Deutschland MARCO-URBAN.DE Kanzler Schröder, Ehefrau Doris*: „Können wir noch gewinnen?“ REGIERUNG Abschied von der Macht Wer in diesen Tagen einen Streifzug durch Berlin unternimmt, erlebt eine Koalition, die sich aufgegeben hat. Für rot-grüne Politiker geht es nicht mehr darum, das Land zu gestalten – sie müssen jetzt ihre eigene Zukunft organisieren. Von Matthias Geyer er Bundestagsvizepräsident ruft Es ist Freitag, der letzte Sitzungstag, be- Die Wirklichkeit von Berlin erlebt man in Tagesordnungspunkt 16 auf, Straf- vor der Kanzler die Vertrauensfrage bean- Cafés, in Abgeordnetenbüros und Minis- Drechtsänderungsgesetz aus Druck- tragen wird, bevor es knallt, und der Deut- teriumszimmern. Man trifft auf Politiker, sache 15/5313. Es geht um Sprühdosen. sche Bundestag hält die Tagesordnung ein die Wege suchen, um Abschied zu nehmen 28 Abgeordnete sitzen im Parlament, für ein Land, das nicht mehr regierbar ist. von der Macht. Abschied auch von einem die Debatte ist auf eine halbe Stunde an- Draußen, vor dem Eingang zum Plenum, Projekt, das es plötzlich niemals gegeben gesetzt. Die Frage ist, wann man Leute be- stehen Tische in einer Reihe, so lang wie haben soll. strafen darf, die fremde Häuserfassaden ein S-Bahn-Zug. Über 200 Haufen Papiere mit Graffiti beschmieren. Grundsätzlich? liegen darauf, Anfragen, Entschließungs- DIE KÄMPFERIN Oder nur in bestimmten Fällen? Ein SPD- anträge, Beschlussempfehlungen, Gesetz- Es ist Montag, der Tag, an dem eine neue Mann fragt, ob Sternsinger Kriminelle sind, entwürfe. Der Politikbetrieb erinnert an Seite von der SPD erschienen ist, sie heißt: weil sie mit Kreide Buchstaben auf Haus- Pflanzen, die zur Notblüte ausschlagen, „www.wirkaempfen.de“. Renate Schmidt türen malen. Leider ist Otto Schily nicht bevor sie zerfallen. war mittags bei einer Veranstaltung, bei da. Schily möchte Graffitisprayer aus der „Wir kommen jetzt zur Abstimmung“, der es um den demografischen Wandel Luft jagen, mit Hubschraubern. sagt der Bundestagsvizepräsident, und man ging. Viele ältere Menschen waren da, ei- sieht rote und grüne Politiker, die gemein- ner hat ihr gesagt: „Wir wünschen uns, dass * Beim Empfang des französischen Staatspräsidenten sam die Hand heben. Man kann Rituale be- Sie das, was Sie begonnen haben, zu Ende Jacques Chirac am 4. Juni in Berlin. obachten, Karikaturen der Wirklichkeit. führen.“ 42 der spiegel 25/2005 Renate Schmidt, die Familienministerin, nate Schmidt setzt sich in die letzte Reihe Er war gegen den Kosovo-Krieg und gegen wurde von Ulla Schmidt begleitet, der und hört zu. den Asylkompromiss, er gründete eine Gesundheitsministerin. Die Leute wollten Vorn sitzt einer, der immer als Erster Vereinigung zur Förderung erneuerbarer ihnen Mut machen, es war gut gemeint, klatscht, während Gerhard Schröder seine Energien, er bekam den Alternativen No- aber auch ein bisschen traurig. Rede hält. Er klatscht einfach in die Pausen belpreis. Das war 1999. Danach sah er zu, „Weißt du, was der Mist ist? Dass wir das hinein, und dann klatschen die anderen wie Politik zugrunde ging. alles nicht mehr durchsetzen können“, sag- auch. Er trägt eine lilafarbene Krawatte, Während er auf das Buch wartet, malt er te die Gesundheitsministerin. heißt Gert Weisskirchen und ist außenpoli- mit einem Streichholz große Linien auf die Die Familienministerin sitzt jetzt in ei- tischer Sprecher der SPD. Weisskirchen Tischdecke. „Was wir haben, ist eine An- nem Café in der Nähe der SPD-Parteizen- kämpft. sammlung von Ich-AGs in Regierungsäm- trale, es ist halb vier am Nachmittag, sie hat noch nichts gegessen und bestellt frittierte Calamares. Renate Schmidt war neun Jahre Vorsit- zende der SPD in Bayern. Sie weiß, wie es ist, wenn man kämpfen muss, um mit Anstand zu verlieren. War Macht ein Genuss? „Ja.“ Warum? „Weil ich lieber 5 Prozent durchsetze als 120 Prozent für den Mülleimer produ- ziere.“ Am Sonntag, dem 22. Mai, saß Renate Schmidt abends vor dem Fernseher. Um 18.23 sah sie Franz Müntefering, der Neu- wahlen ankündigte. Die Macht war weg, mit einem Satz. Sie dachte: „Hat er das ernst gemeint, oder hat er sich versprochen?“ Sie rief Freunde an, sie war wütend, hilflos, dann sprach sie mit Heidemarie Wieczorek-Zeul, der Entwicklungshilfeministerin. Sie einig- ten sich darauf, dass es anständiger sei, Macht loszulassen, als an einer Macht zu kleben, die nur noch eine Hülle ist. Später las sie ein Porträt über Gerhard JENSEN / DPA RAINER Schröder in der „Zeit“. Schröder sagte Ministerin Schmidt (r.)*: 120 Prozent für den Mülleimer darin, dass Rot-Grün wahrscheinlich nicht das richtige Bündnis war für die Heraus- Einmal muss Weisskirchen für ein paar tern“, sagt Scheer. „Denen geht es um forderungen dieser Zeit. Jetzt sagt seine Minuten auf die Toilette, und während er mediale Profilierung ihrer selbst. In der Ministerin: „Das, was wir verändert ha- weg ist, klatscht niemand mehr. medialen Themenprofilierung haben sie ben, hat noch nicht alle Menschen er- versagt.“ Das Streichholz rutscht abwärts. reicht.“ Es ist ein hübscher Satz für ein DER AUTOR Dann kommt die Sekretärin mit dem Buch. grandioses Scheitern, ausgesprochen vor Das Buch. Er hätte das Buch mitbringen Es heißt „Die Politiker“. Scheer reißt einem Teller Tintenfischringe. sollen. „Kennen Sie mein Buch?“, fragt er. die Folie ab und sucht im Inhaltsverzeich- Wenn Renate Schmidt jetzt manchmal Hermann Scheer sitzt an einem Tisch nis. „Das hier sind die entscheidenden an den voraussichtlichen Wahlabend, ganz hinten im Café Einstein, wo Politiker Kapitel“, sagt er. Sie heißen „Minima po- 18. September, Sonntag, 18 Uhr, denkt, Journalisten zu Hintergrundgesprächen litica“ und „Inzucht: Die Degenerierung dann hilft ihr das, was sie aus Bayern treffen, wenn die Zeiten normal sind. Wo des Politischen“. kennt: „Ich stelle mir alles genau vor: Wie man „unter drei“ redet, wo nichts von Scheer schiebt das Buch über den Tisch: wird es dir gehen, wie wirst du dich fühlen, dem, was über den Tisch geht, verwendet „Das können Sie gern behalten.“ wenn alles den Bach runtergegangen ist? werden darf. Heute darf man alles schrei- Wie wird es sein, wenn die Kameras kom- ben, was der SPD-Abgeordnete Scheer zu DIE ICH-AG men, wenn die Fragen kommen? Wenn die sagen hat. Es gibt nichts mehr zu verlieren. Mit dem Buch in der Hand geht man hin- Politik der anderen kommt, die nicht mei- Scheer trinkt Kakao, raucht Zigaretten über zum Abgeordnetenhaus, wo Michael ne Politik ist? Wenn ich das weiß, sage ich und murmelt endzeitliche Worte über den Müller wartet. Von Müller, dem stellver- mir: Jetzt kämpfst du.“ Tisch. „Erosion politischer Institutionen“, tretenden Fraktionschef der SPD, heißt es, Sie wird wieder für den Bundestag kan- „politischer Selbstbetrug“, „Kultivierung dass er über den Tag hinaus denkt. didieren, als SPD-Frau in Bayern. 120 Pro- der eigenen Insuffizienz“. Scheer sagt, dass „Wir brauchen eine ‚Bild‘-Zeitung“, ruft zent für den Mülleimer. Ihr Mann fragte: ihn der Zerfall dieser Regierung nicht über- Müllers Sekretärin. „Bist du wahnsinnig?“ Sie antwortete ihm, rascht, denn er hat ja alles vorhergesehen. Warum? dass sie es macht, weil sie ihre Selbstach- Er zieht ein Handy aus der Jackenta- „Herr Müller ist auf Seite 1. Hier ist die tung nicht verlieren will. sche und ruft in seinem Büro an: „Bring Hölle los.“ „Ich möchte drüben noch einen Platz mir mal mein Buch rüber, ja?“ Auf Seite 1 der „Bild“-Zeitung steht das bekommen“, sagt sie dann. Sie steht auf Scheer ist Dr. rer.pol., er hat seinen Ver- Wort „Dreckschweine“, mit Ausrufezeichen und geht ein paar Schritte hinüber zum stand lange Zeit im Parlament eingebracht. dahinter. Müller hatte auf eine Agentur- Willy-Brandt-Haus. Die SPD eröffnet ihren nachricht reagiert, in der es hieß, Schröder Kongress zur sozialen Marktwirtschaft. Re- * Beim „Girls-Day“ im Wolfsburger VW-Werk 2004. trete als Kanzler zurück und Müntefering der spiegel 25/2005 43 Deutschland werde der Nachfolger. Leute, die so was zum Hammelsprung. Es geht um einen An- tel klebt auf den Kartons, „ist Müll, kann in die Welt setzten, sagte Müller, seien trag der CDU, die das Wahlrecht ändern weg“. Es ist zehn Uhr morgens, die Zimmer- „Dreckschweine“. will. Bindig ist pünktlich. Auch Gert Weiss- türen stehen offen, aber kaum jemand ist „Herr Müller ist noch beschäftigt“, sagt kirchen hat es geschafft, er muss diesmal da. Zwei Sachbearbeiterinnen essen But- die Sekretärin. Er telefoniert gerade, viel- nur abstimmen, nicht klatschen. terbrote. Es sieht etwas nach Abbruch aus. leicht ein Interview. Als er fertig ist, grüßt Die Türen sind geschlossen, als Otto Knieps, ein fröhlicher Rheinländer mit er freundlich und fragt: „Haben Sie gestern Schily den Reichstag erreicht. Er ist zu spät, Vollbart und getönter Brille, ist Leiter der die ‚Tagesthemen‘ gesehen?“ aber weiß es noch nicht. Drei Leibwächter Abteilung 2 im Bundesgesundheitsminis- Müller hat in den „Tagesthemen“ ein folgen ihm durch leere Gänge. Schily ist terium, zuständig für Gesundheitsversor- Interview gegeben, in dem er den Bundes- noch Innenminister, er geht mit lang- gung, Krankenversicherung, Pflegeversi- präsidenten beschimpfte. samen Schritten, im Vollbesitz seiner Be- cherung. Wenn Ulla Schmidt nicht weiter- „War der Aufmacher“, sagt wusste, fragte sie Franz er. Knieps. Eigentlich hatte er ein vol- DER EINZELGÄNGER les Programm für die nächs- Die Tür öffnet sich zum Büro ten Monate. Zulassungsver- von Rudolf Bindig, eine Mit- ordnung für Kassenärzte, arbeiterin eilt hinein, „Ham- Pharmarabatt auf Praxisbe- melsprung“, sagt sie, „alle darf, Unfallversicherungsre- müssen rüber.“ form,
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