Siegfried Völker Kurzstrecke II 2001-2007 V-HAUS 2007 Bin (im) Laden Anfang Oktober 2001 Seit drei Tagen hat der Zirkus Bush seine Vorstellung in Afghanistan begonnen. Logischer Wei- se mit einigen aus Golf- und Kosovokrieg her bekannten Luftnummern, die ihre Fernseh- wirkung hinlänglich bewiesen haben. Zur Freude aller Sofa- und Sesselkrieger, die damit aus ihrem dämmrigen Videospielerdasein entlassen werden und nun ohne Leihgebühren zu be- zahlen oder Software zu installieren, also ohne selbst einen Finger zu krümmen, via Fernseh- apparat bombig unterhalten werden. Alles begann bekanntermaßen damit, dass am 11. September durch arabische Weltverbesserer der Skyline von Manhattan zwei der besten Schneidezähne ausgeschlagen wurden. Die ganz Frustrierten rufen: „Endlich passiert mal was!“ Die Kleinkarierten bekunden in einer Art vorauseilendem Gehorsam sich selbst gegen- über Solidarität mit dem Afghanen von nebenan und holen das bunte Käppi aus dem Schrank. Die Stadt brüht ihre Bewohner ab! Die Kollegin vom Dorf hört am 14. September zu nachtschlafender Zeit verdächtige Geräusche aus Richtung Grammenthin. Das klingt ver- dammt nach Bauernkrieg – wo liegt Pakistan? Auf jeden Fall nicht in Richtung Güstrow, son- dern eher in unendlicher Verlängerung der Luftlinie Altentreptow – Eberswalde – Sofia. Nun gut, etwas schummeln und wackeln ist erlaubt. Erstaunlich ist der im ehemaligen Ost-Berlin unterschwellig vorhandene Anti-Amerikanismus. Ist es immer noch der Neid auf den anderen Teil der Stadt, der nach 1945 mit Rosinen oder amerikanischer Lebensart bombardiert wurde? Sind es die Kollateralschäden der Zwangs- kollektivierungen unterm roten Stern – diese Redlichkeit des Hammer- und Sicheldenkens, die nicht wegzukriegen ist. Warum eigentlich auch! „Weiß war der Reis und essbar noch, heut ist er schwarzer Rauch...“ 1968 von mir geschrieben, war der Anfang eines vierstrophigen Gedichtes. Wenn damals in Vietnams Wäldern eine größere Menschenansammlung vermutet wurde, gab es eine Vakuumbombe auf das Gelände und dann war Ruhe im Busch. Es brauchte nicht einmal der Dschungelschrott beseitigt werden. Das wurde nicht teuer in der Nachberei- tung oder Aufarbeitung. So betrachtet, kommt unverhofft ein ganz privates 68er-Tum zum Vorschein – vorausgesetzt, man erfüllt die biologischen Parameter, obwohl mir diese jahres- zahlmässige Kategorisierung immer zu wider war und Assoziationen wie Zwangskalibrierung hervorrief oder ganz allgemein das Waffenwesen tangierte wo bekanntlich 45er oder 90er Schießprügel im Angebot sind. Wetter Global 04.01.2002 Während die mitteleuropäischen Wetterfrösche bei ihren herbstlichen Prognosen zu tief oder ins verkehrte Glas geschaut haben und somit statt des vorhergesagten milden Januars, ein knackig kalter Winter in Berlin und Umgebung herrscht, kämpfen unsere antipodischen Men- schenbrüder in Australien mittels Wasserschlauch und aus Hubschraubern geworfenen Was- serbomben wie jedes Jahr unermüdlich gegen brennendes Buschwerk und um den Erhalt menschlicher Behausungen, sowie für die Errettung so manchen Kängurus oder anderer dort beheimateter Tiere, die mit versengter Braue oder angekokeltem Schwanz, Mitleid erregend, per Bildschirm das Wohnzimmer des Berliners bevölkern. Tierliebe schlägt Menschen-liebe! Während die Latte der im Suff erfrorenen osteuropäischen Menschenkinder immer länger wird und als reines Zahlenwerk die Zeilen der Zeitung füllt, weist das für den einäugigen, alters- schwachen Löwen des Kabuler Zoos errichtete Spendenkonto eines honorigen Briten bereits die stolze Summe von 250 000 Euro auf. Ansonsten werden in der Politik hinter den Kulissen Misthaufen sortiert oder frischer Dung (nach Möglichkeit als Nebenprodukt ökologischer Produktion) herangekarrt, um diesen nach entsprechender Portionierung und nach ausgeklügeltem Zeitplan ins gegnerische Lager zu schleudern, wo die Batzen von einer hoch motivierten Mannschaft bereits sehnlichst erwartet, 1 in großen Behältnissen aufgefangen und nach Neukalibrierung oder dem Versatz mit Butter- säure und Frostschutzmittel in die feindlichen Reihen zurückbefördert werden. Das Wahljahr in Deutschland hat begonnen. Wenn der Krückstock ruft 29.01.2002 Wie so oft ist es die bunte Tageszeitung, die uns auf die Sprünge hilft. Sie berichtet von einem Schauspieler der noch vor Jahren öffentlich von einer klassischen Seebestattung träumte und nun angesichts seiner 90-Jährigkeit, aus der waagerechten Sofaposition, durch seine 35 Jahre jüngere Frau verkünden ließ, dass er von seiner Absicht in kalte Ostseewellen zerstäubt zu werden, Abstand nähme und die dorotheenstädtische Endlagerung an der Seite von Brecht und Müller vorzöge. Das muss nun allerdings jeder selbst wissen, auf welche Art er in den all- gemeinen Kreislauf der Natur zurückkehren will. Eigenbrödler und Naturfreunde werden sicher gerne ihre Körperlichkeit dem nahe stehenden Baum oder der Friedhofshecke als Nahrung zur Verfügung stellen und feiern schon im Voraus im sprießenden Blattwerk oder einer Linden- blüte fröhliche Auferstehung. Gemeinnützig- und kollektiv Veranlagte suchen wiederum im anonymen Kreisrund der Urnenbestattung unter dem grünen Rasen des Krematoriumsgelän- des eine Fortsetzung ihres bisherigen Daseins auf Erden. Für den Show-Typen, der es vom Le- ben her gewohnt ist im Rampenlicht zu stehen und Menschenmassen zu seinen Füßen ver- sammelt zu sehen, ist die Lage des letzten Ortes unheimlich wichtig – und der trampelnde Touristenfuß ist wohl überlegtes Kalkül. Während manch gut bürgerlicher Typ großen Wert auf Etikette legt und den Lindwurm der Kondolierenden, der sich den Abhang des Friedhofs herunterbewegt zu recht vorausschau- end als Bestätigung für sein gutes, urbanes Wesen ansieht, bringen meine eigenen Verwand- ten diese Ordnungen wieder gründlich durcheinander. So wird in Gesprächen zu diesem deli- katen Thema schon mal jemand zu Lebzeiten zur eigenen Beerdigungsfeier ausgeladen oder darauf verwiesen, dass man zur Trauerfeier für Tante X deshalb nicht erschienen ist, weil im umgekehrten Fall Tante X es ebenso gehalten hätte. Die liebevolleren unter diesen pommer- schen Menschenkindern, in ihrer rührenden Redlichkeit, die über Jahrhunderte im ländlichen Raum gewachsen ist, ziehen hingegen im hohen Alter zu ihren entfernt wohnenden Kindern, um Gewissheit über eine funktionierende Grabpflege zu haben. Ein Tief kommt hoch 31.01.2002 Als Ursache vermute ich aus meinem Wetterhäuschen Chausseestr. 11 über die schwankende Birke zu Fuße des Brechtgrabes in Richtung Süden – rechts an der Charité vorbeigepeilt, um- gelenkte Fallwinde vom Atlasgebirge oder als poetischere Variante offen gelassene Zelttüren in Gaddafis Winterresidenz, so dass ein heftiger Durchzug entsteht. Diese Luftmassen, einmal auf Trab gebracht, überwinden mühelos die schmale Stelle des Mittelmeeres und werden unter dem Beifall der animalischen Bewohner von Gibraltar ins Rhône-Tal gelenkt, wo sie eine weitere Beschleunigung erfahren. Nach dieser Verstärkung der Windkraft durch Bündelung folgt eine Kräftigung der Luftmassen durch Höhenverschiebung. Schuld daran sind verschie- dene im Wege herumstehende Mittelgebirge, die für zusätzliche Verwirbelungen sorgen und zur notwendigen Aggressivität dieses Wintersturmes beitragen. Diese ehemals heiße, be- schleunigte, gegängelte und gekühlte Wüstenluft rast dann freifegend über die Arbeitslosen- hochburg Sachsen-Anhalt und verschwindet nach Erreichen der Stadtgrenze von Berlin – Bauplanen rüttelnd und diversen Unfug stiftend – in Richtung Oder, um in Polen die Stromver- sorgung zu unterbrechen. Das arme wetterfühlige Menschlein ist zur Nachtwache verurteilt. Gegen 5 Uhr morgens wird es unausweichlich zum Morgenkaffee auf den Bahnhof Friedrichstrasse gedrängt. Vorher 2 werden stubenunreine Fernsehprogramme gezappt. Auch die schwachmatischen Teletubbis sind mit von der Partie. Außerdem besteht die Möglichkeit auf N3 eine Tagesschau von 1982 zu erleben, auf Bayern3 unendlich lange durchs Weltall zu gondeln, oder sich als Sturmsiche- rung einen DDR-Polizei-Muff von 1979 zu genehmigen. Hufthammer und Austervoll März 2002 Eigentlich ist Tschernobylwetter, kühler hoher Himmel und Nord-Ost-Wind. Lichtscheue Men- schenelemente und Albinos möchten sich schützend unter den riesengroßen Blättern des Frühlingsrhabarbers verkriechen. Freie Fahrt für das griechische Alphabet der kosmischen Strahlung: α, β, γ... Die quicklebendigen und quirligen Neutrinos polieren zusätzlich die sowie- so blankliegenden Nervenenden und verstärken die aggressive Nervosität ihres Eigentümers. Nun kann man aber nicht ewig mit dem Finger am Abzug seiner UZI durch die Gegend ren- nen; das ist nicht gut für die Gesundheit. Also werden der Hauptschalter im Gehirn umgelegt, die Jahreszahl zurückgedreht, das Millennium gewechselt, eine andere Jahreszeit geordert und eine Norwegenreise gebucht. Die so genannte Vorfreude fällt sehr verhalten aus. Jeder kennt diese logistischen Probleme bei solchen Unternehmungen. Sei es die Anzahl der mitzunehmenden Ober- oder Unterhosen, die wald- und kurvenreichen, mit Inselhopping verbundenen Anfahrtswege oder die Einfuhr- bestimmungen für prozentige Getränke, Spaghettis, oder Rooibos- Tee. Für viele, so für mich auch, ist die „Traumreise“ in der Nacht vor der „Tour in Echt“ eine Vorwegnahme der Sache selbst. Wenn nur der alte silberhochzeitsfarbene „Passat“ nicht schlapp macht. Außerdem steht man als Kraftfahrer immer unter Leistungsdruck – im Gegensatz zu den beifahrenden Kartenlesern oder Bananenschälern. Während die Beifahrer oder Beischläfer in der Nacht davor beim Einschlafen
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