Zeitung der Berliner Sozialdemokratie | Nr. 7 · 2019 | 69. Jahrgang THEMA 30 JAHRE MAUERFALL BEGEGNUNG BERÜHMTHEIT BERLIN Zwei Generationen sprechen Klavierbauer Michael Masur Eine geteilte Stadt findet über 30 Jahre Mauerfall erzählt über seinen Vater Kurt wieder zusammen E D I T O R I A L 2 BERLINER STIMME Text Michael Müller Foto Senatskanzlei Berlin Die lang ersehnte Freiheit Die Tage im November 1989 werde ich Menschen in den so genannten Neuen nie vergessen. Ich war damals frisch Bundesländern ein sehr schmerzhafter gewählter Bezirksverordneter in Prozess. Viele verloren ihre Arbeit, Tempelhof. Die ganze Familie saß vor Betriebe wurden geschlossen, einige dem Fernseher und staunte über die Berufe gab es plötzlich nicht mehr. Geschehnisse und ihre Dynamik. Es ging alles schnell, an mancher Stelle auch zu schnell. Entschlossen hatten die Menschen in Ost-Berlin und der DDR demonstriert Trotz aller Maßnahmen zur Angleichung und gerufen: „Wir sind das Volk!“ und der Lebensverhältnisse dauert der Prozess „Die Mauer muss weg!“. Wir im Westen des Zusammenwachsens noch an. bewunderten diesen Mut und hofften Wir müssen gemeinsam die besten inständig, dass es kein Eingreifen der Lösungen finden und dazu mehr und DDR-Sicherheitskräfte geben würde. wertschätzend aufeinander zugehen. Und dann war es soweit – die berühmte Ankündigung von Günter Schabowski! Besonders jetzt, im Gedenken an die Gemeinsam mit Freunden fuhren wir Toten und die Opfer der Mauer, werden zum Brandenburger Tor und feierten mit wir daran erinnert, wie wertvoll Freiheit, wildfremden Menschen. Wir konnten es Demokratie und Rechtsstaat sind. nicht glauben, dass dieses stets sichtbare Und wie wichtig es ist, sich stets dafür Symbol der Teilung zwischen Ost und einzusetzen. West nun von den Mauerspechten zerhämmert wurde. Euer Der 9. November 1989 brachte die lang ersehnte Freiheit – hervorgegangen aus einer friedlichen Revolution, getragen von einem unbeschreiblich kraftvollen Gemeinschaftsgefühl der Menschen. E D Plötzlich standen alle Türen offen, I T gleichzeitig änderten sich Lebenswege. O Träume mussten neu geträumt werden. R I Die Umwandlung der Planwirtschaft A in eine Marktwirtschaft war für viele L BERLINER STIMME 3 TITEL 30 JAHRE MAUERFALL 02 EDITORIAL 06 INTERVIEW Die lang ersehnte Freiheit „Ich hätte auch das Telefonbuch Text Michael Müller vorlesen könne.“ Foto Carolin Weinkopf Fragen Sebastian Thomas Fotos Tobias von dem Berge Das vollständige Interview mit Walter Momper, Svenja-Marie Linnemann und Nicolai Rehberg ist unter https://spd.berlin/magazin/berliner- stimme/interview-mauerfall/ nachzulesen. 12 PERSÖNICH 14 BERLIN Vom Traum, einfach in den „Es war die Stunde der Macher“ Westen zu fahren Text Ditmar Staffelt Text Elske Hildebrandt Fotos SBM/Edmund Kasperski · Fotos Privat Tobias von dem Berge · Paul Glaser 20 PORTRAIT 22 STEINSTÜCKEN „Michael, das geht schneller auf ein Bier mit den Grenzern als du denkst“ Text Klaus Uwe Benneter Text & Foto Sebastian Thomas Fotos Privat · SBM/Edmund Kasperski · CMSgt. Don Sutherland I N H A L T 4 BERLINER STIMME AUS DEM LANDESVERBAND Berliner Stimmen 24 TAG DES MAUERFALLS Wie hast du den 9. November 1989 erlebt? Zitate Christine Bergmann · Frank-Axel Dietrich · Dr. Franziska Giffey · Burkhard Zimmermann Fotos Tobias von dem Berge VERMISCHTES Geschichte & Kultur 26 UNGARN VOR 30 JAHREN 30 BUCHREZENSION Der Plattensee – Jana Hensel: Wie alles anders bleibt – damals und heute Geschichten aus Ostdeutschland“ Text & Fotos Alexander Kulpok Text Felix Bethmann IMPRESSUM Berliner Stimme Zeitung der Berliner Sozialdemokratie Mitarbeit an dieser Ausgabe Herausgeber Felix Bethmann, Klaus Uwe Benneter, SPD Landesverband Berlin, Elske Hildebrandt, Alexander Kulpok, Landesgeschäftsführerin Anett Seltz (V.i.S.d.P.), Müllerstraße 163, 13353 Berlin, Ditmar Staffelt Telefon: 030.4692-222 Grafik E-Mail: [email protected] Hans Kegel & Nico Roicke Webadresse: www.spd.berlin Titelbild Ulrich Horb I Redaktion N Abonnement 29,– Euro pro Jahr im Postvertrieb Sebastian Thomas H Abo-Service A Telefon: 030.4692-150 Telefon: 030.4692-144, L E-Mail: [email protected] Fax: 030.4692-118, [email protected] T BERLINER STIMME 5 „Ich hätte auch das Telefonbuch vorlesen können“ Es ist ein Treffen der Generationen: Walter Momper – von 1989 bis 1991 Regierender Bürgermeister von Berlin. In seine Amtszeit fällt die Nacht des 9. Novembers 1989. Svenja-Marie Linnemann – im Februar 1989 im Wedding geboren. I N Ihre durch die Mauer getrennte Familie ist über Nacht wieder vereint. T E Nicolai Rehberg – ebenfalls 1989 geboren, jedoch in Schleswig-Holstein. R V Seit sechseinhalb Jahren wohnt er in Neukölln. I E W 6 BERLINER STIMME Fragen Sebastian Thomas Fotos Tobias von dem Berge Walter, du bist am 16. März 1989 zum Ich bin im Wedding zur Welt gekommen, Regierenden Bürgermeister gewählt wohne auch noch dort und zwar an der worden. Deutete da schon etwas auf Osloer Straße. Das ist die Ecke im Wedding, den acht Monate später stattfindenden die zum Prenzlauer Berg zugeht. Meine Mauerfall hin? Großeltern haben damals im Soldiener Die Situation im Osten spielte noch nicht Kiez – in der Freienwalder Straße – so eine große Rolle. Da bewegte sich nicht gelebt. Unser Schrebergarten, den es viel. Es war klar, dass die SED einen Partei- heute immer noch gibt, ist direkt an tag machen wollte, um ihre Führung ab- der Bösebrücke. Meine Großeltern haben zulösen. Richtig los ging es im Mai, als die Ereignisse am Abend des 9. November, Ungarn entschied keine DDR-Flüchtlinge also wie die Menschen auf die Böse- mehr an der Grenze aufzuhalten und brücke gefahren sind, direkt miterlebt. sie auch nicht mehr in die DDR zurück- Meine Mutti selbst nicht, weil sie mich zubringen. An diesem Punkt war klar, dass gerade zu diesem Zeitpunkt gestillt hat. es einen Wandel geben wird. Danach Sie wurde dann von einer Freundin veränderte sich auch die DDR ziemlich angerufen. Sie fragte meine Mutti, ob schnell. Angefangen bei den Montags- sie schon gehört hat, dass die Mauer demonstrationen in Leipzig. Danach gefallen ist? folgte auch die allgemeine Bewegung. An erster Stelle, dass die Menschen aus Wie wirkte sich die Trennung durch der DDR ausreisen wollten. Zweitens, die Mauer auf deine Familie aus? dass die Bürgerin- Für meine Familie war der 9. November nen und Bürger sehr emotional, denn mein Opa mütter- Vereine gründeten, licherseits war durch die Mauer von LINKS Walter Momper (l.) wie das Neue Forum. seinen Geschwistern und seinen Eltern Svenja-Marie Ab August reisten getrennt. Sie haben damals in der Linnemann (r.), auch jeden Tag Kremmener Straße nahe des Mauer- Nicolai Rehberg (m.) 2.000 bis 3.000 parks gewohnt, also in unmittelbarer Menschen aus der Nähe zur Bernauer Straße. Das war DDR über Budapest, damals Sperrgebiet. Meine Mutti war Prag und Warschau nach Westen aus. knapp 10 Jahre alt, als die Mauer gebaut Ab diesem Zeitpunkt haben wir uns ge- wurde. Als ich geboren wurde war sie sagt: Bald gibt es auch einen Sturm über Ende 30. In der Zwischenzeit musste die Mauer, weil die DDR-Flüchtlinge meine Familie getrennt leben. Was das natürlich nicht die ganze Zeit den weiten emotional bedeutet, konnte ich nur Weg über Prag und Budapest wählen durch die Geschichten meiner Eltern I werden, wenn es gleich nebenan in und Verwandten nachvollziehen. N Ost-Berlin einen Grenzübergang gibt. Meine Großtante erzählt mir heute T E noch, wie sie an ihrem Küchenfenster R Svenja, wo in Berlin bist du geboren? auf der anderen Seite der Mauer saß, V I Wo waren deine Eltern und was haben um einmal in der Woche ihrem Bruder E sie gemacht, als die Mauer fiel? auf West-Berliner Seite zuzuwinken. W 7 Nicolai, was erzählen dir deine Eltern heute noch vom Mauerfall? Wie wurde das Ereignis im fernen Schleswig- Holstein aufgenommen? Der Mauerfall war für uns schon irgend- wie weit weg, doch wir hatten Verwandt- schaft in Güstrow. Mit diesem Teil meiner Familie hatten meine Eltern auch einen relativ engen Kontakt. Ich selbst bin am 15. November geboren worden. Meine Mutter lag zur Zeit des Mauerfalls hochschwanger zu Hause und hatte im TV gesehen, wie die Leute auf der Mauer getanzt haben. Sie hat sofort angefangen zu weinen. Der 9. November war für meine Eltern ein unheimlich glücklicher Moment. „Die friedliche Einheit ist das größte Geschenk.“ Walter, du warst auf die neue Reise- regelung der DDR-Regierung vorbereitet. Wie kam es dazu? Am 29. Oktober 1989 waren wir bei West-Berlin. Für unsere internen Pla- Günter Schabowski. Er war Mitglied nungen sind wir jedoch von einer halben des Zentralkomitees und in der neuen Million ausgegangen. Das größte Pro- DDR-Führung die Nummer zwei nach blem war, wie wir die Leute transportie- Egon Krenz. Das Gespräch ging haupt- ren. Die Verantwortlichen der BVG sächlich über die Verhältnisse in der DDR. sagten, sie würden einfach den Fahrplan Ganz am Ende sagte Günter Schabowski nach dem Smog-Alarm fahren. Dieser Fall beiläufig, dass die Führung plant Reise- war erstmals im Februar 1987 eingetreten. freiheit zu gewähren. Da habe ich nach- Da durften Autos ohne Katalysator gar gefragt, wie er das meint. Er antwortete, nicht fahren, also praktisch keiner. dass jeder, der ausreisen möchte, auch Als nächstes planten wir zusammen mit in den Westen reisen und wieder zurück- der Berliner Morgenpost eine Sonder- kehren kann. Mir drängte sich der beilage – mit Stadtplan, Netzspinne der Gedanke auf, dass er sich überhaupt gar BVG, Notfallnummern und all sowas. nicht überlegt hatte, was das bedeutet. Das nächste Problem waren die 100 West- Mark Begrüßungsgeld. Gerechnet auf Was ist nach dem Treffen passiert? 500.000 Menschen brauchten wir eine Wir haben offiziell in einer Pressemit- ganze Menge Geld. Da haben wir zuerst I N teilung über das Treffen berichtet und mit dem Bankenverband gesprochen, der T geschrieben, dass die DDR ihr Reise- uns im Falle einer neuen Reiseregelung E R recht liberalisieren möchte und wir zusagte, auch sonnabends und am Sonn- V mit 300.000 Besuchern rechnen. tag zu öffnen. Auch die Post, Behörden I E Genau diese Anzahl von Menschen und landeseigenen Betriebe konnte ich W kamen immer an Brückentagen nach überzeugen, Zahlstellen einzurichten.
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