Geographica Helvetica 1987 - Nr. 1 Rene Hantke Zur Talgeschichte zwischen Domodossola und Locarno: Valle d'Ossola, Val Vigezzo (Prov. di Novara) - Centovalli (Kt. Tessin) 1. Teil* 1. Problemstellung bleme bei solchen Zuordnungen hingewiesen. Dies trifft besonders für die höchsten Geländeformen Das talgeschichtlich untersuchte Gebiet umfaßt die zu, die als «breite Rücken» im NW zur V dell' Valle d'Ossola mit dem zum Lago Maggiore entwäs¬ Isorno, im NE zur V Onsernone, im SE und im E sernden Toce und seinen Quellästen: Devero, Dive- zum Lago Maggiore hinüberleiten und dem Pet- dro, Bogna, Ovesca und Isorno, sowie die von Do¬ tanetto-System zugeordnet wurden. Sie wären von modossola gegen E sich öffnende Talung: die V. Vi¬ der «rückschreitenden Erosion» noch nicht erfaßt gezzo mit dem Melezzo occidentale und, jenseits worden; doch bekunden die runden Gipfel- und der Wasserscheide bei Druogno (831m), dem M. Gratformen eher die Obergrenze der Eisüberprä¬ Orientale. Nach weiteren 12 km durchfließt dieser, gung. Effekte «rückschreitender Erosion» sind - E der Landesgrenze als Melezza, die Centovalli, vorab an Sonnenhängen - auf subglaziäre Schmelz¬ nimmt aus der V. Onsernone den östlichen Isorno wässer zurückzuführen. Die höheren Gebiete ha¬ auf und vereinigt sich im PedemonteWNWvon Lo¬ ben nicht aper über die Talgletscher emporgeragt; carno mit der Maggia, die sich nach 5 km in den sie waren von Eiskalotten bedeckt, von denen schat¬ Lago Maggiore ergießt. tenhalb kleine Gletscher abstiegen, die noch Zu¬ Centovalli und V Vigezzo zeichnen sich durch hohe schüsse lieferten; nur steile S-Lagen aperten aus. Niederschläge aus: Camedo 220 cm/a mit zuweilen, Auch tiefere Verflachungen sind nicht als «alte Tal¬ so in den letzten Jahrzehnten, katastrophalen Un¬ bodenreste» zu deuten; sie bekunden Felsrelikte, wettern. Die Bemerkung geissbühlers (1967: 16), die sich bei bestimmten Eisständen gebildet haben wonach Hochwasser in den Centovalli kaum verhee¬ und bei höheren, präwürmzeitlichen, zu Rundhök- rende Formen annehmen, ist am 7. August 1978 mit kern überprägt wurden. Dabei können alte, donau- 31,3 cm Niederschlag in Camedo und 40-50 cm in und günzzeitliche oder gar pliozäne Stände weit den Verwüstungszentren zwischen Malesco und Re hinauf gereicht haben, um so mehr als sich seit dem (bertamini 1978, ammann 1980) widerlegt worden. Pliozän Hebungen von einigen hundert Metern ab¬ Dabei ist nicht nur Holz um Malesco und Re ins zeichnen und sich mit der Bohrung von Villadossola Staubecken von Palagnedra geflößt, dieses ist gar bestätigen. mit Geschiebe und Schlamm gefüllt worden. Da bei Daß in plio- und pleistozänen Warmzeiten auf den Malesco der Ponte Romano zerstört wurde, war es breiten Hochlagen viel abgetragen worden ist, das verheerendste Unwetter seit Menschengeden¬ scheint wenig wahrscheinlich. Das Gebiet war - mit ken. Ausnahme der vegetationsfeindlichen ultrabasi¬ Die Vorstellung, wonach sich nach mehrphasigen schen Gesteine des Gridone und um Finero - dicht En-bloc-Hebungen in den Tälern Reste ehemaliger bewaldet, was Frosteinwirkung und Erosion stark Talböden erhalten hätten, die höhenmäßig und zeit¬ einschränkte. lich fixierten Systemen - Pettanetto-, Bedretto- und In der Val d'Efra, Verzasca, fand ewenk (sehr. Sobrio-System - zuzuordnen wären (lautensach Mitt.) in einem Bachbett einer aufgelassenen Alp, 1912), hat auf der Alpen-S-Seite stets Verfechter ge¬ 700 m unter dem metamorphen Mesozoikum der funden (annaheim 1935a, b, gygax 1934 und ihre Cima-LungaPincascia(Castione-)Serie, die in den Schüler). In jüngerer Zeit wurden seiffert(1953), Gneiß eingemeißelte Jahrzahl 1882 noch gut lesbar. canale (1957) und geissbühler - trotz gerbers Die Usur von 1 bis maximal 1,5 cm kommt einer (1956, 1960, 1986) Versuchen, diese Vorstellungen Jahresrate von 0,10,15 mm gleich. Da Raten in zu widerlegen - zwischen Geländebefunden und Bachbetten nicht auf den ganzen Hang übertragen Lehrmeinung hin- und hergerissen. Immerhin hat werden dürfen, hat der Abtrag der Gneiße weit geissbühler in der V. Vigezzo-Centovalli auf Pro¬ mehr als 5-7 M a erfordert. * 2. Teil erscheint voraussichtlich in Geographica Helvetica Prof. Dr. Rene Hantke, Geolog. Institut der ETH und Univ. Nr. 4/87 Zürich, Sonneggstr. 5, CH-8092 Zürich 15 Für den Abtrag ganzer Gesteinspakete kann daher die V Vigezzo und im Grenzkamm zurV Vergeletto nicht nur die stets linienhaft wirkende Erosion her¬ fallen Schieferungsflächen der Gneiße und zwi¬ angezogen werden. Flächenhafter Abtrag, Denuda¬ schenlagernder Amphibolite immer steiler ein; in tion, erfolgt durch den längs tektonisch vorgezeich¬ der Kette gegen die V. Maggia bilden sie eine Syn- neten Klüften wirkenden Spaltenfrost. Sind aber form (kobe 1956, wenk 1987). damit die Möglichkeiten bereits erschöpft? S der V Vigezzo drehen die Strukturen von Re ge¬ gen SWab. Von der Bassetta SWvon S. Maria Mag¬ giore bis Beura in der V d'Ossola läßt sich eine auf¬ gebrochene Antiform erkennen (Reinhardt 1966). An der Antolina-Querstörung von Coimo zum 2. Tektonischer Überblick Passo Biordo werden ENE-WSW-Strukturen ge¬ geneinander versetzt. Durch die untere V Loana Tektonisch liegt das Gebiet zwischen Domodossola verläuft eine steile Scherzone, von der Mündung und Locarno zwischen den steilstehenden pennini- der V del Basso eine weitere, die Trennfuge zwi¬ schen Zonen im N - Gneißen der Pioda di Crana- schen Monte-Rosa- und Sesia-Zone, gegen Car- Antigorio-Decke, verschuppten Paragesteinen der dezza E desToce (Reinhardt). Orselina-Moncucco- und der Locarno-Monte- Rosa-Zone, der unterostalpinen Arcegno-Sesia- Zone mit sich ablösenden Glimmerschiefern, Gra- nitgneißen, Amphiboliten und Granat-Sillimanit- Gneißen - und den südalpinen Zonen im S, dem Ca- 3. Die Entwässerung der Valle d'Ossola im älteren navese mit Karbonat- und Chlorit-Sericit-Schiefern und mittleren Miozän und der Zone von Ivrea-Verbano mit Kinzigit- Gneißen, Amphiboliten und seltenen Marmoren. Im älteren und mittleren Miozän entwässerte die Wvon Locarno spaltet sich die Zentral- und Südal¬ obere V d'Ossola mit ihren südlichsten Quellästen: pen trennende Störung, die Jorio-Tonale-Linie, in V d'Antrona, V. d'Ogliana di Pozzolo und V Vi¬ zwei Äste auf. Der nördliche, die Centovalli-Stö- gezzo noch «Toce-aufwärts», gegen N zum Gries- rung, geprägt durch vorwiegend klastische Defor¬ paß, über die Grimsel durchs Haslital und schüttete mation, verläuft von der Mündung der V Onser¬ als Ur-Aare im zentralen Schweizer Mittelland den none, wo sie nach der Magadino-Ebene und den Al- Napf-Schuttfächer. In der V d'Ossola lag die Wasser¬ luvionen von Melezza/Maggia wieder erscheint, scheide S von Domodossola zwischen Villadossola steil gegen Pila, den Riale di Mulitt und längs der S- und der Anza-Mündung, in derV Vigezzo zwischen Flanke der Centovalli in die V Ribellasca. Durch Malesco und Finero gegen SE und zwischen Ma¬ den Quellast der V di Spago läßt sie sich gegen die lesco und Re gegen E. V. Vigezzo, über die Monti di Dissimo, den Sattel S des Riegels Pizzo Castello (1607 m)-P. delle Pe- von Blizz insTal des Isornino nach Craveggio-Crana core (2018 m) bildete die Anza vom langsam sich in die zerrütteten Gesteinsverbände der S-Flanke heraushebenden Monte Rosa (4634 m) bis zur Mün¬ gegen Domodossola verfolgen (knup 1958, Pfeif¬ dung den Oberlauf des unteren Toce und durchfloß fer mdl. Mitt.). Nach den Alluvionen desToce spal¬ die untere V d'Ossola zum Lago Maggiore. tet sie sich in der V. Bognanco in kleine Störungen Aufgrund von Geröllanalysen (matter 1964, auf und klingt aus (steck et al. 1979). Die Simplon- hantke 1984a), Vergleichen, Goldseifen im Napf- Mylonit-Zone scheint aus der V dellTsorno über Bergland (k. schmid 1973) als Abtragungsprodukte Zwischbergen ins Simplon-Gebiet zu verlaufen der Vorkommen in den Ossolaner Bergen, Alters¬ (mancktelow 1985). Die Jorio-Tonale-Linie und Hebungsdaten im Monte-Rosa-Simplon-Ge- entspricht jedoch nicht einer einzigen Bewegungs¬ biet und im Aar-Massiv (jäger et al. 1967, wagner fläche, sondern einer Zone von Flächen, wobei sich et al. 1977) sowie tektonisch vorgezeichneten Talan¬ oft eine späte besonders hervorhebt. lagen soll versucht werden, ältere talgeschichtliche Modelle (c. schmidt1908, staub 1934, geissberger Der südliche Ast, die vorwiegend durch Mylonite ge¬ 1967) zu verfeinern. Diese gilt es zunächst in der prägte Canavese-Linie, als Trennung zwischen Cana- V d'Ossola und längs der Centovalli-Störung zu vese und Ivrea-Verbano-Zone (schmid etal. 1987) überprüfen. verläuft von Losone über den P. Leone, N des Gri- Obwohl die Molasse-Schüttung im Napf-Bergland done nach Finero, über Alpe Scaredi-A. della mit der Säugerzone nm 5 einsetzt und im Öschgra- Colma nachVogogna/Ruminanca in dieV d'Ossola ben (1170 m), 300 m höher, Säuger zwischen nm 5 und weiter gegen SWin die hinterste V Strona. und 6 enthält (engesser sehr. Mitt.), reicht sie mit Im Aufbruch N der Centovalli-Störung, einem weit- den höchsten Bänken der über 550 m Oberen Süss¬ radigen, gegen E sich verengenden Gewölbe, öffnet wassermolasse nicht so hoch hinauf wie der Hörnli- sich die V Onsernone. Zugleich tauchen die linea¬ Schuttfächer; doch umfaßt sie bis 13 M a gleich¬ ren Strukturen gegen ESE ab (knup 1958). Gegen wohl das ganze Mittelmiozän. Ein Versiegen der 16 Schüttung läßt sich nicht beobachten. Zwar werden schah, wären dies mindestens 90 000-110 000 m3/a. die Gerolle der Gipfelregion kleiner, doch treten Dies scheint gegenüber der Ausräumung des heuti¬ noch immer bis 25 cm große erosionsresistente gen Rheins mit einer Jahresfracht in den Bodensee Quarzit- und Gneiß-Geschiebe auf. Daß auf dem von 2-3 M m3 von 1931-60 (vor den Kraftwerkbau¬ Gipfelplateau viel abgetragen worden ist, scheint ten) recht bescheiden. Dies um so mehr, als dort wenig wahrscheinlich. Dagegen sind die Gräben schon ein einziges Hochwasser (22723. August durch Frostwirkung und Karbonatlösung im Ze¬ 1957) mit 2,6 M m3 die mittlere Jahresschüttung zu ment bis 300 m tief ausgeräumt worden, so daß die übertreffen vermochte. Doch war das Einzugsge¬ Eggen als erosionsanfällige Grate aufragen. biet der Ur-Aare zu über 80% bewaldet, während In welchen Grenzen sich die ursprüngliche Kubatur die Bewaldung des heutigen Rheingebietes knapp des Napf-Fächers seit dem Zurückweichen des jün¬ 30% erreicht.
Details
-
File Typepdf
-
Upload Time-
-
Content LanguagesEnglish
-
Upload UserAnonymous/Not logged-in
-
File Pages12 Page
-
File Size-