Vorwort Zu EB 8715

Vorwort Zu EB 8715

3 Vorwort Nach jüngsten Forschungen1 ist es eher unwahrscheinlich, dass Primär für Cembalo geschrieben, aber auch durchweg gut auf der Johann Adam (Jan Adamsz, Jean Adam) Reincken – wie bisher an- Orgel darstellbar, sind drei oder vier Manualiter-Toccaten und die genommen – bereits 1623 geboren wurde. Neueren Erkenntnissen bekannte g-moll-Fuge. Als reine Orgelwerke können nur zwei – zufolge erblickte er erst sehr viel später, wohl am 10. Dezember freilich besonders umfangreiche und bedeutende – Choralfanta- 1643 in Deventer in den Niederlanden das Licht der Welt, wo sein sien angesehen werden. Ein Druck mit unbekanntem Inhalt, 4 Vater Adam ein Wirtshaus führte. Die Eltern stammten aus dem Reinckens Galante Orgel=Stück (Hamburg, vor oder um 1704) ist norddeutschen Wildeshausen, weshalb Reincken als niederländi- leider verschollen. In die vorliegende Ausgabe wurden alle jene scher Musiker deutscher Herkunft bezeichnet werden kann. Werke aufgenommen, die entweder ausschließlich für Orgel be- Im Alter von etwa elf Jahren ging Reincken nach Hamburg, wo er stimmt sind (Nr. 1 und 2) oder die fast ebenso gut auf der Orgel für drei Jahre bei dem Katharinen-Organisten Heinrich Scheide- wie auf dem Cembalo gespielt werden können (Nr. 3–7). mann (um 1595–1663) Orgelunterricht nahm. Dieser Meister- Eine besondere Bedeutung im Leben und Wirken Johann Adam ausbildung nach Sweelincks Vorbild ging von 1650 an eine Lehre Reinckens hatte die Orgel der Hamburger Katharinenkirche, an bei dem angesehenen Organisten der Deventer Hauptkirche, Lucas der in den Jahren 1671–74 ein umfassender Umbau von Friedrich van Lenninck, voraus, der – wie Scheidemann – wahrscheinlich Besser vorgenommen wurde. Die wichtigste Neuerung bei dieser ebenfalls Sweelinck-Schüler war. Nach den Hamburger Studien- unter Führung Reinckens durchgeführten Arbeit war der Einbau jahren kehrte Reincken in seine Heimatstadt Deventer zurück, um der beiden 32’-Pedal-Register (Prinzipal und Posaune), die später das Organistenamt in der Bergkerk anzutreten. Doch schon 1659 von Johann Sebastian Bach ausdrücklich erwähnt und gelobt holte ihn der offenbar kränkelnde Scheidemann als seinen Substi- wurden. Bach weist auch darauf hin, dass Reincken selbst die 5 tuten an die Hamburger Katharinenkirche. Nach Scheidemanns Pflege der Orgel unterhielt und sie auch selbst stimmte. Sogar der Tod im Jahr 1663 wurde Reincken sein Nachfolger. Dieses Amt ihm nicht gerade wohlgesinnte Johann Mattheson musste zu- übte er fast sechzig Jahre aus. Traditionsgemäß heiratete Reincken geben, dass er „seine Orgel jeder Zeit ungemein nett und wohl die Tochter seines Lehrers, Anna Dorothea Scheidemann, und war gestimmet hielt, auch von ihr fast immer redete, weil sie wirklich 6 innerhalb kurzer Zeit so geschätzt und berühmt, dass er schon sehr schönen Klanges war“. 1674 wies die Orgel folgende ein- 7 im Jahr 1666 ohne Gehaltskürzung das mit der Organistenstelle drucksvolle Disposition auf: verbundene Amt des Kirchenschreibers aufgeben konnte, das er als „seiner Profession nicht gemeß“ achtete. WERK OBERWERK PEDAL 2 2 2 2 1 Sein starkes Interesse an musiktheoretischen Problemen verband (CDEFGA–g a ) (CDEFGA–g a ) (CDE–d ) ihn mit seinen Hamburger Kollegen Johann Theile und Matthias Principal 16’ Principal 8’ Principal 32’ Weckmann sowie mit dem Lübecker Dieterich Buxtehude – Quintadena 16’ Hohlflöte 8’ Principal 16’ höchstwahrscheinlich sein Mitschüler bei Scheidemann in der Bordun 16’ Flöte 4’ Sub-Baß 16’ Mitte der 1650er Jahre. Zu letzterem bestand offenbar eine beson- Octava 8’ Nasat 3’ Octava 8’ ders enge Beziehung, was vor allem das aufwändige Doppelporträt Querflöte 8’ Waldflöte 2’ Gedackt 8’ aus dem Jahre 1674 von der Hand des Niederländers Johannes Spitzflöte 8’ Gemshorn 2’ Oktave 4’ Voorhout belegt, das im Museum für Hamburgische Geschichte Octava 4’ Scharf 7f Nachthorn 4’ aufbewahrt wird und einen Kanon zeigt mit der Inschrift „In Octava 2’ Trommete 8’ Rauschpfeiffe 2f hon: dit: Buxtehude: et Joh: Adam Reink: fratres“ (Zu Ehren von Rausch-Pfeife 2f Zincke 8’ Mixtura 5f Dieterich Buxtehude und Johann Adam Reinken, Brüder).2 Das Mixtura 10f Trommete 4’ Cimbel 3f Zweigestirn Buxtehude und Reincken bildete die höchste Autorität Trommete 16’ Groß-Posaun 32’ in Sachen Orgelspiel und Orgelbau jener Zeit. 1678 war Reincken Posaune 16’ RÜCKPOSITIV BRUSTWERK Mitbegründer der Hamburger Oper, wo er sich aber nur organisa- Dulcian 16’ (CDEFGA–g2a2) (CDEFGA–g2a2) torisch, nicht musikalisch engagiert zu haben scheint. Reincken Trommete 8’ Principal 8’ 1–2f Principal 8’ starb am 24. November 1722 in Hamburg, wurde aber in der Krumhorn 8’ Gedact 8’ Octava 4’ Lübecker (!) Katharinenkirche begraben, wo er schon 1707 (viel- Schallmey 4’ Quintadena 8’ Quintadena 4’ leicht anlässlich des Begräbnisses seines Freundes Buxtehude?) ein Cornet-Baß 2’ Octava 4’ Waldpfeife 2’ Grab erworben hatte. Der erhalten gebliebene Grabstein enthält Hohlflöte 4’ Scharff 7f folgende von Reincken ausgewählte Inschrift: „Mensch, die Zeit Blockflöte 4’ Dulcian 16’ wird nun bald kommen, daß Du ruhen wirst ins Grab. Eh Dirs Quintflöte 1 1/2’ Regal 8’ Leben wird genommen, dien dem, der Dirs Leben gab.“ Sifflet 1’ Von Johann Adam Reincken sind nur wenige Werke bekannt Sesquialtera 2f geworden und selbst unter Berücksichtigung von Überlieferungs- Scharff 8f verlusten ist er in erster Linie als bedeutender Improvisator Baarpfeife 8’ zu sehen, der nur ausnahmsweise Kompositionen dem Papier Regal 8’ anvertraute. In dieser Hinsicht war seine Einstellung zur Schallmey 4’ Komposition sicherlich konträr sowohl zu der seines Lehrers Scheidemann als auch seines Freundes Buxtehude, von denen umfangreiche Œuvres erhalten geblieben sind. Die Choralfantasien Im überlieferten Werkbestand Reinckens dominiert das Cembalo gegenüber der Orgel. Eindeutig für das besaitete Tasteninstrument Die Choralfantasie kann als Schöpfung Heinrich Scheidemanns, bestimmt sind neun oder zehn Suiten sowie drei Variationsreihen dem Lehrer Reinckens, angesehen werden, der nach dem heutigen (darunter als Hauptwerk die große Partite diverse sopra l’Aria: Forschungsstand mit sechzehn zuschreibbaren Werken dieser Art schweiget mir von Weiber nehmen, altrimente chiamata la Meyerin3). zugleich auch als Hauptmeister dieser Gattung zu gelten hat.8 Das 4 von ihm entwickelte Konzept kombiniert eine Vielzahl von Ele- ,Exordium‘ noch ,Medium‘ und ,Finis‘ folgen. Das den Zeilen 5–8 menten und Techniken. Sweelincks neue Clavierpolyphonie und zugehörige ,Medium‘ (T. 108–235), dem traditionsgemäß aus- die frühe norddeutsche Choralmotette werden bei Scheidemann gedehntesten Teil der Komposition, ist in sich symmetrisch mit der „modernen“ Hamburger Spielweise auf zwei oder drei Ma- gegliedert, indem die Außenzeilen (5 und 8) ein gleichartiges nualen und Pedal kombiniert und erweitert. Auch die Variations- italianisierendes Canzonen-Motiv verarbeiten, das als Variation und Echotechnik Sweelincks spielt dabei eine Rolle. Auf diese von Zeile 8 betrachtet werden kann, während die Innenzeilen Weise erreichte Scheidemann eine umfassende Neugestaltung des (6 und 7) durch Anwendung von Echo-Spiel und punktierten großen Sweelinckschen Fantasietypus, wobei die ingeniöse Kon- Rhythmen einander angenähert sind. Dem ,Finis‘-Abschnitt trapunktik durch eine abwechslungsreiche Anwendung und Frag- (T. 236–327) verbleiben nur noch zwei Choralzeilen, die aber mentierung der Choralmelodie und eine gründliche Ausnützung wie im ,Exordium‘ in vier Abschnitte gegliedert sind. Zeile 9 weist der idiomatischen Möglichkeiten der Orgel ersetzt wird. Dies alles demnach zwei wiederum kontrastierende Elemente auf – zuerst nun nicht mehr (wie noch bei Sweelinck und Jacob Praetorius) auf einen betont archaisierenden kanonischen Satz am Schluss mit Soli für die rechte Hand beschränkt, sondern unter Einbeziehung Vergrößerung des Cantus firmus im Pedal, dann ein offenbar der linken Hand und des Pedals. Die wenigen erhalten gebliebe- dem zeitgenössischen vokalen „geistlichen Konzert“ entlehntes nen Choralfantasien von Scheidemanns beiden Meisterschülern dramatisches Wechselspiel. Die Bearbeitung der letzte Zeile Reincken und Buxtehude9 zeigen in ihrer scharfen Profilierung und (T. 291ff.) führt nach einem dialogartigen zweistimmigen Echo- Individualität deutlich den Einfluss des um 1660 in der Hambur- Satz (vgl. dazu die Beobachtungen zur Aufführungspraxis von die- ger Organistenszene dominierenden ,Stylus phantasticus‘ – eine ser Passage in den Kritischen Bemerkungen, S. 80) wie die beiden spezifische und komplexe Kompositionsmethode, deren detaillier- anderen Hauptteile in eine rezitativische Kolorierung des Cantus te Beschreibung den Rahmen dieser Ausgabe sprengen würde. firmus, die von einer der Dimension des Werkes entsprechenden, Ein herausragendes Werk dieser Gattung stellt Reinckens Choral- virtuosen Echo-Coda beschlossen wird.13 – Für den Text des fantasie An Wasserflüssen Babylon dar.10 Es entstand bereits am Chorals und seine kompositorische Entsprechung in Reinckens Anfang seiner Laufbahn, wahrscheinlich als sein „Meisterstück“ Bearbeitung vgl. die tabellarische Übersicht auf S. 83. während Scheidemanns letzten Lebensjahren, wie der bemerkens- Wenn auch um etwa ein Drittel kürzer als An Wasserflüssen Babylon, werte Bericht Johann Gottfried Walthers belegt: „Scheidemann … gehört auch Was kann uns kommen an für Not mit seinen 222 Tak- ist … so wohl wegen seiner Composition als seines Spielens der- ten noch immer zu den norddeutschen „Großwerken“ in diesem gestalt berühmt gewesen, daß ein grosser Musicus zu Amsterdam, Bereich.

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