Hellerau im Spannungsfeld sozialer und künstlerischer Reformansprüche des frühen 20. Jahrhunderts Nils M. Schinker Nur wenige Jahre nach Baubeginn auf der Mathilden- lung Hellerau ab 1909, bei welchem unter Mitwirkung höhe verfolgte in der Aufbruchsstimmung des frühen von Gründungsmitgliedern des Deutschen Werkbunds 20. Jahrhunderts auch in Hellerau bei Dresden eine ein alle Lebensbereiche umfassendes Reformprogramm Gruppe von Visionären die Utopie, eine ganze Stadt verfolgt wurde. Nach Erneuerung in den Bereichen bauen zu wollen.1 Initiator war der Tischlermeister und Wohnungsbau, Städtebau, Ästhetik und Theater stre- Unternehmer Karl Schmidt (1873 – 1948), dessen Erfolg bend, rezipierten die Protagonisten im „Laboratorium bei der Möbelproduktion in der Verbindung von Hand- für eine neue Menschheit“ Ideen anderer Reformstätten werk und industrieller Fertigung begründet war und und entwickelten sie weiter.2 In keiner Siedlungsgrün- von einem außergewöhnlichen sozialen Reformwillen dung oder Stadterweiterung zu Beginn des 20. Jahrhun- begleitet wurde. Bereits mit dem Maschinenmöbelpro- derts konnten – aufbauend auf dem Gartenstadtkonzept gramm „Dresdner Hausgerät“ von 1906 wird der prag- Ebenezer Howards – die vielfältigen Ideen der Lebens- matische und umfassende Anspruch deutlich, durch den reformbewegung so umfassend umgesetzt werden wie Einsatz von Maschinen einen eigenen, durch Sachlich- in Hellerau.3 Jedoch zeichnete sich ein Scheitern des keit und Funktionalität gekennzeichneten Ausdruck zu sozialen Anspruches bereits mit den explodierenden finden und durch in Preis, Ausstattung und Gestaltung Kosten für den Bau des Festspielhauses als Tempel der gestaffelte Möbelserien alle gesell schaft lichen Schichten Kunst ab, bevor der Erste Weltkrieg das ganzheitliche an der neuen Wohnkultur teilhaben zu lassen. Diese Experiment Hellerau frühzeitig beendete. Grundgedanken prägten auch den Bau der Mustersied- Karl Schmidt und die Idee der Wohnkultur für breite Schichten Der im Aufbruch des 20. Jahrhunderts virulenten Re- formbegeisterung folgte auch Karl Schmidt mit dem 1906 formulierten ehrgeizigen Ziel, innerhalb von zwei Jahren Hellerau als ausgestellte Stadt vor den Toren Dresdens zu eröffnen: „Hellerau soll als Sehenswür- digkeit Dresdens bekannt werden. Den Dresdnern soll Hellerau als dauernde Verschönerung der Dresd- ner Häuser, als eine Stätte guter Erholung und edlen Vergnügens, als Denkmal deutscher und im engeren Sinne Dresdner Arbeit vertraut werden.“4 (Abb. 1) Wie Hermann Muthesius einmal ironisch anmerkte, sollte „vom Sofakissen bis zum Städtebau“ alles durchgestaltet werden.5 Diesem ganzheitlichen Gestaltungsanspruch stand ein nicht weniger wichtiger sozialer Gedanke zur Seite, der die Struktur der Siedlung und die Erschei- nung und Ausstattung der Häuser ebenso bestimmte. 1 Modell der Gartenstadt Hellerau, präsentiert auf den Internationalen Städtebau-Ausstellungen in Berlin und Initiator der Gartenstadt Hellerau war der Mö- London, 1910 belhersteller Karl Schmidt, der nach Lehrjahren in „Eine Stadt müssen wir erbauen, eine ganze Stadt!“ 135 Nils M. Schinker Berlin, Stockholm und London 1898 seine „Bau-Mö- Gründung der Gartenstadt Hellerau belfabrik, Fabrik für kunstgewerbliche Gegenstände“ in Dresden gründete, die ab 1910 und auch heute Die steigende Nachfrage nach Möbeln und Innenein- unter dem Namen „Deutsche Werkstätten Hellerau“ richtungen sowie wachsende Mitarbeiterzahlen machten firmierte. Internationale Ausstellungserfolge machten eine Expansion des Unternehmens und eine Verlagerung das Unternehmen schnell bekannt. Karl Schmidt ver- in einen Neubau unumgänglich. Dies sah Karl Schmidt stand es früh – ähnlich wie Großherzog Ernst Ludwig als Gelegenheit, die Arbeits- und Lebensbedingungen von Hessen und bei Rhein –, die bekanntesten Gestal- seiner Angestellten in einer Mustersiedlung insgesamt ter der Zeit für Möbelentwürfe zu gewinnen und da- zu verbessern. Statt eines gesichtslosen Industriebaus rüber hinaus durch Gewinnbeteiligung langfristig an schwebte ihm ein Gebäude im Charakter eines Gutsho- sein Unternehmen zu binden. Darunter finden sich fes vor. (Abb. 2) Es sollte ein Bau in gesunder Umgebung auch Namen der Künstler, die auf der Mathildenhöhe entstehen, der einen modernen, maschinengebundenen aktiv waren, beispielsweise Peter Behrens, Johann Vin- Produktionsablauf sicher zu stellen hätte und zugleich cenz Cissarz, Albin Müller, Joseph Maria Olbrich und durch natürliche Belichtung und Belüftung ideale Ar- Mackay Hughes Baillie Scott. beitsbedingungen für seine Angestellten böte. Karl Das Streben nach stilistischer Einfachheit be- Schmidt bezahlte höhere Löhne als die Konkurrenz, bot stimmte das sozial- und kulturpolitische Selbstver- Urlaubsanspruch, Fortbildungsprogramme in den ei- ständnis Karl Schmidts und der von ihm beauftragten genen Lehrwerkstätten und in Hellerau schließlich die Künstler. Ziel war das gesamte Wohnumfeld durch Möglichkeit, in der Nähe des Arbeitsplatzes zu wohnen. einen neuen Stil zu verbessern. Durch den Einsatz von Unter seinen Freunden und Klienten fand Karl Maschinen und eines neuen, sachlich-funktionalen Schmidt schnell Anhänger für sein Siedlungsvorha- Stils ließ sich in hohen Stückzahlen für breite Bevöl- ben und erwarb nur sechs Kilometer vom Dresdner kerungsschichten produzieren. Damit verbunden war Stadtzentrum entfernt 132 Hektar Land. Zu den Grün- kein geringerer Anspruch, als den Menschen durch dungspersönlichkeiten zählten die Architekten Richard wohl gestaltete Kunst zu einem besseren Individuum Riemerschmid und Hermann Muthesius, der Kulturför- zu erziehen. Friedrich Naumann, der mit Karl Schmidt derer Wolf Dohrn und der liberale Politiker Friedrich befreundete Mitbegründer des Deutschen Werkbunds, Naumann. Sie alle einte die Mitgliedschaft im Deut- konstatierte: „So wird durch den Unternehmer hin- schen Werkbund, in der Deutschen Gartenstadtgesell- durch die Maschine zum Erzieher des Geschmacks.“6 schaft und weiteren reformorientierten Organisationen Richard Riemerschmid, Karl Schmidts späterer Schwa- wie dem Deutschen Verein für Wohnungsreform, dem ger und Verfasser des Bebauungsplans von Hellerau, Deutschen Bund für Bodenreform und dem Bund für wurde hierbei ein konsequenter Wegbegleiter. Seine Heimatschutz. Bis zum Baubeginn 1909 traten noch wei- maschinengerechten Entwürfe kamen dem Verarbei- tere Architekten aus dem Deutschen Werkbund hinzu, tungsprozess des Sägens und Fräsens entgegen. In der unter ihnen Theodor Fischer und Heinrich Tessenow.8 Rationalität der Maschinenform gelang es ihm, eigene Zur Umsetzung des Siedlungsvorhabens grün- gestalterische Entscheidungen mitsprechen zu lassen. dete Karl Schmidt mit seinen Unterstützern mehrere Mit dem von Richard Riemerschmid entworfe- Organisationen. Die Gartenstadt Hellerau G.m.b.H. nem Maschinenmöbelprogramm „Dresdner Hausge- war Obereigentümerin des Bodens und Bauträgerge- rät“, der ersten so genannten Maschinenmöbel-Serie, sellschaft der gemeinschaftlichen Einrichtungen und schreiben die Deutschen Werkstätten auf der Dritten der Mietvillen. Die Baugenossenschaft Hellerau war Deutschen Kunstgewerbeausstellung in Dresden 1906 für die Errichtung und Vermietung der Wohnhäuser internationale Möbelgeschichte. Das sachlich-funktio- und Gärten im Kleinhausgebiet zuständig. Um dort nale und ornamentlose Design gibt die maschinenge- zu wohnen, musste man Mitglied in dieser Genossen- stützte serielle Fertigung zu erkennen und prägte damit schaft sein, nicht aber für die Deutschen Werkstätten eine neue minimalistische Ästhetik im Möbelbau.7 Das Hellerau arbeiten. Hellerau war somit keine Werkssied- „Dresdner Hausgerät“ war ein Programm, das mit be- lung, sondern stand allen Menschen offen. Eine von der grenzten, nach Preis, Material und Ausführungsquali- Baupolizei anerkannte Bau- und Kunstkommission aus tät gestaffelten Serien für den sozialen Gedanken einer Künstlern und Architekten des Deutschen Werkbunds neuen Wohnkultur stand. Mit dem „Preisbuch“ wurde sicherte die künstlerische Qualität der Gebäudeent- erstmals dazu ein Festpreis-Katalog ausgelegt, der alle würfe. Schließlich gründete Wolf Dohrn für den Tanz- Bereiche des Wohnens abdeckte. Das „Preisbuch“ er- pädagogen Émile Jaques-Dalcroze die Bildungsanstalt, schien in mehreren Ausgaben mit einer Auflagenhöhe für die Heinrich Tessenow sein berühmtes Festspiel- von zuletzt 28.000 Stück. haus errichtete. 136 ICOMOS · Hefte des Deutschen Nationalkomitees LXIV Hellerau im Spannungsfeld sozialer und künstlerischer Reformansprüche des frühen 20. Jahrhunderts 2 Richard Riemerschmid, Gebäudeensemble der Deutschen Werkstätten, Innenhof, Dresden, 1910 ( Zustand 2016) Vorbilder und Einflüsse zendorf, dem Erbauer der Musterhäuser für Arbeiter auf der Mathildenhöhe von 1908, für den Karl Schmidt Die Gründungsideen für Hellerau speisten sich aus dem einen eigenen Straßenzug in Hellerau vorsah, der aber damals höchst populären Gartenstadtmodell Ebenezer letztlich nur ein Doppelhaus errichten konnte.10 Howards, dessen Siedlungskonzept auf Grundlage einer neuen Bodenordnung eine strikte Zonierung der Funk- tionen einzelner Arbeits- und Lebensbereiche vorsah: Riemerschmids Bebauungsplan für Hellerau Eigenständige Städte für bis zu 32.000 Einwohner, aus- gestattet mit eigener Industrie und eigenem Handel be- Karl Schmidt beauftragte Richard Riemerschmid mit kamen einen Grüngürtel zur Erholung und zum Acker- dem Entwurf des Bebauungsplanes, der sensibel auf bau. Weiterhin sollten enge räumliche Verbindungen die örtlichen Gegebenheiten einging. Auf den Kontext zwischen
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