US-Außenminister John Kerry und der Krieg Page 1 of 11 Quelle: http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/us-aussenminister-john-kerry-und-der-krieg Mai 2016 US-Außenminister John Kerry und der Krieg Ein Essay über biographische Kontinuität und amerikanische Politik von Ariane Leendertz Veröffentlicht: Mai 2016 Der Vietnamkrieg, prophezeite das Magazin Der Spiegel im Sommer 1971, ist für die USA auch dann noch nicht zu Ende, wenn der letzte G.I. Indochina verlassen hat.[1] In der Tat wurde der Vietnamkrieg Amerikas Vergangenheit, die nicht vergehen wollte. Die gesellschaftlichen und politischen Nachwirkungen des Krieges spürte das Land bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Konkurrierende Deutungen der Ereignisse prägten politische Kultur und öffentliche Debatten, gegensätzliche Positionen blieben auf Jahrzehnte latent, emotionale und ideologische Blockaden erschwerten einen vergangenheitspolitischen Konsens. Die politische Biographie des amerikanischen Außenministers John Kerry ist untrennbar mit dieser Geschichte verflochten. Vor 45 Jahren wurde Kerry, der von 1966 bis 1970 in der US-Navy diente, innerhalb weniger Monate zum öffentlichen Gesicht der Antikriegsbewegung in den USA. 1971 zählte er zu den Anführern einer mehrtägigen Protestaktion von Veteranen in Washington DC. Einen ihrer Höhepunkte markierte die Anhörung des eloquenten Absolventen der Eliteuniversität Yale vor dem Foreign Relations Committee des amerikanischen Senats am 22. April 1971, durch die Kerry auf einen Schlag die Aufmerksamkeit des politischen Establishments auf sich zog. Seine Sätze „How do you ask a man to be the last man to die in Vietnam? How do you ask a man to be the last man to die for a mistake?“ sind in das kulturelle und mediale Gedächtnis der Vereinigten Staaten eingegangen. Der folgende Essay soll dem Ursprung und den Folgen dieser Sätze nachgehen. Wie wurde aus einem idealistischen Offizier ein Wortführer der Antikriegsbewegung? Welche Rolle spielte die Kriegserfahrung für Kerrys politische Karriere als Senator, Präsidentschaftskandidat und US- Außenminister? Teil I befasst sich mit John Kerrys Kriegsdienst, mit seiner Wandlung zum Kriegsgegner und schildert, wie es zu seiner Einladung ins Foreign Relations Committee des Senats und seiner Aussage am 22. April 1971 kam. Teil II widmet sich der Bedeutung des Vietnamkriegs für Kerrys politische Karriere als US-Senator zwischen 1985 und 2002. Wenig bekannt ist in Deutschland, dass Kerry in den 1990er Jahren maßgeblich an der Normalisierung der wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und Vietnam beteiligt war. Während er sich 1991 in der Befürchtung einer Wiederholung von „Vietnam“ gegen den ersten Golfkrieg aussprach, votierte er 2002 mit Präsident George W. Bush für einen militärischen Einsatz gegen den Irak. Das Votum von 2002 stand bereits im Kontext von Kerrys Kandidatur für das Amt des US-Präsidenten, womit sich Teil III befassen wird. Auf Kerrys Kriegsdienst wurde im Präsidentschaftswahlkampf 2004 auf vielfältige Weise Bezug genommen. Der Demokratischen Partei diente seine Vietnamvergangenheit als integraler Bestandteil der biographischen Konstruktion des Kandidaten als glaubwürdiger Commander in Chief. Im gegnerischen Lager der Republikaner um http://www.zeitgeschichte-online.de/print/thema/us-aussenminister-john-kerry-und-de... 14.06.2016 US-Außenminister John Kerry und der Krieg Page 2 of 11 George W. Bush hingegen aktivierte der Vietnambezug jahrzehntealte Ressentiments derjenigen, die bereits 1971 gegen die Antikriegsbewegung polemisiert hatten. Mit dem Amtswechsel zu Barack Obama übernahm John Kerry schließlich 2009 den Vorsitz des Senate Foreign Relations Committee, vor dem er 1971 selbst Rede und Antwort gestanden hatte. Seit 2013 ist er Außenminister der Vereinigten Staaten. Als größter diplomatischer Erfolg seiner Amtszeit kann wohl das Atom-Abkommen mit Iran von 2015 gelten, mit dem eine weitere militärische Intervention der USA im Nahen Osten zunächst abgewendet werden konnte.[2] Teil I: John Kerry und der 22. April 1971 In Anlehnung an Operationen des US-Militärs in Laos und Kambodscha nannten die Vietnam Veterans Against the War (VVAW) ihre Protestaktion vom 18. bis 23. April 1971 Dewey Canyon III – A limited incursion into the country of Congress. Sie wollten jetzt das Anliegen der zurückgekehrten Veteranen, die bis dahin wenig Gehör gefunden hatten, nach Washington tragen: in den Kongress und zu den politischen Entscheidungsträgern. Diese hatten Präsident Lyndon Johnson einst 1964 mit der Tonkin-Resolution den Freibrief dafür gegeben, alle Maßnahmen zur Verteidigung der amerikanischen Truppen und Verbündeten in Südvietnam zu ergreifen, die er für notwendig hielt.[3] 1965 hatte die US-Regierung den Krieg mit dem kommunistischen Nordvietnam ausgeweitet und auf den Luftkrieg war der Einsatz amerikanischer Bodentruppen gefolgt. Insgesamt dienten bis 1975 rund 2,2 Millionen US-Soldaten in Vietnam, knapp eine Million erlebte Schätzungen zufolge Kampfhandlungen; rund 400.000 waren wie John Kerry in sogenannte Search and destroy-Operationen involviert, die der militärischen Führung als Erfolgsstrategie im Dschungel- und Guerillakrieg erschienen: mehrtägige Kampfeinsätze im Feindgebiet mit dem Ziel, so viele Gegner wie möglich zu töten oder gefangen zu nehmen.[4] Mit den amerikanischen Gefallenen wuchs die Zahl der Soldaten und Offiziere, die körperlich und seelisch verwundet in die Heimat zurückkehrten. Überproportional hoch waren Drogen- und Alkoholmissbrauch, Selbstmorde und Arbeitslosigkeit unter den Rückkehrern, von denen Tausende mit schweren gesundheitlichen Problemen durch Querschnittslähmungen oder Amputationen, mit Depressionen und psychischen Traumata zu kämpfen hatten. Skandalöse Zustände in unterfinanzierten Veteranenhospitälern, Verbitterung über fehlende Anerkennung in einem Krieg, der bereits als verloren galt, aber von der Regierung Nixon weiter in die Länge gezogen wurde: Dies einte die ehemaligen Soldaten, die im April 1971 nach Washington zogen. Hinzu kamen die Trauer über die verlorenen Leben von Freunden und Kameraden und die Gewalterfahrungen in einem „Krieg ohne Fronten“, der täglich weitere Opfer forderte. Der Impuls für den Protest in Washington ging von der Winter Soldier Investigation aus, einem von den VVAW organisierten Treffen im Januar 1971 in Detroit, wo rund 150 Veteranen über Gewalttaten und Kriegsgreuel berichteten, die sie selbst begangen oder bezeugt hatten.[5] Das Massaker von My Lai, für das zur selben Zeit der Armeeleutnant William Calley vor Gericht stand, war, so die Kernbotschaft der „Winter Soldiers“, kein Einzelfall: Gewalttaten an Zivilisten und Kriegsgefangenen, Folter und Vergewaltigungen gehörten zum Soldatenalltag in Vietnam. Schuld, Scham und Entsetzen über die eigene Verrohung begleiteten die Soldaten nach Hause.[6] 1. Vom Offizier zum Kriegsgegner http://www.zeitgeschichte-online.de/print/thema/us-aussenminister-john-kerry-und-de... 14.06.2016 US-Außenminister John Kerry und der Krieg Page 3 of 11 John Kerry nahm als aufmerksamer Zuhörer am Treffen in Detroit teil. Über seine Hinwendung zur Antikriegsbewegung hat er über die Jahrzehnte in Interviews mit Journalisten, Dokumentarfilmern und Historikern Auskunft gegeben. Zum Dienst in der US-Navy hatte er sich 1965 noch als Student freiwillig verpflichtet und gleich nach dem Collegeabschluss, 22 Jahre jung, die Ausbildung zum Offizier begonnen. Ihm und seinen engsten Freunden schien es selbstverständlich, dem eigenen Land zu dienen. Das Vorbild verkörperte die Generation ihrer Väter, die als gefeierte Helden aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt waren. Patriotismus, Idealismus, wohl auch Abenteuerlust ließen den Sohn eines US-Diplomaten den Spuren seines Idols John F. Kennedy folgen, hoch dekorierter Kommandeur eines Patrouillenbootes im Zweiten Weltkrieg. „Although I did have some doubts about the war in terms of policy“, so Kerry 1971 in einem Interview mit der New York Times, „at that time I believed very strongly in the code of service to one’s country.“[7] Wie sein Biograph Douglas Brinkley im Vorfeld des Präsidentschaftswahlkampfes von 2004 detailliert rekonstruiert hat, war Kerry zunächst auf einer Fregatte stationiert. 1968 ersuchte er um das Kommando auf einem sogenannten Swiftboat, einem Patrouillenboot mit fünf bis sechs Mann Besatzung, das die Navy in den Küstengewässern und auch in den Flüssen weit im vietnamesischen Inland einsetzte. Zwischen November 1968 und März 1969 kommandierte Kerry die Swiftboats PCF-44 und PCF-94, wurde mehrfach verwundet und mit den Tapferkeitsmedaillen Bronze Star und Silver Star ausgezeichnet.[8] Die Verwundungen ermöglichten eine Versetzung in die USA, wo Kerry zunächst weiter für die Navy arbeitete. Seinen Wandel zum Kriegsgegner beschrieb er in einem Fernsehinterview 1988 als einen allmählichen Prozess, der nach seiner Rückkehr aus Vietnam im Frühjahr 1969 begann.[9] Aus Brinkleys Biographie geht hervor, dass dies zwar eine sehr persönliche Entwicklung war, die aber gleichzeitig, wie der Psychologe Robert Lifton zeigt, exemplarisch für viele der Veteranen war, die sich den VVAW anschlossen. Lifton, der die Bewegung damals begleitete und zahlreichen Veteranen bei der Aufarbeitung ihrer Kriegserlebnisse half, betont, dass die Transformation zugleich eine persönliche und soziale Dimension hatte. Anders als die „Helden“ des Ersten und Zweiten Weltkriegs wurden die Vietnamveteranen nicht als Sieger empfangen. Die ehemaligen Soldaten mussten Ordnung in ihre Erfahrungen bringen, sich selbst gegenüber Rechenschaft
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