3 1. Leben und Werk Pascals 6 1.1 Biographische Grundlagen 6 1.2 Pascals Jugend 7 1.3 Pascals erste Begegnung mit dem Jansenismus 9 1.4 Pascals weltliche Periode 14 1.5 Das Erlebnis vom 23. November 1654 18 1.6 Pascals letzter Höhepunkt geistigen Schaffens 22 1.7 Pascals letzte Lebensjahre 28 2. Pascals „Pensées“ – eine geplante Apologie des Christentums 35 2.1 Pascal und die zeitgenössische Apologetik 35 2.2 Der Aufbau der geplanten Apologie 37 3. Biblische Grundlagen der „Pensées“ 46 3.1 Pascals Sprachkenntnisse 46 3.2 Lateinische Bibelzitate 47 3.2.1 Bibelzitate nach der Vulgata 47 3.2.2 Zitate nach anderen lateinischen Bibelübersetzungen 49 3.3 Französische Bibelzitate 52 4. Hauptgesichtspunkte der Pascalschen Übersetzung biblischer Zitate 54 4. Pascals Schriftauslegung 60 4.1 Die Theorie vom doppelten Schriftsinn 60 4.1.1 Vorbemerkung 60 4.1.2 Erläuterung des Begriffs „figure“ 62 4.1.3 Messianische Weissagungen 63 4.1.4 Typologische Interpretation 65 4.2 Beweise für die Theorie vom doppelten Schriftsinn 67 1 5. Pascals Bild vom Menschen 74 5.1 Die Dialektik von Größe und Elend in der Natur des Menschen 74 5.2 Die Unmöglichkeit einer philosophischen Erklärung der menschlichen Dialektik 82 5.3 Die Erklärung der menschlichen Dialektik durch den Sündenfall 85 5.4 Die Verwirklichung des wahren Menschseins in und durch 90 Jesus Christus 6. Die Annahme der biblischen Botschaft im Glauben 96 6.1 Der verborgene Gott 96 6.2 Der Glaube des Herzens 100 6.3 Glaube und Vernunft 108 7. Beweise der christlichen Religion 114 7.1 Vorbemerkungen 114 7.2 Der Weissagungsbeweis 118 7.3 Die Beständigkeit der wahren Religion 121 7.4 Die Wunder 123 7.5 Die Lebensführung Jesu als Beweis seiner Messianität 125 7.6 Schlussbemerkungen zu den Beweisen der christlichen Religion 127 8. Pascal und die paulinische Theologie 130 Zusammenfassung und Ausblick 134 Literaturverzeichnis 140 Anmerkungen 150 2 Einleitung Pascal wurde im 17. Jahrhundert geboren, einem Jahrhundert des naturwissenschaftlichen Forschens und Entdeckens. Er selbst ist in seiner Zeit wegweisend als Mathematiker und Physiker. Seine Person steht für „den Aufbruch der Moderne“ 1). Dieses Jahrhundert ist durch große innere Spannungen gekennzeichnet 2). Das geozentrische Weltbild des Mittelalters mit seinem hierarchischen Ordnungsgefüge, in dem der Mensch seinen festen Stand in der Schöpfung hatte, ist durch die Entdeckungen von Kopernikus, Kepler und Galiläi zerbrochen und macht einem neuen Lebensgefühl Platz. Einerseits breitet sich das beunruhigende Gefühl der Ortlosigkeit des Menschen im Universum aus, andererseits wird das Lebensgefühl durch das erwachende Selbstbewusstsein des Menschen mitbestimmt. Der Mensch rückt in den Mittelpunkt und erweitert seine Kenntnisse durch die Entdeckung neuer Kontinente. Die Entwicklung
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