Ernst Glaeser Der Letzte Zivilist

Ernst Glaeser Der Letzte Zivilist

Ernst Glaeser Der letzte Zivilist EIN SZENARIO www.autonomie-und-chaos.berlin Ernst Glaeser Der letzte Zivilist (1935) Diese neuausgabe nach der erstausgabe von 1935 enthält ein nachwort des herausgebers mondrian graf v. lüttichau (MvL) sowie biobibliografische materialien. INHALT Ernst Glaeser: Der letzte Zivilist Erstes Buch 3 Zweites Buch 127 MvL: Nachwort (2017) 255 Anhang 1: MvL: Ernst glaesers andere bücher 267 Anhang 2: Ernst Glaeser: Kriegsschauplatz 1928 281 Anhang 3: MvL: Literaturhinweise 297 Anhang 4: Kurt Tucholsky: Der liebe Gott in Kassel 299 Erweiterte Neuausgabe © 2017 Verlag Autonomie und Chaos Berlin ISBN 978-3-945980-17-0 Diese online-Veröffentlichung kann zum privaten Bedarf heruntergeladen werden. www.autonomie-und-chaos.berlin 2 ERSTES BUCH Ernst Glaeser Der letzte Zivilist (1935) Erstes Kapitel Es war drei Uhr nachmittags, als sich die Schulen auf dem Rathausplatz versammelten. In langen, geordneten Zügen, an der Spitze Pfeifer und Trommler, zogen sie über die Brücken des Tals nach der Innenstadt zu. Die Kinder sangen. Sie trugen Papierfähnchen in den Farben der Republik und des württembergischen Landes. Die Trommeln wirbelten, und es pfiffen die Pfeifen. Girlanden und Fahnen erhöhten das natürliche, bunte Spiel der Lüfte. Musik und Gesang und das Lachen der Jugend drangen in dichtem Zug den Hügel hinauf, vorbei an der Stadtkirche, vorüber an den Fassaden des Barocks, und blickte man von der Bastion aus, die den Hügel krönte, auf das Land, stand es in der reifen Pracht eines seltenen Sommers. In leichten Terrassen stiegen die Weinberge hoch. Karminrot schimmerte ihre Erde. Das ewige Band der vielfarbigen Äcker schlang sich über das Land. Fast unbeweglich unter der Last ihrer Früchte standen die Bäume. Über dem Fluß spielte das Licht in verliebter Bläue, und der Himmel war wolkenlos und ohne Ende. In die reifen Farben der Natur mischten sich die Fahnen. Sie flatterten von den Warttürmen an der Peripherie der Stadt. Sie wehten von den Pavillons auf den Höhen der Hügel. Sie glänzten an den Ufern des Flusses und vereinigten sich auf der Wiese, wo das weiße Rund des Stadions leuchtete, zu einem wehenden Wald. Über die Brücken waren bunte Transparente gespannt. Stafetten der Turner in hellen Trikots liefen durch die Straßen. Radfahrvereine, die Speichen der Räder mit farbigem Papier umwickelt, radelten in dichten Schwärmen aus den Dörfern, Lastwagen mit Wein, Bier, Würsten und frischem Brot rollten nach der Festwiese zu, dazwischen klangen die Musikkapellen der anrückenden Vereine, der Gesang der Kinder, der Zuruf der Bürger — die Stadt lebte in den fruchtbaren Farben ihrer süddeutschen Kraft, und das Fest, das sie beging, war der 2. August des Jahres 1927. Der Zug der Kinder hatte den Platz vor dem Rathaus erreicht. An der Spitze marschierten die Klassen des Gymnasiums, hundertzwanzig Knaben in weißen Trikots und blauen Kniehosen, exakt in der Ausrichtung, exakt in der Musik. Nach zwei kurzen Kommandos schwenkten die Reihen in eine Front, die starr und unbeweglich nach dem Rathaus zu stand. Der Direktor Holzapfel, begleitet von zwei Herren seines Kollegiums, musterte die Mauer der Knaben. "Rührt euch!" Die Knaben rührten, indem sie ein Bein vorstreckten. "Ein feiner Tag, erfrischend, das Windchen", sagte der Direktor Holzapfel zu seinen Kollegen. "Kaiserwetter nannte man das früher", lachte der Studienrat Voß. Holzapfel blinzelte in die Sonne, strich sich den Hambacher Bart und steckte sich eine Zigarre an. Immer mehr füllte sich der Platz. Das Lyzeum zog ein. Hell leuchteten die Kleider der Mädchen in der Sonne des August, als blühten sie. www.autonomie-und-chaos.berlin 4 Ernst Glaeser Der letzte Zivilist (1935) Es folgten die Klassen der fünf Volksschulen, an der Spitze ein Musikkorps mit Trommeln, Pfeifen, Trompeten und einer Pauke. Lange standen die Kinder. Von dem kleinen Turm des Rathauses schlug es vier Uhr, als plötzlich auf der oberen Bastion ein Trompetensignal erklang, dessen Echo aus dem Tal dreimal wiederkehrte. Die Lehrer sprangen vor die Züge. Trillerpfiffe und Händeklatschen geboten Ruhe. Kommandos richteten die Reihen. Auf dem Fell der Trommeln lagen die Schläger zum Wirbel bereit. Die Schmalseiten der Pfeifen waren an die Lippen gepresst — da krachten vom Tal her drei Böller, und über das Dach des Rathauses stieg die Fahne der Republik. Dumpf schlug die Pauke an, es rollten die Wirbel der Trommeln, es ertönten die Pfeifen, es schmetterten die Hörner, hoch über den Trupps flatterten die Fahnen. Unter den Klängen eines Marsches setzte sich der Zug in Bewegung. "Ich schieß' den Hirsch im wilden Forst...", eine bunte Schlange singender Kinder bog ein in die schattigen Straßen der Altstadt. Unten lag das Tal, blitzend im Licht. Über den Fluß fuhren bewimpelte Kähne. In den Weinbergen krachten die Böller, und über die Pracht des Landes schwebte, einer hellen Wolke gleich, der Gesang der Jugend. O Heimat, o Württemberg... dachte da, überwältigt von dem Antlitz der Natur und dem Rausch der Farben, der Direktor Holzapfel an der Spitze seiner Prima. Und während er die Augen schloß und die Reinheit der Luft sein Herz mit Süße erfüllte, sang er, eine verschämte Träne unter dem Lid, laut und dröhnend: "Und dennoch hab' ich harter Mann die Liebe auch gespürt …" Längst hatte der Festzug der Kinder das Tal erreicht, als durch das Portal des Rathauses, gefolgt von dem Magistrat und der Mehrzahl der Stadtverordneten, der Oberbürgermeister den Platz betrat. Prätorius stand still. Seine schweren, dunklen Augen blinzelten mühsam in die Sonne. Er atmete tief. Aber sein Gesicht blieb grau. "Dr. Kalahne," sagte er, "ist dafür gesorgt, daß die Straßen für die Durchfahrt frei sind?" Der Sekretär Dr. Kalahne, zur Linken des Oberbürgermeisters stehend, verbeugte sich: "Es ist dafür gesorgt, Herr Oberbürgermeister. Sobald der letzte Zug in das Stadion eingeschwenkt ist und dort Aufstellung bezogen hat, geht ein Böller los, zum Zeichen, daß die Durchfahrt frei ist." Der Oberbürgermeister schwieg. Welch eine Luft, dachte er. Welche Farben! Die Stadtverordneten nahmen in den Autobussen Platz. Nach Fraktionen geordnet saßen sie auf den Polstern. Hinter den Wagen stand eine halbe Hundertschaft berittener Polizei. Der Oberbürgermeister, ein Mann von fünfundfünfzig Jahren, Abkömmling einer reichen Hugenottenfamilie, seit zwanzig Jahren im Dienst dieser Stadt, württembergischer Demokrat, ein Freund Friedrich Naumanns, Hauptmann der Reserve, Doktor zweier Grade, zögerte, den Wagen zu besteigen. www.autonomie-und-chaos.berlin 5 Ernst Glaeser Der letzte Zivilist (1935) "Warten wir, bis der Böllerschuß kommt", sagte er zu Dr. Kalahne. Der Sekretär verbeugte sich. Prätorius ging ein paar Schritte nach rechts. Vor ihm lag das Grün des Rathausgartens. Prätorius ging durch das Tor. Blutbuchen und Silberpappeln bestanden den Rasen. Ein alter, längst verschütteter Ziehbrunnen aus rotem Sandstein, mit ungehobelten Brettern überdeckt, lag in der Mitte des Gartens. Buchs faßte die Wege ein. Steil fiel die Mauer ab, nach der Altstadt zu, achtzehn Meter. Prätorius sah auf das Tal. Er atmete tief. Er fühlte sich schlecht. Sollte er absagen? Streikte nicht das Herz? Aber dort warteten sie auf seine Rede, auf die Eröffnung des neuen Stadions. Seine Rede... Prätorius lachte laut auf. Er erschrak. "Schwindel", hatte er laut gesagt. Aber er war allein. Zehn eng beschriebene Bogen waren es, die der Oberbürgermeister als Rede für den Verfassungstag, der mit der Einweihung des neuen Stadions gekrönt werden sollte, ausgearbeitet hatte. Nicht viel und nicht wenig dünkte es Prätorius, als er seine Arbeit an jenem Abend überlas. Er war zufrieden mit sich gewesen. Die Sätze standen gut, in jenem etwas umständlichen Deutsch, das er liebte. Aber es war ihm geglückt, so glaubte er, für die Jugend, vor der er zu sprechen hatte, das Bild der Verfassung freizulegen, so daß sie als das erschien, was sie war: der würdige Ausdruck der bürgerlichen Freiheit. Prätorius wußte, wie es um diese Jugend stand. Er sah ihre Fremdheit, mit der sie in diesen Staat hineinwuchs, ihre instinktive Ablehnung dessen, was sich heute Politik nannte: diese Mischung aus Unentschlossenheit, Schacher und Feigheit. Und keiner sah deutlicher als er, was es für diesen Staat bedeutete, wenn er die Jugend verlöre. Eigentlich, auch ihm lag nicht mehr viel an diesem Staat. Vier Jahre Abgeordneter im Parlament, acht Jahre Oberbürgermeister, dieser Calvarienberg von Enttäuschungen hatte ihn geheilt. Aber er wußte, es stand mehr auf dem Spiel. Die Freiheit stand auf dem Spiel, die geistige und moralische Grundlage eines Jahrhunderts, der Traum von drei Generationen. Zerbrach dieses Fundament, dann zerbrach mit ihm eine Welt, und was nach ihr kam, war nicht mehr wert zu leben. Lange hatte er in seiner Bibliothek gesessen, in jener Nacht, und sich berauscht an den großen Vorkämpfern der Humanität. Und als er in seinem geliebten Heine diesen Satz aus der Reise nach England fand: "Wenn einst, was Gott verhüte, in der ganzen Welt die Freiheit verschwunden ist, so wird ein deutscher Träumer sie in seinen Träumen wieder entdecken", da hatte er ihn rasch als Motto vor seine Rede gesetzt als Trost vor dem Dunkel, das er herannahen spürte. Als er im Magistrat die Arbeit vorlegte — sie bedurfte der Billigung, weil er im Namen der Stadt sprach —, erhoben sich die ersten Bedenken. In höflichen Worten meldeten die Fraktionen ihre Ansprüche an. Das Zentrum verlangte einen Passus über die christliche Schule und Familie. Die Sozialdemokraten verlangten ein deutliches Bekenntnis zum Pazifismus und zur

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