Einleitung Die Urteile, Kreuzverhöre und Vernehmungen, die in diesem Buche zum erstenmal veröffentlicht werden, sind ein Mahnmal. Es soll jedermann zur Wachsamkeit gegen verbrecherische Cliquen und Organisationen aufrufen, die sonst ein Land überwuchern können. Unser Musterbeispiel sind die Schutzstaffeln (SS) der NSDAP während des Hitlerregimes mit ihren Massenmorden in ganz Europa. Der verbrecherischen Führung der SS folgten Tausende ihrer Angehörigen, wenn auch nicht jeder einzelne SS- Mann an den organisierten Untaten beteiligt war. Das dunkle Gemälde zeigt wenig lichte Stellen, wie den SS-Obersturmführer Kurt Gerstein, der sein Leben wagte, um die Welt auf SS-Verbrecher hinzuweisen. Es gab auch Beispiele von anderen SS-Männern mit menschlichen Gefühlen. Noch heute sind viele von SS-Angehörigen begangene Mordtaten unge- sühnt: Aufgrund der Nürnberger SS-Prozesse wurden nur fünf hohe SS- Führer hingerichtet, ferner sieben SS-Ärzte. Dazu kommt Ernst Kaltenbrun- ner (SS-Obergruppenführer), der vom Internationalen Militärtribunal zum Tode verurteilt wurde. Die anderen in Nürnberg wegen Mordtaten verur- teilten SS-Führer wurden auf starken Druck von teilweise unbekannten Hintermännern allzu früh begnadigt und schon vor Jahren aus den Ge- fängnissen entlassen. Gleichfalls entlassen sind die von alliierten Kriegs- gerichten verurteilten SS-Angehörigen. Nur eine geringe Zahl wurde wegen Ermordung von Kriegsgefangenen oder Zivilgefangenen hingerichtet. Eine erneute Strafverfolgung der von den Alliierten Abgeurteilten ist aufgrund des sogenannten Überleitungsvertrages vom 5. Mai 1955 nicht mehr möglich. Einige hundert SS-Männer standen wegen Mittäterschaft oder Beihilfe zum Mord vor deutschen Gerichten oder haben Anklagen zu erwarten. Die bis- her erkannten Strafen sind oft als zu milde kritisiert worden. Schwer- wiegender ist es, dass hohe SS-Chargen im Durchschnitt mildere Strafen er- hielten als SS-Mannschaften in unteren Rängen. Manche höhere SS-Führer, die an der Ermordung von Tausenden schuldig waren, haben sich der irdischen Gerechtigkeit durch Selbstmord entzogen, ihnen voran der Reichsführer SS Heinrich Himmler. Weit mehr sind ins Ausland geflüchtet, haben sich für tot erklären lassen oder leben unter falschem Namen im Inland. Sie warten auf einen Ablauf der Verjährungs- frist, um dann wiederaufzutauchen. Aus Gründen der Gerechtigkeit und Moral wird eine Verlängerung der Verjährungsfrist von weiten, billig und gerecht denkenden Kreisen des In- und Auslandes erwartet. 9 Die Lehre, die wir aus den hier veröffentlichten Urteilen, Kreuzverhören und Vernehmungen ziehen müssen: Aus moralischen, rechtlichen, aussen- politischen und wirtschaftlichen Gründen muss sich jedermann schärfstens von dem System distanzieren, das diese Mordtaten organisiert und gesteuert hat. Das Buch beginnt mit dem Urteil im Nürnberger SS-Einsatzgruppenprozess, dem grössten Mordprozesses der Geschichte. Das in einem klassischen Stil geschriebene Urteil – Hauptangeklagter war der später hingerichtete SS- Gruppenführer Otto Ohlendorf – ist ein historisches Dokument ersten Ranges. Es macht uns erst die in der Bundesrepublik durchgeführten SS- Prozesse verständlich. In menschlich und juristisch vorbildlicher Art setzt sich das Gericht mit den politischen und rechtlichen Verteidigungseinwen- dungen auseinander: höherer Befehl, «Nichtwissen» etc. Das düstere Reich der Konzentrationslager mit den wirtschaftlichen Ein- richtungen der SS wird in dem Urteil gegen das SS-Wirtschafts- und Ver- waltungshauptamt mit seinem Hauptangeklagten, dem hingerichteten SS- Obergruppenführer Oswald Pohl, enthüllt. Hier ersteht das Bild eines Oktopus, dessen Fangarme Sklavenarbeiter, Juden, Katholiken, Oppositio- nelle und andere zu Tode arbeiteten oder mit Gas vernichteten. Pohls eigene Erklärung über seine Verhandlungen mit der Reichsbank über Einlieferung der durch Leichenfledderei erhaltenen Wertsachen seiner Opfer ist vielleicht das makaberste Dokument der Zeitgeschichte. Es folgt ein Kreuzverhör mit dem Verwalter der polnischen und jüdischen Milliardenvermögen im Osten. Andere, bisher unbekannte Dokumente zeigen die mörderische Be- teiligung hoher SS-Führer bei der «Endlösung der Judenfrage» und der Er- mordung von drei- bis viertausend katholischen Priestern. Es folgt ein Über- blick über den Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main. Die Tätigkeit des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes unter seinem Chef, dem SS-Obergruppenführer Ulrich Greifelt, wird in dem Urteil des soge- nannten RUSHA-Prozesses offenbar. Durch dieses Amt und andere damit verbundene NS-Organisationen sollten die nationalsozialistischen Wahn- ideen über eine germanische Herrenrasse durchgeführt werden. Deshalb hatten SS-Dienststellen mit der Entführung ausländischer Kinder, erzwun- genen Schwangerschaftsunterbrechungen, Erschwerung der Fortpflanzung von fremden Staatsangehörigen und viehischen Aussiedlungs- und Um- siedlungsaktionen begonnen. Ganze Stäbe waren für den Plan zur Schaf- fung des Germanischen Reiches mit einer führenden Herrenrasse eingesetzt. Ein weiteres Kapitel bringt bisher unveröffentlichte Vernehmungen und Kreuzverhöre von leitenden Verwaltungsbeamten des Dritten Reiches, die gleichzeitig hohe SS-Ränge hatten. Es enthält eine Fülle von zeitgeschicht- lichem, psychologischem und juristischem Material. Es beginnt mit dem Verhör des Reichsministers Hans-Heinrich Lammers, es folgen Dokumente und Vernehmungen über die Unterwanderung des Auswärtigen Amtes durch SS-Führer, ein Kreuzverhör des abenteuerlichen Bevollmächtigten des Reiches in Ungarn, Edmund Veesenmayer. Ein Ver- 10 hör des Geheimdienstchefs Walter Schellenberg, und die Praxis seines Am- tes, ausgenutzte Spione ermorden zu lassen, führt uns in die Mordpraktiken von Himmlers Geheimdienst. Durch die Vernehmung des SS-Obergruppen- führers Gottlob Berger erfahren wir Einzelheiten über die Aufstellung der berüchtigten SS-Brigade Dirlewanger. Pläne des SS-Obergruppenführers Herbert Backe für Europas Landwirtschaft enthüllt dessen Verhör. Die Äusserungen von Martin Bormanns Staatssekretär, Gerhard Klopfer, über die Konferenz zur «Endlösung der Judenfrage» geben ein jeden Beamten und Juristen kriminalpsychologisch interessierendes Bild. Danach erzählen uns ehemalige hohe SS-Führer, wie sie die Mordtage vom 30. Juni 1934 und nach dem 20. Juli 1944 in ihrer SS-Psychologie beur- teilten. Zu den Vernommenen gehörte der erste Gestapochef, SS-Standarten- führer Rudolf Diels, der Münchner SS-Obergruppenführer Freiherr von Eberstein und der SS-Standartenführer Walter Huppenkothen. Die Verteidigungstaktik des SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann zeigt sich in den hier veröffentlichten Auszügen aus seinem Kreuzver- hör in Jerusalem. Sie ist typisch für die auch von anderen SS-Führern gebrauchten feigen Verteidigungsausreden, wie sie auch vor deutschen Ge- richten benutzt werden. Das angebliche «Nichtwissen» von Ausrottungs- und Mordaktionen können die Richter der Bundesrepublik ebenso wenig hö- heren SS-Führern abnehmen wie die Richter in Jerusalem. Ein persönliches Bild Hitlers und anderer Machthaber vermitteln weitere unbekannte Vernehmungen, so die des SS-Obergruppenführers Max Amann, Hitlers ehemaligen Feldwebel, des früheren Drogisten und SS-Ober- gruppenführers Wilhelm Julius Schaub und die von Görings getreuem Pala- din, dem Staatssekretär und SS-Obergruppenführer Paul Körner. Loyalität zum Dritten Reich wechseln mit der Verleugnung all dessen, was gestern angebetet wurde. Den Schluss bilden Heinrich Himmlers eigene Betrachtung der SS als «ger- manischer Orden» und die offenen Bekenntnisse einiger SS-Führer und Be- amter über den verbrecherischen Charakter der Organisation und Führung. Robert M. W. Kempner Frankfurt a. M. / Lansdowne, Pa., USA Sommer 1964 11 Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Die englischen Texte der Nürnberger SS-Urteile sind abgedruckt in «Trials of War Criminals before the Nürnberg Military Tribunals», US Government Printing Office, Washington, D. C. 1950. Die in diesem Buch verwandten offiziellen deutschen Urteilstexte befinden sich in meinem eigenen Archiv. Eine vollständige Serie der deutschen Texte ist im Bundesarchiv in Koblenz (das dankenswerterweise einige mir feh- lende deutsche Textseiten der Urteile zur Verfügung gestellt hat); ferner ist eine Urteilsserie im Institut für Zeitgeschichte, München. 2. Abschriften der Vernehmungen befinden sich in den Akten der Nürn- berger Prozesse in den National Archives in Washington und in anderen Archiven. 3. Die grundlegenden Dokumente über die Beteiligung von zahlreichen SS- Führern an der «Endlösung der Judenfrage» sind abgedruckt und analysiert in «Eichmann und Komplizen» von Dr. Robert M.W. Kempner, Europa-Ver- lag, Zürich, 1961. Ein wichtiger Beitrag für die Beurteilung der SS ist die Schrift von Hans Buchheim «SS und Polizei im NS-Staat», Selbstverlag der Studiengesell- schaft für Zeitprobleme, Bonn, 1964. Es enthält Buchheims in mehreren SS- Prozessen erstattete Gutachten. Über «Die Wirtschaftlichen Unternehmungen der SS» hat Enno Gross, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, wichtiges Quellenmaterial veröffentlicht. Er weist mit Recht darauf hin, dass es bisher kaum historisch zuverlässige Veröffentlichungen über die SS gibt. Ein ausgezeichnetes Literaturverzeichnis über diese Zeitspanne befindet sich in Reinhard Henkys «Die Nationalsozialistischen Gewaltverbrechen – Ge- schichte und Gericht», Kreuz-Verlag, Stuttgart, 1964. 4. Dokumentenbezeichnungen wie PS, NG, NO etc. beziehen sich auf Do- kumentenbücher der Nürnberger Prozesse. 12 Der SS-Einsatzgruppen-Prozess
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