3. Ideologie statt Strategie: Nationalsozialisti- sche Reichsverteidigung 3.1. „Volkskrieg“, Festungskrieg, Kleinkrieg In einer Ideologie, deren zentrale negative Sinnstiftungselemente Niederlage und Zusammenbruch waren, gerann der Wille zum Durchhalten zur ultima ratio. Als alles entscheidendes Prinzip wurde es als völkisch-rassisch postulierte Primärtu- gend der „Volksgemeinschaft“ zum Gegenmodell jener Urerlebnisse erhoben, die sich nun zu wiederholen drohten. Es war die Grundlage anhaltenden Glaubens an den Sieg und Nahrung für die Illusionen einer letzten Kriegswende, auf deren Basis sich das katastrophale Fehlen militärischer Mittel verdrängen und ignorie- ren ließ; es ermöglichte (Selbst-)Betrug und Täuschung bis zuletzt; es recht- fertigte Terror und Verfolgung, wenn der eingeforderten inneren Stabilität und Kampfbereitschaft Gefahr durch vorgebliche „Rassefeinde“, „Volksverräter“ und „politisch unzuverlässige Elemente“ zu drohen schien. Die beiden eng zusam- menhängenden ideologischen Kernelemente des Willens und des Durchhaltens sind zentrale Prämissen der militärisch-strategischen und politischen Entschei- dungen, die die NS-Führung in der Kriegsendphase traf. Wesentlicher ideologischer Hintergrund des Hypervoluntarismus, der den Glauben an Halte- und Durchhaltestrategien befeuerte, war die Überzeugung, die Gegner seien zu vergleichbaren Willensleistungen nicht in der Lage. Hitlers Sicht war – wie so oft in den letzten Kriegsmonaten – zwar keineswegs frei von Wider- sprüchen, in Sachen Willensstärke jedoch hielt er die USA für das schwächste Glied in der Kette: Das Land verfüge zwar über erhebliche Wirtschaftsmacht und Ressourcen, jedoch sei das eigene Heimatgebiet weder vom Krieg unmittelbar be- troffen noch bedroht, die demokratische Staatsform verhindere die rücksichtslose Mobilisierung und die „Rassenmischung“ führe dazu, dass Amerika schwach und degeneriert sei. Neben der Hoffnung auf ein Auseinanderbrechen der „unnatürli- chen“ Koalition der Feinde war auch dies ein Grund dafür, dass Hitler sein Au- genmerk 1944/45 verstärkt auf den Westen richtete. Die Sowjet union andererseits verfügte zwar aus Sicht des „Führers“ nur über „rassisch minderwertiges“ Men- schenmaterial, kämpfte jedoch zur Verteidigung des eigenen Landes den von Stalin ausgerufenen „Großen Vaterländischen Krieg“. Ihre Führung war bereit, diesen Kampf ohne Rücksicht auf Verluste als das auszufechten, als was auch Hitler ihn sah: Als Überlebenskampf zwischen Völkern, Rassen und Weltanschau- ungen.1 1 Vgl. Weinberg, Hitler’s Image of the United States, S. 1019–1021; Yelton, Hitler’s Volkssturm, S. 22 f.; Volkmann, Das Rußlandbild im Dritten Reich; Hildermeier, Geschichte der Sowjet- union, S. 601–669. 126 3. Ideologie statt Strategie Die Erwartungen und Hoffnungen, die das NS-Regime mit dem Vordringen des Krieges auf das Reichsgebiet verknüpfte, waren enorm. Zentrales Element ei- nes „heilige[n] Volkskrieg[s]“ war weniger die nationalsozialistische Volksarmee Himmlerscher Konzeption.2 Vielmehr werde „das Volk“ – gemeint war die zu mobilisierende und zu totalisierende „Volksgemeinschaft“ – fanatisch die letzten Reserven zur Verteidigung der eigenen Heimat anstrengen, um zusammen mit der Wehrmacht den eindringenden Gegner zurückzuschlagen. Jeder Einzelne, un- abhängig von Alter, Geschlecht, Fähigkeiten oder militärischer Tauglichkeit, wer- de in einem Akt der kollektiven Selbstverteidigung zur Waffe greifen – oder, ange- sichts des eklatanten Mangels, zu irgend geeignetem Kampfwerkzeug. Je desolater sich der Zustand der Wehrmacht darstellte, desto mehr wurde die diffuse Entität des „Volkes“ zum eigentlichen Rückgrat des nationalsozialistischen Verteidi- gungskonzeptes. Es wurde in Gestalt des „Volksaufgebotes“ zur Befestigung der Reichsgrenzen herangezogen; es wurden pseudo- und paramilitärische Verbände rekrutiert, deren Mitglieder eigentlich zu jung, zu alt oder zu gebrechlich waren, um Krieg zu führen, und die kaum über Ausrüstung und Bewaffnung verfügten. So holte der in ihrem Namen geführte Krieg die „Volksgemeinschaft“ endgültig ein: Sie sollte als letzte Verteidigungslinie retten, was längst nicht mehr zu retten war. In seinem letzten Leitartikel für die Wochenzeitschrift „Das Reich“ legte Joseph Goebbels am 22. April noch einmal ausführlich dar, wie sich das Regime diesen Überlebenskampf des Volkes konkret vorstellte. Freilich musste dem Propaganda- minister zu diesem Zeitpunkt klar sein, dass sich die hohen Erwartungen nicht erfüllt hatten. Bei allem Fanatismus ist denn auch ein leicht defensiver, rechtferti- gender Unterton auszumachen. Die „Verteidigung der Freiheit unseres Volkes ist nicht mehr allein Sache der an der Front kämpfenden Wehrmacht, sie muss auch in der Zivilbevölkerung von Mann und Frau und Knabe und Mädchen mit einem Fanatismus ohnegleichen aufgenommen werden“3, hob Goebbels an. „Der Feind rechnet damit, daß er […] im Hinterland keinen Widerstand mehr finden wird“. In Wirklichkeit aber „darf [es] kein Dorf und keine Stadt geben, die sich irgend- wann einmal dem Feind unterwerfen“. Solange „Widerstand um jeden Preis“ ge- leistet werde, „solange können wir nicht besiegt werden; und nicht besiegt werden heißt für uns siegen.“ Natürlich, so der Propagandist, koste „ein Volkskrieg dieser Art […] schwere Opfer“, doch seien die Folgen einer Niederlage noch weit drasti- scher. Die Erklärung, warum nun schon der perpetuierte Kriegszustand einer Nicht-Niederlage als Sieg gewertet werden sollte, blieb Goebbels freilich schuldig. Stattdessen schwärmte er von der psychologischen Wirkung selbstmörderischer Demonstrationen des Willens und des Fanatismus. Goebbels ging kaltblütig „das 2 Rede des Reichsführers-SS Himmler auf der Gauleitertagung am 3. 8. 1944 in Posen, zit. nach: Eschenburg, Die Rede Himmlers vor den Gauleitern, S. 391. Himmler hielt sich mehrfach das Hintertürchen offen, von ihm nun keine „Wunder und keine Zaubereien zu erwarten“: Der Umbau werde „Monate“ und „Jahre brauchen“; ebd., S. 390, 392. 3 Widerstand um jeden Preis, in: Das Reich, 22. 4. 1945, in Auszügen in: Michaelis/Schraepler, Ursachen und Folgen, Bd. XXIII, S. 116 f. 3.1. „Volkskrieg“, Festungskrieg, Kleinkrieg 127 Herz […] auf“, als er das Bild heraufbeschwor, „wie Väter, Mütter, ja Kinder sich zusammenrotten, um den Eindringlingen Widerstand zu leisten, wie Knaben und Mädchen sie mit Handgranaten und Tellerminen bewerfen, sie aus Fenstern und Kellerlöchern beschießen und dabei die Gefahr, unter der sie kämpfen, für nichts achten. Sie sind es, die dem Feind Respekt abnötigen. Sie binden seine Kräfte, wo immer er auftritt. Sie zwingen ihn, Reserven abzuzweigen, um eine rebellische Stadt oder ein vor nationalem Fanatismus glühendes Dorf in Schach zu halten, und drosseln damit seinen Vormarsch solange ab, bis einige Kilometer weiter wie- der eine neue Verteidigungslinie aufgebaut ist.“ Einen Gipfel der Absurdität und des Zynismus erklomm der Propagandaminister mit seiner abschließenden Argu- mentation, mit einem „Kampf der Verzweiflung“ habe das alles nichts zu tun: „Die Angriffsmethoden des Feindes sind wesentlich riskanter als diese Methoden unseres Widerstandes.“ Eine solche surreale Form der Kriegführung, die sich in Fantasien der Selbst- aufopferung erging, hatte Hitler bereits Mitte September in einem Grundsatzbe- fehl an die Spitzen von Partei und Staat für den Kampf auf dem Reichsgebiet be- fohlen – erste alliierte Truppen hatten gerade bei Aachen die Grenze überschrit- ten. Nun sei der Zeitpunkt gekommen, die „Kampfführung [zu] fanatisieren und unter Einsatz jedes wehrfähigen Mannes in der Kampfzone zur äußersten Härte [zu] steigern. Jeder Bunker, jeder Häuserblock in einer deutschen Stadt, jedes deutsche Dorf muß zu einer Festung werden, an der sich der Feind entweder ver- blutet oder die ihre Besatzung im Kampf Mann gegen Mann unter sich begräbt. Es gibt nur noch Halten der Stellung oder Vernichtung. Die Führer aller Grade sind dafür verantwortlich, daß dieser Fanatismus in der Truppe und in der deut- schen Bevölkerung geweckt [und] ständig gesteigert [wird] und als Waffe gegen die Eindringlinge auf deutschem Boden zur Auswirkung kommt.“4 Das OKW hatte bereits Anfang Februar 1944 dekretiert, „Kapitulation, Ein- stellen des Widerstandes, Ausweichen oder Rückzug“ gebe es „überhaupt nicht. Für den Festungs- und Kampfkommandanten ist der ihm anvertraute Platz sein Schicksal. Auch der Kommandant eines Schiffes“, so wurde die Parallele zu zwei- felhaften Marinetraditionen gezogen, gehe „mit ihm unter wehender Flagge unter. Die Geschichte des deutschen Soldatentums hat nie eine andere Auffassung gekannt“.5 Einen Monat später traf Hitler eine entsprechende Grundsatzentschei- dung, die für den Rest des Krieges die Strategie einer Armee determinierte, die für Rückzug und Landesverteidigung praktisch ohne Konzept und Vorbereitung war. Der Führerbefehl Nr. 11 bestimmte, dass „feste Plätze“ zu bilden seien, die „die gleichen Aufgaben wie die früheren Festungen [zu] erfüllen“ hätten; indem sie sich vom Gegner überlaufen und einschließen ließen, hoffte man, „möglichst starke Feindkräfte zu binden.“ Die zunächst auch laufbahnmäßig hoch gesteckten 4 BArch-MA Freiburg, RW 4/v. 828, Chef WFSt/Op Nr. 0011273/44 gKdos., 16. 9. 1944. Ein ent- sprechendes Rundschreiben Bormanns (NR. 255/44), das im Staatsarchiv Posen überliefert ist, zitiert Schwendemann, Der deutsche Zusammenbruch im Osten 1944/45, S. 125. 5 BArch Berlin, NS 19/3118, OKW/WFSt/Op (H) Nr. 0906/44 g., 7. 2. 1944. 128 3. Ideologie statt Strategie Anforderungen an die Festungskommandanten wurden bald
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