das magazin zur tanzcard september/oktober 2019 ISSN 2193-8520 www.tanzraumberlin.de Zahlreichere Zugänge Plädoyer für mehr Diversität und Barrierefreiheit | Seite 2 – 3 Generous Gestures Meg Stuart talks about the Tanzkongress | Seite 4 – 5 Unentgeltliche Unterstützung? Fördert die freien Produzent*innen! | Seite 13 Kalender: Alle Tanzveranstaltungen in Berlin und Umgebung Mit starkem Tanz-Schwerpunkt starten die Sophiensæle in die Spielzeit 2019/20. Dabei sind unter anderem Doris Uhlich, Ania Nowak, Hermann Heisig, Jee-Ae Lim, Julie Flierl oder Saša Asentić, im regulären Spielplan und bei Festivals wie After Europe und Das Ost-West- selected contents Ding. Auf dem Titelfoto sucht ein Hybrid aus Mensch und Wiese in „This Is Me“ von Fleischlin/Meser ein alternatives Kommunikations- modell und eine Gestaltwandlerin verausgabt sich in einer transformatorischen Choreografie. Foto: Roberto Conciatori in english essay editorial Liebe Leser*innen, Die Sprache des konkrete Zukunftspläne für den Berliner Tanz ent- standen 2018, am Runden Tisch Tanz. Auf drei Entwicklungsziele verständigten sich Tanzschaf- Zugangs ist ko-kreativ fende, Kulturpolitik und Verwaltung: die Verbes- serung der Künstler*innenförderung, die Stärkung Nicht ohne Behinderung: Plädoyer für eine diverse und barrierefreie Tanzszene. der bestehenden Tanzorte und die Einrichtung eines Hauses für Tanz und Choreografie. Als Finanzbedarf errechneten die Beteiligten je 6 Millionen Euro für 500 Tanzschaffende, versammelt zum state of the art der Tanzkunst: so geschehen Anfang Juni im die Jahre 2020 und 2021. Im Entwurf für den Berli- Europäischen Zentrum der Künste Hellerau beim Tanzkongress. Veranstaltet von der Kulturstiftung ner Doppelhaushalt 2020/21 aber sind nur 700.000 des Bundes, leitete den Tanzkongress – erstmals seit der Neuauflage des in den 1920ern begründe- Euro eingestellt (Stand Mitte August). Zeit, für eine ten Formats im Jahr 2006 – eine Künstlerin, die in Berlin lebende US-amerikanische Choreogra- adäquate Ausstattung zu kämpfen: Proteste bis zur fin Meg Stuart. Vor Ort von Respekt und Gemeinschaftsgeist getragen, hatte das Event durchaus Haushaltsverabschiedung plant der Verein Zeitge- exklusive Züge: limitierte Plätze, Verpflichtung zur durchgängigen Anwesenheit, keine Vorabinfor- nössischer Tanz Berlin, wie dessen Vorstand in tanz- mation zum Programm – und eingeschränkte Zugänglichkeit. Gegen diese Beschränkungen interve- raumberlin berichtet. nierten vier für mehr Diversität engagierte Tanzschaffende in der Abschlussrunde. „Wer kann nicht Zukunft hier, (Zeit-)Geschichte dort: Beim Tanzkon- da sein? Wer ist aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen?“, fragen sie jetzt auch in ihrem Plädoyer gress 2019 kam im Juni die Tanzszene in Dresden für den Abbau von Barrieren, in dem sie den Tanzkongress, die Gründe für ihre Intervention und für eine Selbstverständigung zusammen. Die ganze ihre Forderungen noch einmal Revue passieren lassen. Szene? Nein: Welche Ausschlüsse der Kongress für Tanzschaffende mit Behinderung produzierte, legen Gerda König, Anna Mülter, Perel und Noa Winter auf diesen Seiten dar. trb-Autorin Christine Text: Gerda König – DIN A 13 tanzcompany, insbesondere bei Großveranstaltungen mit Ver- Matschke resümiert ihren Eindruck der fünf Tage. Anna Mülter – Tanzkuratorin, netzungscharakter wie Kongressen und Festivals – Und auch Meg Stuart, die Leiterin des Tanzkon- Perel – Künstler*in und Noa Winter – Kuratorin den Einbezug behinderter (und anderer marginali- gresses, ergreift das Wort. Im Gespräch mit Astrid sierter) Künstler*innen gebunden sein. Um dies zu Kaminski geht die Berliner Choreografin auf Kritik- Wir schreiben das Jahr 2019 und begehen das zehn- verwirklichen, müssen bezahlte Beratungsgesprä- punkte ein – und verkörpert ihr Kongresskonzept: jährige Jubiläum der deutschen Ratifizierung der che mit Diversitätsexpert*innen Teil der Planungs- den vertrauensvollen, offenen Austausch. UN-Behindertenrechtskonvention, die neben der arbeit sein, damit Institutionen transparent mit vor- Wie reagieren Künstler*innen auf die Klimakrise? gesamtgesellschaftlichen auch ganz explizit die handenen Barrieren umgehen und Veranstaltungen Das erforscht die fünfteilige Reihe Klimata. Was kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinde- zugänglicher werden können. Produzent*innen brauchen, um Tanzschaffende rung garantieren soll. Dennoch fand im Juni die- Deswegen ist es an der Zeit, dass Institutio- nachhaltig zu unterstützen, formuliert Björn Frers sen Jahres im Festspielhaus Hellerau der Tanzkon- nen ihre Mitarbeiter*innen zu Barrierefreiheit und vom Produktionsbüro björn & björn. Und was im gress, das wohl wichtigste Vernetzungstreffen der Ableismus (der Beurteilung von Personen anhand September und Oktober künstlerisch auf den Tanz- (inter-)nationalen Tanzszene, (fast) gänzlich ohne normativer Fähigkeiten, die zur strukturellen Diskri- bühnen passiert, steht in den Vorschauen und dem die Beteiligung behinderter Künstler*innen statt. minierung behinderter Menschen führt) schulen las- Kalender. Ein Barrierefreiheitskonzept gab es nicht. Dies sen. Von der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, der ist besonders erschreckend, da allein die finan- Technik, dem Vorderhauspersonal bis hin zur künst- Frohes Tanz-Erkunden wünscht zielle Förderung dieser Großveranstaltung durch lerischen Leitung darf sich keine Person der Ver- Elena Philipp die Kulturstiftung des Bundes fast eine Million Euro antwortung für diese Thematik entziehen. Darüber betrug. Mit einem Offenen Brief, der in deutscher hinaus ist es dringend notwendig, pro Spielstätte, tanzschreiber.de und englischer Sprache auf nachtkritik.de veröf- Festival etc. mindestens eine Person zu benennen fentlicht ist, und einer Intervention während des und gegebenenfalls neu einzustellen, die sowohl Abschlussplenums machten die Verfasser*innen innerhalb der Institution für Mitarbeiter*innen und dieses Artikels, unterstützt von mehr als 40 Choreo- Künstler*innen als auch nach außen für das Publi- graf*innen und Kunstschaffenden mit Behinderung, kum für Barrierefreiheitsbelange ansprechbar ist. auf diese Missstände aufmerksam. Barrierefreiheit darf nicht länger als nachträglicher Zusatz und Belastung betrachtet werden, sondern Barrierefreiheit von Beginn an mitdenken muss von Anfang an selbstverständlicher und ele- Förderinstitutionen, vor allem wenn sie mit öffent- mentarer Bestandteil der Veranstaltungsplanung lichen Geldern arbeiten, tragen hier eine besondere sein. Verantwortung: Dabei geht es nicht darum, den Ver- Dabei darf das Verständnis von Barrierefreiheit anstalter*innen detaillierte Vorschriften zu machen nicht bei Rollstuhlzugänglichkeit enden. Eine sol- REZENSIONEN ZUM oder gar Verbote gegen einzelne Veranstaltungs- che Auffassung würde der Diversität von Künst- BERLINER TANZGESCHEHEN orte (wie das Festspielhaus Hellerau, das aktuell ler*innen mit Behinderungen widersprechen und nur zum Teil rollstuhlzugänglich ist) auszusprechen. erneut zahlreiche künstlerische Ästhetiken, gelebte Jedoch sollte die Vergabe von Fördergeldern an die Erfahrungen sowie ein breites Publikum ausgren- Erarbeitung eines Barrierefreiheitskonzepts und – zen. Behinderte Künstler*innen nutzen nicht nur 2 tanzraumberlin september/oktober 2019 Rollstühle, sondern auch Gehstöcke, Krücken, Gebärdensprache, Audiodeskription, Leichte Spra- che, technische Hilfsmittel und neue Formate wie Relaxed Performances, die in entspannterer Atmo- sphäre nicht-normatives Publikumsverhalten (wie Bewegungen, Geräusche und Ticks) begrüßen. Glei- ches gilt für Zuschauer*innen: Sie sind körperbe- hindert, blind, gehörlos, haben Lernbehinderun- gen, sind psychisch krank, neurodivers oder chro- nisch krank. Fortschreibung von Diskriminierungen? Dass es sich hierbei um ein strukturelles Problem handelt, zeigt die Formulierung ganz ähnlicher For- derungen durch die Künstler*innen Tanja Erhart, Nina Mühlemann und Jeremy Wade im Rahmen des diesjährigen ImPulsTanz-Festivals in Wien. Für die Veränderung der Tanzszene braucht es nicht nur die Anerkennung von Choreograf*innen und Tänzer*in- nen mit Behinderung, es braucht genauso behin- derte Kurator*innen, Dramaturg*innen und nicht zuletzt auch Kritiker*innen. Denn die Sprache über die Arbeit von behinderten Künstler*innen prägt unser Bild von Behinderung ebenso wie die Arbei- ten selbst. Wenn Krankheit und Behinderung ver- wechselt, Diagnosen ohne Einverständnis veröffent- licht und stereotype Zuschreibungen wie Kindlich- keit bei kleinen Personen wiederholt werden, tragen Rezensionen zu einer Fortschreibung von Diskrimi- Wer ist aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen?, fragten Perel, Gerda König, Anna Mülter und Noa Winter (v.l.) nierungen bei. bei ihrer Intervention auf dem Tanzkongress 2019. Foto: Klaus Gigga Bereits ein kurzer Blick auf die Homepage des Projekts Leidmedien.de und deren Leitlinien zu sen- spastischen Bewegungen), denen außerhalb der einen Geist. Aus diesem Grund können wir eine sibler Sprache über Behinderung kann hier Abhilfe Bühne mit Wegsehen, Anstarren oder sogar offe- Beziehung zu allen aufnehmen, die Körper und schaffen. Begriffe wie Handicap, anders fähig oder nem Abscheu begegnet wird. Durch den häufigen Geist haben. Einige von uns müssen nicht täg- besondere Bedürfnisse, die nicht der Selbstbezeich- Einsatz dieser Darstellungspraktik wird der Aus- lich darüber nachdenken, was das bedeutet, aber nung entsprechen, sind veraltet, verletzend oder schluss von Künstler*innen mit Behinderung noch andere von uns sind sich dessen in jedem Moment schlicht und ergreifend falsch. Und Choreograf*in-
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