Dialektale Lexik Als Mittel Der Widerspiegelung Regionaler Kultur (Am Material Mittelbairischer Dialektvarietäten Oberbayerns)

Dialektale Lexik Als Mittel Der Widerspiegelung Regionaler Kultur (Am Material Mittelbairischer Dialektvarietäten Oberbayerns)

Dialektale Lexik als Mittel der Widerspiegelung regionaler Kultur (am Material mittelbairischer Dialektvarietäten Oberbayerns) Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Philosophie (Dr. phil.) der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt vorgelegt von Elena Blokhina aus Moskau, Russland Erfurt 2018 Erstes Gutachten: Prof. Dr. Dr. Csaba Földes (Universität Erfurt) Zweites Gutachten: Prof. Dr. Lyubov A. Nefedova (Pädagogische Staatliche Universität Moskau) Datum der Promotion: 09.05.2019 urn:nbn:de:gbv:547-201900097 II Deutschsprachige Zusammenfassung der Dissertation Dialektale Lexik als Mittel der Widerspiegelung regionaler Kultur (am Material mittelbairischer Dialektvarietäten Oberbayerns) 1. In der vorliegenden Dissertation werden Theorieelemente, die von Vertretern russischer linguokulturologischer Schulen ausgearbeitet wurden, im Rahmen der deutschen Dialektologie weiterentwickelt und empirisch angewendet. Linguokulturologie ist ein relativ neues interdisziplinäres Fachgebiet, das eng mit Semantik, kognitiver Linguistik, Psycholinguistik, Ethno- und Soziolinguistik verbunden ist und Erscheinungsformen verschiedener Kulturen in Einheiten ihrer Sprachen erforscht. Sie (also die Linguokulturologie) befasst sich u.a. mit der sog. kulturell-markierten Lexik, d.h. mit Lexik, die in ihrer aktuellen Bedeutung solche Seme hat, die nur für bestimmte Sprachen kennzeichnend sind. In der Wortbedeutungsstruktur, wie sie von Sternin (Стернин 2011: 6-13 und 2015: 3-12) aufgefasst wird und auf die ich mich in dieser Arbeit stütze, können sich spezifische Seme sowohl im sog. „strukturell-sprachlichen“, als auch im sog. „lexikalischen“ Teil befinden. Das Vorhandensein von Semen jedes Typs, die die Bedeutungen der lexikalischen Entsprechungen in verschiedenen Sprachen unterscheiden, wird als Einfluss der jeweiligen Kultur betrachtet; dementsprechend werden Seme dieser Art ,,kulturelle Seme/kulturelle semantische Teile“ genannt (Ольшанский 2005: 325). In interkulturellen Kommunikationsprozessen und im Zweitspracherwerb werden sie nicht selten zur Ursache sprachlicher und kultureller Interferenz. Die Seme, die über den Rahmen der lexikographischen Beschreibungen hinausgehende Bedeutungskomponenten in Form von „ethno-spezifischen“ Assoziationen und Wertungen, Kenntnissen der Geschichte, der Traditionen, des politischen Geschehens u.a. darstellen, werden als ,,Hintergrundwissen“ bezeichnet (Верещагин 1973: 58 f.). Von nicht geringem linguokulturologischem Interesse sind spezifische denotative Seme, die auf materielle und geistige Erscheinungen Bezug nehmen, die nur in einer bestimmten Kultur existieren. Der Zusammenhang zwischen sprachlichen und mentalen Einheiten (ein) Lexem–(ein) Konzept, wie er in der kognitiven Linguistik aufgefasst wird, bekommt in der Linguokulturologie einen neuen, engeren, Sinn: Nicht jedes Konzept als dem Wort entsprechende mentale Idee wird zum Gegenstand der Forschung, sondern nur sog. Linguokonzepte. Vom Standpunkt der Konzeptualisierung aus wird ein Linguokonzept als sprachlicher Ausdruck betrachtet, der auf ein kulturspezifisches Fragment der Realität hinweist oder eine kulturtypische mentale Idee kulturspezifisch kennzeichnet. Linguokonzept ist also eine ,,kulturell markierte und in der Sprache ausgedrückte Einheiten der kollektiven und individuellen Kenntnis mit axiologischen Komponenten im Inhalt“ (Воркачев 2004: 51). Die Widerspiegelung der kulturellen Konzeptualisierung in der Sprache wird auch in der englischsprachigen Linguistik erforscht: Diese Arbeiten (vgl. ACL 2007, Sharifian 2017 u.a.) weisen zwar auf ein starkes Interesse für dieses Problem hin, sie werden jedoch nicht durch eine gemeinsame methodologische Herangehensweise verbunden, während die linguokultorologische Konzeptologie sich auf sog. Linguokonzepte fokussiert, die sie III durch die Semantik der kulturell-markierten Lexik und das Kriterium semantische Äquivalenz erforscht. Die spezifischen kulturellen Fakten, auf die der semantische Unterschied hinweist, werden unter Heranziehung von angrenzenden Disziplinen interpretiert und erläutert. Darin besteht u.a. die Interdisziplinärität der Linguokultorologie. Da sich die gegenwärtigen linguokulturologischen Forschungen vorwiegend mit dem Vergleich von Wortbedeutungen auf der Ebene von Nationalsprachen und dementsprechend mit „national-kulturellen“ Semen befassen (Веденина 1999, Муравлёва 2003, Муравлёва 2011, Ощепкова 2006, РКП 2004, Рум 1999, Томахин 1999 u.a.), erscheint es wichtig aufzuzeigen, dass auch „regional-kulturelle“ Seme, die die Bedeutungen der dialektalen und der standardsprachlichen Lexeme unterscheiden, wissenschaftlich zu reflektieren sind und als Träger des Wissens von regionaler Kultur betrachtet werden sollten. Kulturwissenschaftliche Orientierung wird zunehmend zum Normallfall in vielen Bereichen der gegenwärtigen Linguistik, was z.B. im HSK-Band 43 dokumentiert wird (Jäger et al. 2016), aber die deutsche Dialektologie blieb bislang abseits neuer Strömungen (ibidem: 701, 705). Das Dissertationsprojekt soll zur Schließung dieses Desiderats beitragen. Eine wesentliche Innovation der Arbeit besteht darin, dass sie vorführt, wie die traditionellen Aspekte der deutschen Dialektologie, darunter Raumbezug und Semantik (Zehetner 1998, 2005 u.a.), Wortbildung (Домашнев 2005 u.a.), Etymologie (Huber 2013b u.a.) und Lehnbeziehungen zwischen Dialekt und Standardsprache (Ammon 1994, Földes 2005 u.a.) durch einen neuen Aspekt ergänzt werden können. Das linguokulturelle Potenzial der dialektalen Lexik wird erfasst, beschrieben und expliziert. Gleichzeitig kann die Arbeit als ein erster Schritt betrachtet werden und impulsgebend sein, eine Bandbreite regionaler Sprachmittel in weiteren Bereichen der germanistischen Dialektologie unter kulturorientiertem Blickwinkel zu erschließen. 1.1. Als Untersuchungsobjekt fungieren Lexeme des mittelbairischen Dialektes, die aus Texten überregionaler Massenmedien und der auf einen breiten Kreis deutschsprachiger Leser abzielenden Gegenwartsliteratur exzerpiert wurden. 1.2. Hauptziel der Arbeit ist es aufzuzeigen, dass dialektale Lexik im überregionalen Diskurs nicht nur als Stilmittel dient, wie es vorwiegend angenommen wird (z.B. Меркурьева 2005, 2012a, 2012b, Чукшис 2013 u.a.), sondern die regional- kulturellen Seme in der Bedeutung dialektaler Lexik vielmehr ein wichtiger Faktor sind, der sich auf das Ergebnis der Kommunikation auswirken kann. Dabei soll u.a. festgestellt werden: • wie die aktuelle Bedeutung der erforschten Lexik ist, die sich aus der Gesamtheit der lexikographischen Beschreibungen, der Daten der Experimente und der kontextuellen Bedeutungen in schriftlichen Beispielen ergibt; • welche semantischen Komponenten in der aktuellen Bedeutung als regional- kulturelle Seme betrachten werden können; • welche Fakten der regionalen Kultur die Ursache für die Entstehung solcher Seme sind; IV • welcher Anteil regional-kultureller Seme in schriftlichen Belegen überregionaler Textprodukte auftritt; • auf welche regionalen Besonderheiten in der kulturellen Konzeptualisierung die Lexeme mit regional-kulturellen Semen hinweisen. Diese Forschungsaufgaben werden empirisch mittels freier und restriktiver assoziativer Experimente und Interviews sowie analytisch unter Rückgriff auf flächendeckende Analyse, Analyse der Wortartikel in Nachschlagewerken, Komponentenanalyse, quantitative Berechnung, Klassifikation, historisch-etymologische Analyse sowie auf kontextuelle Analysen realisiert. 2. Die Erforschung dieser Fragen erfolgt anhand mittelbairischer Lexeme, die alte oberbayerische Traditionen ausdrücken und der Alltagskultur angehören. Beim Vergleich der Wörter stellt das Kriterium ,Äquivalenz‘ den ersten Schritt dar, während das ,konzeptuelle Wissen‘ erst die nächste Stufe der Untersuchung bildet. Denn was sich als semantischer Unterschied beim Vergleich der Wortbedeutungen eines Entsprechungspaars zeigt, kann als Merkmal der kulturellen Spezifik für mehrere mentale Ideen dienen und deshalb zu mehreren Linguokonzepten ,führen‘. Es konnte schließlich herausgearbeitet werden: Im Vergleich zu Entsprechungen der Gemeinsprache treten die untersuchten dialektalen Lexeme auf als 1. vollständige Äquivalente (z.B. Zuckerl (bairisch, österr.) / Bonbon (Standarddeutsch)); 2. partielle Äquivalente mit ungleichem Umfang der denotativen Bedeutung (z.B. Preuß (bairisch)/Preuße (standarddeutsch)); 3. partielle Äquivalente, die sich durch konnotative Seme des ,,Hintergrundwissens“ unterscheiden (z.B. kraxeln (bairisch), das assoziativ mit harter, verantwortungsvoller Anstrengung (in den Bergen) verbunden ist /klettern (standarddeutsch)); 4. Nulläquivalente oder äquivalenzlose Lexik, die • für ganz Altbayern typisch ist (z.B. Herrgottswinkel, Wolpertinger); • nur für Oberbayern typisch ist, inkl. Eigennamen, darunter sog. Präzedenznamen (z.B. Haberfeldtreiben, Nockherberg, Monaco Franze); 5. semantische Dialektismen, die in ihrer Form mit standardsprachlichen Lexemen identisch sind, in semantischer Hinsicht hingegen nicht übereinstimmen (z.B. Ratsch, Kraut, Reinheitsgebot, Wildschütz u.a.). Die Untersuchung hat gezeigt, dass jede Nichtübereinstimmung kulturell bedingt ist und eine wesentliche Rolle im kontextuellen Gebrauch spielt. 3. Vom Standpunkt des konzeptuellen Wissens aus ließen sich – aufgrund der kontextuellen Analyse – folgende Funktionen der erforschten Lexik herausarbeiten: 1. kulturspezifische Auslösewörter, die entsprechende Assoziationen auf die universellen/typischen Konzepte der Kultur wie Tradition, Religion, Humor,

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