Hans Richard Brittnacher Vae victis! Zur kontrafaktischen Poetik des Leo Perutz Leo Perutz (1892-1957), der wegen seines Geburtsortes, seines Faibles für phan- tastische Stoffe und wegen einer im bürgerlichen Erwerbsleben ausgeübten Tätigkeit als Versicherungsmathematiker1 – im Triestiner Büro jener Assicura- zioni Generali, in deren Prager Zweigstelle Franz Kafka arbeitete – gerne als Autor der Prager Literatur wahrgenommen wird, ist doch, seinen Themen, seinem Stil, seiner Zugehörigkeit zur Ideenwelt Habsburgs und der Wiener Literatur entsprechend, ein durchaus repräsentativer Autor der Wiener Mo- derne, auch wenn er nicht zum Kreis des Jungen Wien gehörte und sowohl zum Expressionismus wie auch zur neusachlichen Avantgarde auf Distanz blieb.2 In Wien lebte er, bis ihn die Nazis 1938 ins Exil nach Tel Aviv trieben, wo er bis zum Lebensende blieb, unterbrochen von gelegentlichen Reisen nach Wien und nach Bad Ischl, dem Ort seines Todes. Heute fast nur noch literarhistorisch Interessierten bekannt, obwohl ihm zuverlässig immer wie- der die längst fällige Neuentdeckung prophezeit wird, war er zu Lebzeiten ein in großen Auflagen gedruckter und lebhaft rezipierter Autor von gehobenen Unterhaltungsromanen3 – zu seinen Freunden zählten Ernst Weiß, Anton Kuh und Richard A. Bermann (Arnold Höllriegel), zu seinen Lesern und Fürspre- chern, um nur die wichtigsten zu nennen, Arthur Schnitzler, Egon Erwin Kisch, Kurt Tucholsky, Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Theodor W. Adorno und Jorge Luis Borges. Perutz’ Werk umfasst neben Kurzgeschichten und Dramen auch zehn Romane,4 teils Spannungs- und Kriminalromane vor zeitgenössischem Hinter- grund, aber auch fünf historische Romane, die freilich das angestaubte Genre des Geschichtsromans um eigenwillige phantastische Volten ergänzen, um die es in den folgenden Ausführungen gehen wird. Hans-Harald Müller hat 1 Dabei entwickelte er die „Perutzsche Ausgleichsformel“, die für die Berechnung von Risiko- statistiken angewandt wurde. 2 Vgl. Schmidt-Dengler, Autor, S. 10. 3 Michael Mandelartz hat in seiner verdienstvollen Arbeit die Legende von Perutz als einem Bestsellerautor des entre deux guerres korrigiert – Perutz war ein leidlich populärer Autor, dessen Auflagen jedoch nie an die von Lion Feuchtwanger heranreichten. Vgl. Mandelartz, Poetik, S. 3. 4 Hinzu kommen die beiden mit Paul Frank verfassten Romane Das Mangobaumwunder (1916) und Der Kosack und die Nachtigall (1927), die Perutz selbst jedoch abschätzig beurteilte. © Verlag Ferdinand Schöningh, 2019 | doi:10.30965/9783657787333_013 230 Hans Richard Brittnacher für das von Perutz etablierte Erzählen den terminologischen Vorschlag eines „ ‚alternativen‘ historischen Romans“ gemacht:5 Zwar ist der jeweilige histori- sche Hintergrund in Perutz’ Romanen gründlich recherchiert und auch histo- rische Persönlichkeiten – Leonardo da Vinci, Hernan Cortez, Kaiser Rudolf II etc. – agieren als Nebenfiguren, aber die Romanhandlung selbst und die sie vorantreibenden Protagonisten sind frei erfunden und agieren oft gegen oder mit Hilfe phantastischer Figuren (der Teufel, der ewige Jude, ein toter Müller etc.). Aber erst das Handeln der erfundenen Figuren führt dazu, dass sich Er- eignisse so zutragen, wie wir sie aus der Geschichtsschreibung kennen – hätte etwa in Die Dritte Kugel die Kugel Grumbachs ihr Ziel getroffen, wäre Cortez gestorben. Dass die Kugel, weil über sie ein Fluch gesprochen war, Cortez ver- fehlte und seinen Hass auf die Azteken anstachelte, ist Perutz’ alternative Er- klärung für den Völkermord an den Azteken. Der Roman Turlupin wiederum belegt, warum 147 Jahre vor dem Sturm auf die Bastille ein früherer Ausbruch der Französischen Revolution unterblieben ist: Ein Perückenmacher hatte einen Aufständischen, in dem er einen Kunden erkannte, ermordet.6 Perutz’ Romane „ändern die großen Linien des Geschichtsverlaufs nicht, erklären diesen aber in einer anderen, eben alternativen Weise.“7 Die für die kontra- faktische Poetik spezifische Annahme eines anderen Verlaufs der Geschichte8 wird auf die Vorgeschichte bekannter Ereignisse bezogen. Eine konjekturalhis- torische Annahme verhilft zum Verständnis der realhistorischen Entwicklung, die selbst dadurch nicht verändert wird – so gesehen lassen sich die Romane Perutz’ keinesfalls als Uchronien bezeichnen.9 Eine frei erfundene, oft sogar phantastisch angereicherte Handlung bietet die Erklärung für den deplorab- len Geschichtsverlauf. Sie bezweifelt mit dieser phantastischen Absage an das Gesetz realistischer Narrationen auch die von einigen etablierten Historiogra- phen gepflegte Konzeption eines folgerichtigen – oder eines in letzter Konse- quenz sogar sinnvollen – Geschichtsverlaufs. Zum Anschluss an die Moderne verhilft den historischen Romanen des Leo Perutz das konsequente Spiel mit unzuverlässigen Erzählern, die oft die Schuld, die sie selbst an den von ihnen mitgeteilten Ereignissen haben, leugnen oder gar verschleiern, oder die durch traumatische Erfahrungen so desorientiert sind, dass sie selbst nicht – um wie viel weniger noch der Leser! – den eige- nen Erinnerungen zu trauen wagen. Unverkennbar ist die Fundierung dieses 5 Müller, Identitätskonstruktionen, S. 11. 6 Vgl. Lauener, Krise, S. 44. 7 Müller, Meister, S. 321. 8 Vgl. dazu Rodiek, Prolegomena. 9 Zu den narrativ reizvollen Möglichkeiten einer uchronischen Historiographie vgl. Eco, Spiegel, S. 216 f..
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