Der Newsgroup-Beitrag – Eine Kommunikative Gattung?

Der Newsgroup-Beitrag – Eine Kommunikative Gattung?

Timo Gausling Der Newsgroup-Beitrag – eine kommunikative Gattung? SASI Heft 4, Januar 2005 Inhalt 1 EINLEITUNG 1 2 DAS USENET ALS ASYNCHRONE, INTERAKTIVE KOMMUNI- KATIONSPLATTFORM: EINE EINFÜHRUNG 3 2.1 Wie läuft die Kommunikation in Newsgroups ab? 4 2.2 Grundlagen der Usenet-Kommunikation 7 2.2.1 Die Gruppenhierarchie und ihre Struktur 12 2.2.2 Die technisch-formalen Merkmale des News-Beitrages 16 2.2.3 Newsgroups: Charta, FAQs, Moderation und Killfile 19 2.3 Das Usenet in Abgrenzung zu verwandten netzbasierten Medien 23 2.3.1 E-Mail und Mailinglisten 23 2.3.2 Internet Relay Chat (IRC) 24 2.3.3 Foren auf Websites 24 2.4 Der Zugang zur Welt der Newsgroups 25 2.4.1 Der Newsreader 25 2.4.2 Der Online-Zugriff und das Usenet-Archiv 26 3 METHODISCHES VORGEHEN UND DATENMATERIAL 27 3.1 Das Konzept kommunikativer Gattungen als theoretischer Rahmen für die vorliegende Analyse 27 3.1.1 Die drei analytischen Ebenen des Gattungskonzeptes 29 3.1.2 Zur Durchführung der Untersuchung 31 3.2 Das Usenet als Gegenstand linguistischer Forschung 32 3.3 Die untersuchten Newsgroups 35 3.3.1 de.etc.sprache.deutsch 35 3.3.2 de.talk.jugend 36 4 DIE AUßENSTRUKTUR DES USENETS 38 4.1 Net and Netizens: Das Medium und sein kommunikatives Milieu 39 4.2 Die kommunikative Funktion von Newsgroups 44 4.2.1 Newsgroups als Diskussionsplattformen 45 4.2.2 Das Usenet als allgemeiner Antwortgeber und Support-Instrument der IT-Branche 45 4.2.3 Die Newsgroup als interaktives Unterhaltungsmedium 46 i 5 ZUR INTERAKTIONSEBENE DER KOMMUNIKATION IN NEWSGROUPS 48 5.1 Der räumliche und zeitliche Kontext der Interaktion und der Status der Teilnehmenden 48 5.1.1 Die Asynchronität und ihre Konsequenzen 49 5.1.2 Die Newsgroup als sozialer Raum: zur Teilnehmerkonstellation im Usenet 51 5.1.3 Format und Funktion von Signaturen 53 5.2 Der Thread als interaktiver dialogischer Prozess 57 5.2.1 Begrüßung und Verabschiedung 57 5.2.2 Bezugnahme, Zitat und Organisation des Dialogs 60 5.2.3 ROT13 und Spoiler: der virtuelle Sichtschutz 64 5.2.4 Korrekturen 68 5.2.5 Unterschiede zwischen de.etc.sprache.deutsch und de.talk.jugend 70 5.3 Beitragstypen und Präferenzstrukturen 71 5.4 Normalität und Norm 75 5.4.1 Metakommunikation im Usenet 75 5.4.2 Regelverstöße und Sanktionierungspraktiken 79 6 DER NEWS-BEITRAG UND SEINE BINNENSTRUKTUR 85 6.1 Medial motivierte formale Gestaltungsmerkmale 85 6.1.1 Authentizität durch „Realnamen“ (RFC-1036) 85 6.1.2 Das Erscheinungsbild des Textkörpers: Format, Zeilenumbruch und Codierung 87 6.2 Stilistische Regeln und Besonderheiten 91 6.2.1 Netiquette im Usenet 92 6.2.2 Der Kode: Sprachvarietät und Register 94 6.3 Die Kompensation nonverbaler und auditiver Qualitäten 96 6.3.1 Emoticons und ASCII-Art 97 6.3.2 Asteriske und andere Ersatzformatierungen 102 6.3.3 Lautmalereien und Lachen 104 6.3.4 Alternative Formen der Markierung von Ironie, Sarkasmus und persönlicher Stimmung 107 6.4 Lexiko-semantische, morphologische und syntaktische Phänomene 109 6.4.1 Abbreviationen und Kontraktionen 109 6.4.2 Akronyme 110 6.4.3 Phonologische Ideogramme 114 6.4.4 Entlehnungen aus Programmiersprachen, Anwendungsprogrammen und UNIX 115 6.4.5 Inflektivkonstruktionen 118 7 DIE GATTUNG ‚NEWSGROUP-BEITRAG’: SCHLUSSÜBERLEGUNGEN UND AUSBLICK 122 8 LITERATUR 128 ii 1 Einleitung Analog zur fortschreitenden Integration der so genannten „neuen Medien“ in die alltäglichen Kommunikationsgewohnheiten der meisten Menschen rücken diese auch zunehmend in den Fokus verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen. Auch in der Linguistik nimmt die Zahl der Publikationen zu den Themen Chat, E-Mail, SMS und Hypertext von Jahr zu Jahr in kaum überschaubarer Weise zu. Auffallend ist vor diesem Hintergrund, dass der Welt der Newsgroups – dem Usenet – bislang vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt wurde, obwohl es mit seiner über zwanzigjährigen Tradition eine der ältesten und komplexesten netzbasierten Kommunikationsformen ist. Ein Grund für diese Zurückhaltung kann darin gesehen werden, dass der Nutzung des Mediums technische Hürden im Wege stehen, deren Überwindung meist profunde Kenntnisse im Umgang mit Computern erfordert, über die ein Großteil der Internetnutzer nicht verfügt. Diese Tatsache zeichnet vermutlich dafür verantwortlich, dass der Zustrom neuer Teilnehmer sowie die proportional zu ihm wachsende personelle und strukturelle Fluktuation in Newsgroups zumeist auf ein Minimum begrenzt war, wodurch das Usenet bis zum heutigen Tag tendenziell ein Medium der technisch versierten Minderheit geblieben ist. Zahlreiche Gruppen bilden daher – verglichen mit anderen Diensten im Netz – einen auffallend homogenen Interaktionsraum, in dem sich ohne nennenswerte externe Einflüsse ein in Teilen einzigartiges, hochgradig ausdifferenziertes Kommunikationssystem etablieren konnte, das ein auch für die Linguistik relevantes, interdisziplinäres Forschungsfeld abgibt. Ausgehend von dieser Beobachtung stellt die vorliegende Arbeit den Versuch dar, einen möglichst umfassenden Überblick über die vielfältigen interaktionalen und sprachlichen Phänomene des Usenets und die für deren Entwicklung verantwortlichen technischen und strukturellen Rahmenbedingungen zu geben. Denn auch im Falle der Newsgroup-Kommunikation eröffnet der neue, mediale Interaktionsraum seinen Teilnehmern im Sinne Hollys (1996) einerseits neue kommunikative Spielräume, die einer kreativen Erschließung und Ausgestaltung bedürfen, bringt andererseits aber auch elementare neue Restriktionen mit sich, etwa in Form von nicht vorhandenen, gewohnten Kommunikationskanälen. 1 Indem die Nutzer sich den medialen Einschränkungen unterwerfen und gemeinsam spezifische Strategien zu deren Kompensation hervorbringen, aber auch die hinzugewonnenen technischen Möglichkeiten entsprechend ihren kollektiven kom- munikativen Bedürfnissen gewinnbringend nutzbar machen, bringen sie eine neue, vitale Interaktionsform mit eigenständigem Profil hervor, deren effiziente Nutzung ein umfangreiches Wissen um ihre Besonderheiten voraussetzt. Da die im Rahmen dieses Entwicklungsprozesses hervortretenden sprachlichen Auffälligkeiten der Usenet-Kommunikation nur vor dem Hintergrund der für ihre Genese verantwortlichen außersprachlichen Faktoren sinnvoll beschrieben werden können, bietet sich das auf Luckmann (1986/88) zurückgehende, von Günthner und Knoblauch (1994) modifizierte und für die Untersuchung linguistischer Phänomene erweiterte Konzept kommunikativer Gattungen als theoretischer Rahmen für eine Analyse an. So werden in die Untersuchung des deutschsprachigen Newsgroup- Artikels als kommunikative Gattung neben sprachlichen Aspekten sowohl die soziokulturelle Situierung des Mediums und seiner Nutzer, als auch die Usenet- spezifischen interaktionsorganisierenden Strukturen einbezogen. Die hiermit sicher- gestellte Berücksichtigung eines breiten Spektrums relevanter Faktoren lässt eine fundierte Aussage in Bezug auf die Verbindlichkeit und den Institutionalisierungsgrad der untersuchten Phänomene zu. Das für die systematische Gattungsanalyse erforderliche empirische Datenmaterial in Form von Usenet-Beiträgen wurde zwei ausgewählten, sich hinsichtlich ihrer Thematik und ihres Nutzerkreises deutlich voneinander abhebenden Newsgroups des deutschsprachigen Usenets (de.-Hierarchie) entnommen. 2 2 Das Usenet als asynchrone, interaktive Kom- munikationsplattform: eine Einführung Da das Usenet den meisten Internetnutzern weitgehend unbekannt ist, soll das vorliegende Kapitel zunächst eine grobe Vorstellung vom Medium und den Besonderheiten seines Gebrauchs vermitteln. Dabei wird bewusst in Kauf genommen, dass einige Aspekte der hier dargestellten Phänomene auch in den Gegenstandsbereich der gattungstheoretischen Detailanalyse fallen. Dies hat zur Folge, dass dort gelegentlich auf Teile dieses Kapitels zurückverwiesen werden muss, um Redundanzen zu vermeiden. Angesichts der technischen und strukturellen Komplexität des Mediums ist eine geschlossene, einführende Überblicksdarstellung für das Verständnis der anschließenden linguistischen Analyse m.E. jedoch unabdingbar. Stark vereinfacht lässt sich das oberflächliche Erscheinungsbild des heutigen Usenets1 (= USEr NETwork) als eine Art Hybridkonstruktion aus zentralen Strukturelementen der Medien Chat und E-Mail beschreiben. So stellt eine Newsgroup, genau wie ein üblicher Internet Relay Chat (IRC), eine öffentliche Plattform dar, deren durch aktive Teilnehmer eingebrachte Textinhalte prinzipiell jedem interessierten Internetnutzer ohne Zugangsbeschränkung zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite baut das Usenet insofern weitgehend auf dem geläufigen E-Mail-System auf, als es einerseits zu großen Teilen auf den gleichen technischen Standards basiert und andererseits ein Newsgroup-Beitrag einer typischen E-Mail hinsichtlich Erscheinungsbild und Aufbau sehr ähnlich ist. (vgl. Horton/Adams 1987: 1f) Trotz der genannten Überschneidungen stellt das Usenet ein eigenständiges netzbasiertes Medium mit einer langen, von der Entwicklung des Internets weitgehend unabhängigen Entwicklungsgeschichte dar. Ein detaillierter Überblick über Funktion und Aufbau, auch in Abgrenzung zu verwandten Kommunikationsformen, soll dies im Folgenden erläutern. 1 Das Usenet wird häufig auch „Netnews“ genannt. Beide Begriffe werden heute überwiegend synonym verwendet. 3 2.1 Wie läuft die Kommunikation in Newsgroups ab? Das Usenet stellt in seiner heutigen Form ein frei zugängliches, nach thematischen Gesichtspunkten strukturiertes Kommunikationsnetzwerk zum Austausch von Informationen und Diskussionsbeiträgen via Computer dar. Jeder Nutzer hat die Möglichkeit,

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