43 Reinhard Müller Denunziation und Terror: Herbert Wehner im Moskauer Exil Da die Täterforschung in Rußland immer noch weitgehend tabuisiert ist, wurde bisher nur in wenigen Arbeiten die Denunziation als Herrschaftsmittel und Alltagsphänomen des Stalinismus analysiert.1 Zudem sind viele Bestände in den ehemaligen sowjetischen „Geheimarchiven" weiterhin als „Staatsgeheimnis" klassifiziert und der Forschung nicht zugänglich: .Angesichts verschlossener KGB-Archive läßt sich die Tragweite der Denunzia- tionswelle der 30er Jahre nur erahnen."2 Allenfalls als Desiderat konnte die Komintern- Forschung formulieren: „First, the organizational structures of the purge process: we still need to find out far more about the precise inter-relationship between, on the one hand, the various agencies within the Comintern apparatus itself, and on the other, these agen- cies and the NKVD and Stalin's secret chancellery."3 Diese hier noch vermutete, wechselseitige Beziehung zwischen Instanzen und Funktio- nären der Kommunistischen Internationale (im folgenden: Komintern) und dem NKVD konnte - mangels Archivzugang - weder in deutschen Veröffentlichungen4 noch in jüng- sten amerikanischen Publikationen5 näher beschrieben werden. So stützte sich William Chase in seinem jüngsten Band über die „Repressionen" in der Komintern6 ausschließlich auf Dokumente aus dem früheren Komintern-Archiv. Für die Rekonstruktion des stalini- stischen Terrors, für die Erforschung von Opfer- und Täterbiographien ist jedoch die Ein- sicht in Stalins Direktiven und Vernichtungsbefehle des NKVD ebenso notwendig wie die Kenntnis von archivalisch überlieferten NKVD-Strafakten, Denunziationen, Verhörproto- kollen und ,Agentur-Berichten", die „geheime Mitarbeiter" unter Decknamen in der Lub- janka ablieferten.7 1 Vladimir A. Kozlov, Fenomen donosa, in: Svobodnaja mysl' 1998, H.4, S. 100-112; ders., Denunciation and its functions in Soviet Governance: from the Archive of the Soviet Ministry of Internal Affairs, 1944-1953, in: Sheila Fitzpatrick (Hrsg.), Stalinism. New Directions, London 2000, S. 117-141; Sheila Fitzpatrick, Signals from Below: Soviet Letters of Denunciation of the 1930s, in: Accusatory Practices. De- nunciation in Modern European History 1789-1989, Chicago 1997, S. 85-120; François-Xavier Nérard, Cinq pour Cent de Vérité. La dénonciation dans l'URSS de Staline (1928-1941), Paris 2004. 2 Jörg Baberowski, Denunziation und Terror in der stalinistischen Sowjetunion, in: Friso Ross/Achim Landwehr (Hrsg.), Denunziation und Justiz. Historische Dimensionen eines sozialen Phänomens, Tü- bingen 2000, S. 190. 3 Kevin McDermott, Stalinist Terror in the Comintern: New Perspectives, in: Journal of Contemporary History, Vol. 30, 1995, S. 127 f. 4 Vgl. z.B. Carola Tischler, Flucht in die Verfolgung. Deutsche Emigranten im sowjetischen Exil, Münster 1996; dies., Die Rolle der KPD-Führung bei der Verhaftung ihrer Mitglieder, in: Klaus Kinner (Hrsg.), Moskau 1938. Szenarien des Großen Terrors, Leipzig 1999, S. 99-108. 5 William Chase, Enemies within the Gates? The Comintern and the Stalinist Repression 1934-1939, New Haven/London 2001. 6 Zur Kritik an Chase vgl. Fridrikh I. Firsov, Some Critical Notes on Recent Publications on Comintern and Soviet Politics, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, 2003, S. 269-276. 7 Dokumente aus dem NKVD/KGB-Archiv (jetzt: Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation) finden sich ebenfalls nicht bei J. Arch Getty/Oleg V. Naumov, The Road to the Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolsheviks, 1932-1939, New Haven/London 1999. 44 Reinhard Müller Die Denunziationen von geheimen Mitarbeitern des NKVD (seksoty) wurden zwar bei der Ausstellung von Verhaftungsbefehlen und während der „Untersuchung" herangezo- gen, durften jedoch nach einem eigenen NKVD-Befehl nicht in der jeweiligen Untersu- chungsakte abgelegt werden. Nur in wenigen Fällen wurde der NKVD-Untersuchungsakte von verhafteten deutschen Politemigranten die eigene Verpflichtungserklärung als „gehei- mer Mitarbeiter" in versiegelten Umschlägen beigefügt. Auch die Denunziationen von ge- heimen Mitarbeitern, die als „agenturnye donosy" registriert wurden, finden sich allen- falls als verschlossene „osobye papki" im Anhang der jeweiligen NKVD-Untersuchungs- akte. Jene Meldungen von NKVD-Informanten, die NKVD-Offiziere8 zu „Memoranden" zusammensetzten, durften in den jeweiligen Untersuchungsakten9 ebenfalls nicht aufbe- wahrt werden. Die Denunziationen, die von Politemigranten häufig bei der Komintern10 abgeliefert wurden, sind jedoch in den sogenannten Kaderakten überliefert. In diesen Meldungen an die Komintern wurden verdächtige „Beziehungen" zu bereits Stigmatisier- ten und Verhafteten, aber auch frühere politische Abweichungen jüngste Wohnungsbesu- che und lang zurückliegende Parteisünden rapportiert. Diese individuellen Denunziationen ergänzten in der „Kaderakte" parteiamtliche Uberprüfungen und die Autobiographien11 der KPD-Mitglieder, die unter dem Vorzeichen der „Selbstkritik" alle ideologischen Schwankungen selbst anzeigten. Solche Denunziationen an die Kaderabteilung des EKKI konnten zu Untersuchungsverfahren der Internationalen Kontrollkommission der Kom- intern, zu Vernehmungen der „Kleinen Kommission" der KPD und zum Parteiausschluß führen. Als kurz gefaßte Auskunft (spravka) wurden diese Meldungen auch in mehrere Listen über „schädliche Elemente" und „Trotzkisten" transformiert, die der jeweilige Leiter der Kaderabteilung des Exekutivkomitees der Komintern an die 3. Abteilung des NKVD übersandte. Diese permanente Kooperation von Komintern-Instanzen und NKVD-Terror- apparat12 war bereits den NKVD-Häftlingen bewußt, die während der Verhöre mit Berich- 8 Zum Führungspersonal des NKVD vgl. Niki ta Ochotin/K V. Skorkin, Kto rukovodil NKVD 1934-1941, spravocnik, Moskau 1999. 9 Angesichts der 1937/38 im NKVD-Zentralarchiv herrschenden chaotischen Zustände, die in einem eigenen NKVD-Befehl beschrieben und kritisiert wurden, überrascht es kaum, daß diese Geheimhal- tungs- und Ablagevorschrift nicht durchgehend praktiziert wurde. So findet sich z.B. über Maria Osten ein ausführliches „Memorandum", das zahlreiche Meldungen von mehreren „seksoty" (Abonnent, Ru- dolph, Marietta, Kren, Wladimirski u.a.) enthält. Vgl. auch Maria Ostens NKVD-Verhörprotokolle, Ankla- geschrift, in: Vladimir Koljazin/V. A. Goncarov (Hrsg.), „Vernite mne svobudu!": dejateli literatury i iskusstva Rossii i Germanii - zertvy stalinskogo terrora. Memorial'nyj sbornik dokumentov iz archivov byvsego KGB, Moskau 1997, S. 286-302. 10 Auch im Moskauer „Komintern-Archiv" des Russischen Staatsarchivs für Sozialpolitische Geschichte (im folgenden: RGASPI) sind die Bestände der Kaderabteilung und die Akten der Internationalen Kon- trollkommission nicht mehr oder noch nicht zugänglich. In den jeweiligen Kaderakten finden sich je- doch personenbezogene Materialien dieser Komintern-Instanzen wie auch der Briefwechsel zwischen der Kaderabteilung und NKVD-Offizieren. Vgl. z.B. Reinhard Müller, Die Akte Wehner. Moskau 1937-1941, Berlin, S.318f. 11 Vgl. Reinhard Müller, Flucht ohne Ausweg. Lebensläufe aus den geheimen Kaderakten der Kommu- nistischen Internationale, in: Exil, Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse, Jg. 10, 1990, H. 2, S. 76-95; ders., Linie und Häresie. Lebensläufe aus den Kaderakten der Komintern, in: Exil, Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse, Jg. 11, 1991, H. 1, S. 46-69. 12 Zu dieser Zusammenarbeit der Komintern mit dem Terrorapparat des NKVD vgl. Fridrikh I. Firsov, The Comintern and Stalin's Terror, in: Elana Dundovich (Hrsg.), Reflections on the Gulag, with a docu- mentary appendix on the Italian victims of repression in the USSR, Mailand 2003 (Fondazione Giangia- Denunziation und Terror 45 ten und Denunziationen konfrontiert wurden, die nur aus diesem Akten- und Informa- tionstransfer13 stammen konnten. Margarete Buber-Neumann, die 1936/37 selbst die Säu- berungsrituale der „Uberführungskommission" der KPD durchlief4 und am 20.Juni 1938 verhaftet wurde, beschrieb die vorgängige Selektionsarbeit, die von den verschiedenen In- stanzen und Kommissionen der Komintern für das NKVD geleistet wurde: „Im Jahre 1936 leistete sie [die Komintern, R.M.] gewissermaßen Vorarbeit für das NKVD: das gewünschte Anklagematerial gegen einen Angeklagten war bereits während der Parteireinigung zu- sammengetragen worden, lag also fix und fertig vor."15 Auch Christine Kjossewa, Ehefrau von Willy Kerff und Lebensgefährtin Hans Kippenbergers, benannte in ihren erst 1990 veröffentlichten Erinnerungen die Kooperation zwischen den Komintern-Instanzen und dem NKVD. In der Lubjanka habe sich ihr NKVD-Untersuchungsführer geäußert: „Wir haben alle Dokumente der Komintern über Sie."16 Im internen Amtsjargon der Komin- ternfunktionäre wurde das NKVD wenig konspirativ als „betreffende Stelle" oder schlicht- weg als „Nachbarn" bezeichnet. Zu Herbert Wehners Tätigkeit als Mitarbeiter des Exekutivkomitees der Kommunisti- schen Internationale17 und als Informant für das NKVD konnten erst im Verlauf von län- geren Recherchen zum stalinistischen Terror im Jahr 1937 in Moskauer und Berliner Ar- chiven neue Dokumente18 erschlossen werden. Wehners Vor- und Zuarbeit für einen an alle Dienststellen verschickten NKVD-Direktivbrief zur Verfolgung „deutscher Trotzki- sten"19 und seine publizistischen Vernichtungsfeldzüge gegen linke „Splittergruppen", die, wie z.B. Willy Brandts SAP, als „trotzkistische Gestapo-Agenten" etikettiert wurden, las- sen sich erst mit diesen neu erschlossenen Dokumenten genauer
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