FESTSCHRIFT ZUR ENTHÜLLUNG EINER GEDENKTAFEL AM GEBURTSHAUS VON HEINRICH LAMMASCH Festschrift zur Enthüllung einer Gedenktafel am Geburtshaus von Heinrich Lammasch in Seitenstetten am 20. April 2008 Mit der Errichtung einer Gedenktafel am Geburtshaus von Heinrich Lammasch durch den Verein der Alt-Seitenstettner und die Gemeinde Seitenstetten wird an einen bedeutenden Österreicher erinnert, der sich sein Leben lang für den Frieden und sein Vaterland eingesetzt hat. Er war in den letzten Jahrzehnten der Monarchie treibende Kraft bei der längst überfälligen Reform des Strafrechts und Vordenker einer internationalen Friedensordnung. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie hat er sich voll in den Dienst der Republik gestellt und ist für ihre Unabhängigkeit und Neutralität eingetreten. Dr. Dieter Köberl [email protected] FESTSCHRIFT ZUR ENTHÜLLUNG EINER GEDENKTAFEL AM GEBURTSHAUS VON HEINRICH LAMMASCH HEINRICH LAMMASCH * 1853 in Seitenstetten † 1920 in Salzburg Letzter k.k. Ministerpräsident Österreichs Verwalter des Nachlasses der Monarchie Vordenker der Republik Österreich Ich glaube nicht an den ewigen Frieden, ich glaube aber alles daransetzen zu müssen, ihn herbeizuführen. (Heinrich Lammasch) Nach seinem Hingang bleibt der Wunsch zurück, dass die Zeit, die seines Lebens nicht würdig war, durch sein Andenken Ehre gewinnen möge. (Karl Kraus) Wenige Persönlichkeiten Österreich- bei mir zu verdrängen droht, beschwor Ungarns hatten in den letzten Jahren ich die Erinnerung an den alten tadellosen der Monarchie international eine ähn- österreichischen Herrn“. lich hohe Reputation wie Heinrich Lam- Heute ist diese „Weltgestalt“ in Öster- masch. Der Schriftsteller Ernst Lothar hat reich kaum noch bekannt; auch nicht seine Lebenserinnerungen „Das Wunder in seinem Geburtsort Seitenstetten. Die des Überlebens“ nach seiner und seiner Situation wäre wohl anders, wenn die Frau Adrienne Gessner Rückkehr aus Würdigung von historischen Persön- dem amerikanischen Exil niederge- lichkeiten ihrem Engagement und ihrer schrieben und erinnert sich darin an eine Voraussicht entsprechend erfolgte und Begegnung Jahrzehnte davor im Ersten weniger unter dem Aspekt der Nostalgie Weltkrieg: oder der Selbstbestätigung. Das Gedenk- „Heinrich Lammasch […] Mitglied der jahr 2005 hätte eine gute Gelegenheit zu Haager Friedenskonferenz, eine Weltge- einem Denkmal in Österreich geboten, stalt, von der Welt mit Respekt genannt nachdem die Benennung einer Straße […] Unvergleichlicher Besuch. Wann im 21. Bezirk Wiens bereits über fünfzig immer seither Persönliches das Sachliche Jahre zurückliegt. Die letzte öffentliche FESTSCHRIFT ZUR ENTHÜLLUNG EINER GEDENKTAFEL AM GEBURTSHAUS VON HEINRICH LAMMASCH Anerkennung der Bemühungen von Heinrich Lammasch um den Weltfrieden und den Völkerbundgedanken erfolgte aber tatsächlich vor zehn Jahren in der deutschen Stadt Halle/Saale durch Benennung eines Platzes - eine Würdi- gung jenes Mannes, der in Österreich vor allem deshalb angefeindet wurde, weil er das Bündnis mit Deutschland in Frage gestellt hat. Hofrichterhaus um 1900 Werdegang Heinrich Lammasch wurde als Sohn Strafrecht, Rechtsphilosophie und Völ- eines Notars im Jahr 1853 in Seitenstet- kerrecht an der Universität Wien. Bereits ten, NÖ geboren. (Dort erinnert noch 1897 wurde er Mitglied in der Ministe- heute in der Friedhofskirche St.Veit ein rialkommission für ein neues Strafge- Grabstein für ein im Alter von wenigen setzbuch und dort zur treibenden Kraft Monaten verstorbenes Kind an die Fami- bei der Ausarbeitung eines neuen Straf- lie Lammasch.) rechts, dessen Entwurf 1912 vom Her- Die Familie übersiedelte bald darauf renhaus angenommen wurde. Der von nach Wiener Neustadt und Wien, wo Lam- ihm verfasste „Grundriss des Österreichi- masch nach dem frühen Tod des Vaters schen Strafrechts“ wurde noch in der das Schottengymnasium besuchte und Ersten Republik in überarbeiteter Form dann das Jusstudium mit ausgezeich- als Lehrbuch verwendet. netem Erfolg absolvierte. Anschließend 1899 erfolgte seine Berufung in das verbrachte er einige Monate in Deutsch- Herrenhaus, wo er sich keiner der großen land, Frankreich und England. Während Parteien anschloss und je nach seiner dieser Zeit wurde der Grundstein seines Überzeugung einmal mit der Rechten, späteren Wirkens für das internationale ein anderes Mal mit der Linken stimmte. Recht und den Weltfrieden gelegt. Nach In der Wahlrechtsdebatte 1905 sprach er seiner Habilitation erhielt er 1885 eine sich zwar nicht für ein allgemeines Wahl- Professur an der Innsbrucker Universität recht, aber für die breite Einbindung der und 1889 die Ordentliche Professur für Arbeiterklasse aus, damit in die Volks- FESTSCHRIFT ZUR ENTHÜLLUNG EINER GEDENKTAFEL AM GEBURTSHAUS VON HEINRICH LAMMASCH vertretung Elemente einziehen, „welche war er allerdings nicht angetan („Es muss die Eignung haben, die wirklichen realen alles bums-bums gehen“), seine Empfeh- Interessen des kleinen Mannes und die lungen blieben unberücksichtigt, auch Interessen der hilfslosen Volksschichten von Kaiser Karl. besser zu vertreten, als dies bisher der Lammasch hatte durch seine Arbeiten Fall gewesen ist.“ Auch als Berater des auf dem Gebiet des Völkerrechts hohes Thronfolgers Franz Ferdinand war Lam- Ansehen gewonnen und nahm 1899 masch tätig und machte Vorschläge, um und 1907 als Berater der österreichisch- die unhaltbare Situation der benachtei- ungarischen Delegation an den Haager ligten Völker in der Monarchie nach dem Friedenskonferenzen teil. 1900 wurde er Tod Kaiser Franz Josefs zu beenden. Er Mitglied des dortigen Ständigen Inter- sah die Gefahr, dass Österreich wegen nationalen Schiedsgerichtshofes und des Widerstands der unterdrückten amtierte dreimal als dessen Präsident. Nationen dem inneren Zerfall entgegen- Seine erfolgreiche Tätigkeit bei der Beile- geht. Vom Charakter des Thronfolgers gung mehrerer internationaler Konflikte Geburtsbuch Stift Seitenstetten (1853) FESTSCHRIFT ZUR ENTHÜLLUNG EINER GEDENKTAFEL AM GEBURTSHAUS VON HEINRICH LAMMASCH haben seine Reputation auch internatio- nal begründet und ihn in seinem Bestre- ben bestärkt, Streitigkeiten zwischen Staaten durch internationale Schieds- gerichte nach Grundsätzen beizulegen, die zur allgemeinen Anwendung geeig- net sind. Die Bemühungen der Haager Friedenskonferenzen, die Staaten zur Anerkennung internationaler Gerichte zu verpflichten und damit internatio- nale Konflikte mit friedlichen Mitteln zu regeln, wurden aber von den Repräsen- tanten des Deutschen Reichs vereitelt. Grabstein für den Bruder (1852) Beziehung zu Karl Kraus Der renommierte Gelehrte Lammasch, zeigte er Missstände auf und beurteilte der ab seiner Berufung in das Herrenhaus die damalige Rechtsunsicherheit und im Jahr 1899 auch verstärkt politisch die Strafrechtspraxis in der „Fackel“: „Das tätig war und sich um die Durchsetzung Charakteristische der österreichischen notwendiger Reformen bemühte, fand Strafrechtspflege ist, dass man nicht weiß, bald den Kontakt mit dem jungen, noch ob man sich mehr über die richtige oder kaum bekannten Publizisten Karl Kraus, über die falsche Anwendung des Gesetzes der im selben Jahr begonnen hatte, seine entrüsten soll“. Heinrich Lammasch aner- Zeitschrift „Die Fackel“ herauszugeben. kennt als Leser der „Fackel“ die Ambitionen Kraus führte in den ersten Jahren seiner von Kraus und kommt zu einem ähnlichen Tätigkeit vor allem einen Kampf gegen Schluss: „Aber wohin treibt ein Staat, der die allgegenwärtige Korruption. Bald sich sagen muss, es sei besser, wenn seine setzte er sich auch mit Missständen im Gesetze nicht angewendet werden?“ Justizwesen auseinander, insbesondere Die Beziehung zwischen Lammasch im Bereich der Sexualjustiz und des Sitt- und Kraus war trotz des großen Unter- lichkeitsrechts. In mehreren Justizsatiren schieds in Alter und Herkunft von Anfang FESTSCHRIFT ZUR ENTHÜLLUNG EINER GEDENKTAFEL AM GEBURTSHAUS VON HEINRICH LAMMASCH an eine des wechselseitigen Gebens und experten und würdigte sein Wirken: „Ihm Nehmens. Das gemeinsame Anliegen ist es zu verdanken, wenn auch in Oester- war immer wieder die Anteilnahme am reich in die dichtvergitterten Fenster einer Schicksal der kleinen Leute, der Opfer engherzigen, lebensfremden Begriffsju- einer rückständigen Justiz und später der risprudenz ein schwacher Lichtschein von Opfer des Krieges. Kraus suchte mehr- Socialpolitik gedrungen ist.“ Lammasch mals Rat bei dem führenden Strafrechts- wies Kraus gelegentlich auf Missstände hin, die er in der „Fackel“ auf und ange- griffen sehen wollte und steuerte bereits im Jahr 1900 einen anonymen Beitrag für die „Fackel“ bei. Später, angesichts des Krieges, wurden der Kontakt und die gegenseitige Wert- schätzung noch intensiver. Lang vor 1914 war Lammasch überzeugt, dass die damalige Politik unvermeidlich auf einen Krieg zusteuerte, und engagierte sich mit aller Kraft für den Frieden; er schrieb Artikel, in denen er seine Ableh- nung des Krieges ausdrückte. Kraus hatte zunehmend die Vision des drohenden Untergangs, spricht von Österreich als Versuchsstation für den Weltuntergang und kommentiert die Annexion Bosni- ens durch Österreich-Ungarn im Jahr 1908 mit: „Warum auch nicht? Es soll alles Karl Kraus beisammen sein, wenn alles untergehen (Zeichnung von Oskar Kokoschka) soll!“ FESTSCHRIFT ZUR ENTHÜLLUNG EINER GEDENKTAFEL AM GEBURTSHAUS VON HEINRICH LAMMASCH Bemühungen um den Frieden während des Weltkrieges Lammasch hatte sich bereits vor dem nicht überrannt worden sind“ (K.Kraus). In Weltkrieg der Friedensbewegung ange- Berlin unterzeichneten 93 Intellektuelle schlossen, auf seinen Vorschlag
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