Gesamterkennen. Zur Wissenschaftskritik und Gestalttheorie im George-Kreis. Von der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Stuttgart und von der Facoltà di Lettere e Filosofia der Universität Pisa im Rahmen einer Cotutelle zur Erlangung der Würde eines Doktors der Geisteswissenschaften (Dr. phil.) genehmigte Abhandlung vorgelegt von Francesco Rossi aus Feltre Berichter: Prof. Luca Crescenzi Prof. Dr. Horst Thomé Institut für Literaturwissenschaft 2010. 0 »Gesamterkennen«. Zur Wissenschaftskritik und Gestalttheorie im George-Kreis Inhaltsverzeichnis: 0. Einleitung. 3 a) Quellenbasis und Forschungsstand. 5 b) Zur Problemstellung und Methode der Untersuchung. 11 I. Die Krise der Wissenschaft. Die Suche nach neuen Paradigmen um 1900. 19 a) Wissenschaftskrise als Bildungskrise. 19 b) »Die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens...«. Aspekte der Nietzsche´schen Wissenschaftsphilosophie. 22 c) Wissenschaftliche und philosophische Antworte auf die Krise des physikalisch- mechanischen Weltbildes um 1900. 26 d) Kunstphilosophie und Philosophie der Kunst: Ein Annäherungsversuch an die Kritik der wissenschaftlichen Begrifflichkeit im Fin-de-Siècle. 32 II, Stefan George und die Wissenschaft. 37 a) Entzauberung und Bezauberung. Form als Grenzerfahrung und Grenzsetzung. Das »Gesicht«. 38 b) Das bloße Wort gegen das lebendige Wort. Aspekte der Poetik Stefan Georges. 44 c) Der holistische Zeichencharakter des Symbols. 50 d) George und die Wissenschaftler. 54 e) Der Absturz in die Ideologie: Die Formung des Paradigmas in der Dichtung. 57 f) George als Meister und als wissenschaftlicher Führer. 60 g) Die »zweite Stufe der Wirkung« und der Poeta Doctus. 64 III. Der philosophische Hintergrund der georgeanischen Wissenschaftslehre: Platonismus und Lebensphilosophie. 68 a) Die Verschiebung des Ästhetischen ins Ontologische in den Blättern für die Kunst . Am Beispiel Ludwig Klages´ Frühschriften. 71 b) Exkurs: Klages’ Auffassung des Pathischen. 75 c) Die georgeanische Lektüre der Schöpferischen Entwicklung : Ein misreading von Bergson? 77 d) Zurück zu Platon! 83 e) Exkurs: Der Kampf gegen die Gegenkräfte. 87 f) „Gemeinschaftsbildende Liebe “: Die platonischen Lehre von Eros und Dialektik als wissenschaftssoziologisches Modell. 89 g) Interpretationen der platonischen Idee als Hypothese und als Gestalt. 92 h) Idee als Denkbild und Schau. 97 i) Leib als holistische Denkkategorie. 99 IV. Die Jahrbücher für die geistige Bewegung als wissenschaftstheoretisches Forum der georgeanischen Schule . 103 a) Prolog: Herrschaft und Dienst und Gefolgschaft und Jüngertum. 103 b) »Zyklische« vs. »progressive Schau«: Berthold Vallentins Kritik des Fortschritts. 108 1 c) Wolters´ Richtlinien: Die » Schaffende « und die » Ordnende « Kraft. 111 d) Kurt Breysigs Reaktion: Die schöpferische Macht der Wissenschaft. 116 e) »Substanz« und »Beziehung« Gundolfs Wesen und Beziehung. 118 f) Bildung als Gestaltung. 123 g) Eros und Wirklichkeit: Kurt Hildebrandts Romantisch und Dionysisch. 125 V. Gestalt. 131 a) Gestalt: Versuch einer Definition. 132 b) Begriffsgeschichte I: Die deutsche Klassik und das 19. Jahrhundert 135 c) Begriffsgeschichte II: Dilthey und die hermeneutische Struktur der Gestalt. 140 d) Gestalt als Synkretismus: „Gestalt“ und „Gestalten“ in der Dichtung Georges. 145 e) Die Gestaltphilosophie der Jünger: Gestalt von Friedrich Wolters. 148 f) Symbolik und Metaphorik der Gestalt. 154 g) Das Vico-Axiom. 154 VI. Die Gestaltmonographie. Ein Genre zwischen Kunst und Wissenschaft. 164 a) Erlebnis als Methode und als Inter-esse. 166 b) Gestalt als Werk, Gestalt im Werk: Zwischen Formalismus und Personalismus. 170 c) Der Gestaltmensch. 172 d) Der Gestalttypus am Beispiel Goethes. 177 e) Gestalt als Legende und Mythos. Überlieferung. 179 f) Die Werke der Wissenschaft in systemwissenschaftlichem Kontext: Reaktionen. 184 VII. Der Wissenschaftsstreit um Max Webers Wissenschaft als Beruf. 192 a) Max Webers Position .194 b) Die Gegenposition: Stellungnahmen aus dem George-Kreis für und gegen Weber. 197 c) Zwei gegensätzliche Visionen der Wissenschaftsgeschichte: Kontinuität gegen Zäsur, Revolution gegen Tradition. 202 d) Das Werturteil-Problem: wertfreie vs. wertorientierte Wissenschaft. 206 e) Kahlers Kritik an den „alten“ wissenschaftlichen Prinzipien. 210 f) Wissen als Erkenntnis organischer »Urbilder«. 214 g) Einzelwesen als Idealtypus und als Gestalt: zur kontroversen Bedeutung der Typik. 218 h) Die Methode. 222 VIII. Edith Landmanns Transcendenz des Erkennens . 226 a) Frühschriften. Landmanns Erkenntnistheorie als Wert- und Gefühlstheorie. 228 b) Paradigmatische Funktion der Dichterfigur. 234 c) Die »monarchische Verfassung des Seienden«. Gesamtgegenstand und Gesamterkenntnis. 236 d) Der Begriff der Transzendenz. 241 e) Glaube und Gewissheit. 246 Fazit. 251 Literaturverzeichnis. 255 2 Einleitung. In Büchern über Hölderlin, Platon, Pindar, Napoleon, in Arbeiten über Musik, Plastik, Staats- und Geschichtslehre, über Norm und Entartung, über Heldensagen bezog man sich auf George, in Philologie, Ästhetik und Ideenlehre nannte man ihn. Mir scheint seit je dieser Einbruch Georges in die deutsche Wissenschaft eines der rätselhaften Phänomene der europäischen Geistesgeschichte zu sein, wohl nicht allein erklärbar aus dem Werk Georges, sondern auch dadurch, dass man sich der Verfassung der Wissenschaften um 1900 erinnert, ihres völligen substantiellen und moralischen Kernschwunds, ihrer weltanschaulichen Zerrüttung und methodischen Verwirrung durch die Naturwissenschaften, nun übergab sich so viel eigene Subjektlosigkeit sofort dem Einen, der Gestalt war und forderte, dem innerlich Gesicherten als dem intuitiven und unableitbaren Typ, nun vollzog sich in seinem Namen der Sieg der Transzendenz über die Natur, der in Europa bereit lag, und wenn ich Ihnen jetzt noch zu den vorhin genannten Namen [Breysig, Simmel, Klages, Gundolf; FR] die von Troeltsch und Frobenius, Worringer und Scheler, Spengler und Curtius, Keyserling, Bertram und Schuler nenne, so werden Sie mit mir sagen, dass sich der deutsche Idealismus in seinem vollen Glanz wie niemals vorher in diesen Jahren im einen einzigen Kern zu lagern scheint. 1 Kein anderer Satz könnte die Sachlage dieser Untersuchung so einprägsam darlegen wie dieser. Das Zitat stammt aus einer berühmten Gedächtnisrede, die anlässlich des Todes Stefan Georges (4. Dezember 1933 in Locarno) geschrieben, aber nie gehalten wurde. Gottfried Benn, der Verfasser, führt schlagwortartig die wichtigsten Elemente der hier zu untersuchenden Konstellation zusammen: das Eindringen eines Dichters in die Domäne der Wissenschaft, bestätigt durch explizite Bezugnahme in Publikationen, die von ihm veranlasste Reaktion gegen ihren vermeintlichen »substantiellen und moralischen« Niedergang und schließlich der Vollzug des »Sieg[es] der Transzendenz über die Natur« in der deutschen Wissenschaftskultur. Motiviert wird diese Rückkehr der Kunst in die Wissenschaft mit der zeitgeistigen Konjunktur. Die epochale »Subjektlosigkeit« harre nämlich der Vollendung in der »Gestalt« des Dichters. Diese Rede will also Bilanz ziehen. Um Georges »Gestalt« herum – gemeint wird freilich seine historische Gesamterscheinung – sammelt der Autor Namen, die auf ganz unterschiedliche Kontexte hinweisen und mehr oder weniger mit ihr zu tun haben. Dieses Zitat spricht für sich: Von der Soziologie bis zur Ethnologie, von der Lebensphilosophie bis zur Geistesgeschichte, vom Okkultismus bis zur Populärphilosophie des Fin de siècle, alle Autoren, die hier erwähnt werden, stehen ganz im Banne jener »konservativen Revolution« (Mohler), die Benn selbst derzeit heranlockt. In diesem Gesamtphänomen kann er etwas wie eine Renaissance des »deutsche[n] Idealismus« begrüßen, eine Art post-nietzscheanischen Neuhumanismus, dessen Mittelpunkt nun er, der Dichter des Siebenten Rings , darstellt. An dieser Aussage fällt wegen ihrer Couleur auf, wie sehr der George-Kreis, Georges Anhängergruppe von Dichtern, Intellektuellen und Wissenschaftlern, die eigene Rezeption in der Vorkriegszeit bestimmt hat: Sogar ein Kritiker vom Rang Gottfried Benns konnte nicht umhin, sich der eigentümlichen Repräsentationsstrategie des Kreises zu bedienen. Obwohl seine Äußerungen parteiisch erscheinen mögen, gelten George und sein Kreis in der Tat für viele Intellektuelle – Max Weber, Walter Benjamin, Theodor Wiesengrund Adorno und Hans-Georg Gadamer, um nur einige unter den bedeutendsten zu erwähnen – als Prototyp bestimmter Ausdrucksmöglichkeiten des modernen Geistes, worauf sie in ihren 1 Benn, G.: Rede auf Stefan George in: Wuthenow, R.R.(Hg.): Stefan George und die Nachwelt , Stuttgart, 1981, 34-45. Die Rede war Teil einer Trauerfeier der Berliner Akademie der Künste, die aber kurzfristig abgesagt wurde. 3 Reflexionen immer wieder Bezug nehmen. Angesichts dieser gewissermaßen bilateralen, wenngleich nicht unumstrittenen Anerkennung kommt also Gottfried Benns Vermutung, man stehe beim George-Kreis vor einem der höchst »rätselhaften« Kulturereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts, doch nicht völlig falsch vor. Ohne in die Denkmechanismen der georgeanischen Rhetorik selbst verfallen zu wollen, darf man folglich wenigstens betonen, dass das um 1900 verbreitete Bestreben nach kultureller Erneuerung einen symptomatischen Ausdruck im George-Kreis tatsächlich gefunden hat, dass also dieser Dichter- und Wissenschaftlerkreis so etwas wie ein Zeichen des Zeitgeistes der Jahrhundertwende ist, das von den Intellektuellen der Zeit nicht übersehen werden konnte. Es soll also nicht
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