Zweifel als Waffe Hartmut Haenchen über Musik Bas van Putten Herausgegeben im Verlag Toth, Bussum, 1996 ISBN 90-6868-157-5 Übersetzung von Anne-Christin Erbe und Dorothee Haenchen, 2003 Mit Dank an Eberhard Enger, der den Text nochmals korrigierte Das Buch Zweifel als Waffe erschien 1996 aus Anlass des zehnjährigen Amtsjubiläums von Hartmut Haenchen als Chefdirigent der Niederländischen Philharmonie und des Niederländischen Kammerorchesters sowie als Generalmusikdirektor der Niederländischen Oper. Es ist vor allem ein Bericht über einen gemeinsamen musikalischen Wachstumsprozess. Daneben skizziert es die technischen und psychologischen Probleme des Dirigierens und stellt ausführlich Haenchens Sicht auf die Funktion des Dirigenten in der internationalen Musikpraxis dar. Bas van Putten ist Musikwissenschaftler. Er ist als Musikjournalist für das Wochenblatt Vrij Nederland beschäftigt. 1 Inhalt Vorwort 3 Einleitung 4 1 Hartmut Haenchen und die Niederländische Philharmonie 9 Der Anfang 9 Das Kennenlernen 19 Der Aufbau 25 2 Der Dirigent und sein Fach 35 Kompetenz und Konkurrenz 35 Dirigieren als Beruf der Erfahrung 44 Technik und Willensübertragung 51 Lied ohne Worte 58 Interpretation und Ethik 60 3 Der Musiker und sein Repertoire 71 Intuition 71 Entscheidungen 78 Wahrheit und Wirklichkeit; eine Oper 89 Theater und Weltbild 96 Leiden und Mitleid. Wagners Parsifal 102 Nachtrag 109 Repertoire und Diskographie von Hartmut Haenchen mit der Niederländischen Philharmonie und dem Niederländischen Kammerorchester von 1986/87 bis 1996/97 117 Zusätzliche Diskographie von Hartmut Haenchen 124 Index 129 2 Vorwort Wir sind glücklich und stolz, dass wir zu der Entstehung dieses Buches beitragen konnten. Es ist in dieser Form ein Monument für einen Dirigenten geworden, der zehn Jahre lang die wahrscheinlich wichtigste und in jedem Fall umfangreichste musikalische Funktion in unserem Land erfüllt hat. Es gibt Einsicht in die Art wie ein Mann, der auf eindrucksvolle Weise Konzerte und Vorstellungen leitet, dauernd und nuanciert über Musik nachdenkt. Es lässt sehen, wie Emotionalität und Kenntnis in einer sehr persönlichen Weise zueinander im Verhältnis stehen. Die Niederländische Philharmonie und das Niederländische Kammerorchester wünschen Hartmut Haenchen und sich selbst von Herzen Glück zu dem zehnjährigen Jubiläum. Jan Willem Loot Direktor Niederländische Philharmonie Niederländisches Kammerorchester 3 Einleitung "Ich warne dringendst vor der Überhitzung, wie überhaupt vor jeder Übertreibung im Ausdruck, die dem Vortrag die Wahrhaftigkeit nimmt - die aus der Leidenschaft Hysterie, aus der Innigkeit Sentimentalität macht usw. - und rate, eher nach der Seite der Mäßigung und Einfachheit, ja Zurückhaltung hinzustreben." (Bruno Walter). Bevor ich den Musiker Hartmut Haenchen besser kennen lernte, hatte ich in der Presse viel über ihn gelesen. Dadurch wusste ich zum Beispiel, dass sein Kommen nach Holland mit einer Reihe erfolgreicher Vorstellungen von Strauss' Einakter Elektra (1984) eingeläutet wurde, und dass die Qualität dieser Aufführungen für seine Ernennung zum Chefdirigenten der Niederländischen Philharmonie, des Niederländischen Kammerorchesters und der Niederländischen Oper zwei Jahre später eine ausschlaggebende Rolle gespielt hatte. Ich wusste auch, dass er sich in seinem Vaterland Ost-Deutschland einen Namen als Konzert- und Operndirigent gemacht hatte, und - was für einen Musiker seiner Generation besonders bemerkenswert ist - dass seine musikalischen Aktivitäten ein ungewöhnlich großes Gebiet umfassten. Haenchen ist immer noch Dirigent und künstlerischer Leiter des Kammerorchesters Carl Philipp Emanuel Bach, mit dem er sich seit seiner Berufung im Jahr1980 hauptsächlich auf die stilechte Wiedergabe von Werken aus Barock und Frühklassik spezialisiert hat. Wenn es wahr ist, dass man im Musikantentum heutzutage zwischen Generalisten (oder „Allesfressern") und Spezialisten unterscheiden kann, und der Forschungsdrang der zweiten Gruppe eine Reaktion auf die Oberflächlichkeit der ersten ist, dann ist Haenchen eine schwierig zu definierende Ausnahme von 4 der Regel. Er befindet sich als Musiker auf einer imaginären Trennungslinie zwischen zwei Epochen und zwei Musikkulturen. Als Dirigent ist er ein später Nachkomme der vor allem deutschen Kapellmeistertradition des 19. Jahrhunderts, in der eine Orchestersuite von Bach noch neben einer Mahler-Sinfonie auf dem Notenpult lag, worin Begriffe wie Noten- und Werktreue als prähistorische Stellvertreter für das heutige "Stilbewusstsein" dienten und worin die universelle Einsatzfähigkeit das Maß aller Dinge war. An Haenchen ist vor allem interessant, wie er diesem Erbe, dem er sich als Dirigent verpflichtet fühlt, den Anforderungen der heutigen Aufführungspraxis gerecht werden konnte und die sonst übliche Vielseitigkeit bei schlecht entwickelten Wissensstand der Vergangenheit heutzutage auch in musikwissenschaftlicher Hinsicht Hand und Fuß hat. Sicher, er dirigiert Schütz und Wagner, Bach und Berg, Haydn und Aribert Reimann, er bewegt sich wie seine Vorgänger kreuz und quer durch die Musikgeschichte, aber er begegnet seinem umfangreichen Repertoire mit den Mitteln der sogenannten authentischen Aufführungspraxis. Intensive Quellen- und Literaturstudien - sorgfältig in Karteikästen und Computerkarteien dokumentiert - führen nicht selten zu neuen Einsichten, was Verzierungstechniken in der vokalen Musik des 18. Jahrhunderts, Temporelationen in Mozarts Zauberflöte oder Vortragsanweisungen in der 3. Sinfonie von Brahms betrifft. Es gibt viele kleine und größere Forschungsergebnisse, aus denen Haenchen Profit hätte machen können, wenn er sich dafür entschieden hätte, seine Entdeckungen weltweit bekannt zu machen. Er hat das in den meisten Fällen nicht getan, wodurch wesentliche Facetten seines Könnens hinter den Partituren der großen Meister versteckt blieben. Eine Übersicht seiner Konzert- und Opernprogramme aus der Zeit zwischen 1986 und 1996, die in diesem Buch enthalten ist, verdeutlicht, welche kolossalen Anstrengungen die "Methode Haenchen" von diesem Allround-Spezialisten verlangt. Nach sorgfältigem Studium verrät die Liste auch, wie wählerisch Haenchen ist, was mit dem Begriff "Allesfresser" nicht zu vereinbaren ist. Das französische Repertoire, dem er sich weniger verbunden fühlt, nimmt eine untergeordnete Position ein, ebenso wie die Opern und Sinfonien von Tschaikowsky, mit denen er lange Zeit auf Kriegsfuß gestanden hat. Diese Trennschärfe ist kennzeichnend für Haenchen, auch in seinem 5 Verhältnis zur kommerziellen Musikindustrie. Ein „Allesfresser“ würde niemals ein lukratives Angebot für eine integrale Aufnahme von Schumann-Sinfonien abschlagen, weil er zu der 2. Sinfonie zu wenig Affinität hat. Im Gegensatz zu Haenchen würde ein „Allesfresser“ sich überreden lassen, auch ohne Probenzeit bei der Wiener Staatsoper zu dirigieren. Allesfresser sind Jedermannsfreunde, und Jedermannsfreunde sind Zyniker. Haenchen ist höchstens ein Skeptiker. Ich habe mich oft über die Offenherzigkeit gewundert, mit der dieser Dirigent sich über seine vermeintlichen Unzulänglichkeiten oder weniger geglückten Aufführungen äußerte und Bekenntnisse ablegte, die ich in seiner Position wahrscheinlich für mich behalten hätte. Er findet, dass Selbstkenntnis der beste Gradmesser für die Beurteilung von Anderen ist. Doch habe ich meine anfängliche Vermutung, dass es sich um Unsicherheit und Unentschlossenheit handelt, korrigieren müssen. Selbstkritik braucht Selbstvertrauen, das auf der Bereitschaft von den eigenen Fehlern zu lernen basiert, auch und gerade wenn man sie nur selbst hört. Haenchen weiß genau was er wert ist - mit einer inneren Sicherheit, die sich nicht nur dann manifestiert wenn er gegenüber Dritten in beinahe schmerzlicher Selbstkritik seine Fehler bloßlegt, sondern auch, wenn er ohne Selbstgefälligkeit erklärt, dass er im 1. Akt von Richard Strauss' Mammutwerk Die Frau ohne Schatten das maximal Mögliche erreicht hat. Die Idee zu diesem Buch entstand aus einer Stimmung heraus, als ich während eines Telefongespräches mit Frank Hulsing, dem Chef der PR-Abteilung der Niederländischen Philharmonie, äußerte, dass das musikalische Wissen des Chefdirigenten vielleicht ein breiteres Publikum als den festen Kundenstamm der Orchestermusiker, Solisten, Dirigierstudenten und Abonnementinhaber verdiente und ich mich fragte, ob Haenchens zehnjähriges Dienstjubiläum im Jahre 1996 nicht eine gute Gelegenheit für eine Publikation wäre. Ich sagte das ohne irgendeinen Hintergedanken, aber nachdem F. Hulsing mir zwei Tage später die Reaktionen der Orchesterleitung und des Chefdirigenten übermittelte und mich ganz beiläufig bat, die Feder zur Hand zu nehmen, begriff ich, dass es keinen Weg zurück gab. Und eigentlich wollte ich ja nichts lieber als das. Ich empfand es als eine Tat der Gerechtigkeit, diesem bescheidenen Dirigenten von Format, dem das niederländische Publikum zu großem Dank verpflichtet ist, zu diesem 6 symbolischen Augenblick mit einer passenden Hommage zu ehren. Dieses Buch basiert größtenteils auf Gesprächen mit dem Dirigenten, Beobachtungen in Proben und Konzerten beziehungsweise Haenchens Aufzeichnungen und (meist unveröffentlichten) Überlegungen zu spezifischen Werken. Unsere ersten Gespräche fanden im Zusammenhang mit einer Serie von Programmtexten über einige wichtige sinfonische Werke statt, die Haenchen im Laufe der Saison 1994-1995 und 1995-1996 bei der Niederländischen Philharmonie und beim Niederländischen Kammerorchester dirigierte, statt. Nacheinander besprachen wir die 5. und die 9. Sinfonie
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