Antisemitismus in Deutschland

Antisemitismus in Deutschland

Antisemitismus in Deutschland Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus Antisemitismus in Deutschland Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus Inhalt I. Antisemitismus – Kontext und Defi nition 4 1. Einleitung: Auftrag, Selbstverständnis und Arbeitsweise des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus 4 2. Antisemitismus – Begriffsbestimmung und Erscheinungsformen 10 II. Bestandsaufnahme 14 1. Antisemitismus im Rechtsextremismus – externe und interne Funktionen, formale und ideologische Varianten 14 2. Antisemitismus und Linksextremismus. Eine Analyse zur Israel- und Kapitalismuskritik im öffentlichen Diskurs 23 3. Exkurs: Zur Prüfung von Antisemitismusvorwürfen gegenüber der globalisierungskritischen Bewegung und dem Netzwerk „Attac“ 30 4. Antisemitisch motivierte Straftaten 35 5. Antisemitismus im Islamismus 42 III. Antisemitismus in der pluralen Gesellschaft 54 1. Antisemitische Einstellungen in Deutschland – Befunde der Meinungsforschung 54 2. Antisemitismus im politischen Diskurs, in Kultur und Alltag 66 3. Migrationshintergrund und Antisemitismus 78 4. Tradierung antisemitischer Stereotype durch gesellschaftliche Sozialisationsinstanzen 84 5. Klischees, Vorurteile, Ressentiments und Stereotypisierungen in den Medien 98 Antisemitismus in türkischsprachigen Medien 109 Antisemitismus in arabischsprachigen islamistischen Fernsehsendern: „Al-Manar-TV“ und „Al-Aqsa-TV“ 118 Deutschsprachige iranische und mit dem iranischen Regime sympathisierende Medien 123 6. Präsenz und Wahrnehmung von Antisemitismus in der Gesellschaft 127 7. Internationales Engagement gegen Antisemitismus und Befunde aus anderen europäischen Ländern 137 IV. Präventionsmaßnahmen 146 V. Fazit – die wichtigsten Ergebnisse des Berichts 176 VI. Empfehlungen 184 Die Mitglieder des unabhängigen Expertenkreises 190 Abkürzungsverzeichnis 192 Literaturverzeichnis 194 3 Antisemitismus – I. Kontext und Definition 1. Einleitung: Auftrag, ■ Aycan Demirel, Mitbegründer und Leiter der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, Selbstverständnis und Berlin Arbeitsweise des unab- ■ Dr. Olaf Farschid, Islamwissenschaftler und hängigen Experten kreises wissenschaftlicher Referent bei der Senats- Antisemitismus verwaltung für Inneres, Berlin ■ Elke Gryglewski, Haus der Wannseekonferenz, Auftrag Berlin Auf Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP ■ Prof. Dr. Johannes Heil, Leiter der Hochschule und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des geson- für Jüdische Studien Heidelberg derten identischen Antrags der Fraktion „Die Linke“ fasste der Deutsche Bundestag am 4. No- ■ Prof. Dr. Peter Longerich, University of London, vember 2008 den Beschluss, „Den Kampf gegen Holocaust Research Center Antisemitismus zu verstärken und jüdisches Leben in Deutschland weiter zu fördern“.1 Der Deutsche ■ Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, Politikwissen- Bundestag forderte die Bundesregierung auf, ein schaftler und Soziologe an der Fachhochschule Expertengremium aus Wissenschaftlern und des Bundes, Brühl Praktikern einzusetzen, das in regelmäßigen Abständen einen Bericht zum Antisemitismus in ■ Dr. Martin Salm, Vorstandsvorsitzender der Deutschland erstellt und dabei Empfehlungen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und ausspricht, wie Programme zur Bekämpfung von Zukunft“ (EVZ), Berlin (Ende 2010 aus gesund- Antisemitismus entworfen und weiterentwickelt heitlichen Gründen ausgeschieden) werden können. Am 5. August 2009 informierte der damalige Bundesinnenminister Dr. Wolfgang ■ Prof. Dr. Julius H. Schoeps, Direktor des Schäuble das Bundeskabinett über die bevorste- Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch- hende Arbeitsaufnahme und Zusammensetzung jüdische Studien, Potsdam des unabhängigen Expertenkreises aus Wissen- schaft und Praxis und lud den Expertenkreis zu ■ Dr. Wahied Wahdat-Hagh, Senior Research dessen konstituierender Sitzung am 9. Septem- Fellow bei der „European Foundation for ber 2009 in das Bundesministerium des Innern ein. Democracy“ in Brüssel Die Expertinnen und Experten2 wurden entspre- chend der Aufgabenstellung unter fachlichen und ■ Dr. Juliane Wetzel, wissenschaftliche sachlichen Kriterien ausgewählt und repräsentie- Angestellte am Zentrum für Antisemitismus- ren profundes Fachwissen aus unterschiedlichen forschung, TU Berlin Theorie- und Praxisperspektiven. Der unabhängige Expertenkreis wählte zunächst Der unabhängige Expertenkreis Antisemitismus Dr. Martin Salm und Prof. Dr. Peter Longerich zu setzt sich wie folgt zusammen (in alphabetischer seinen Koordinatoren.3 Nachdem Dr. Salm aus Reihenfolge): dem Gremium ausgeschieden war, wurde am 1 Deutscher Bundestag Drucksache 16/10775 (neu) sowie 16/10776 vom 4. November 2008, http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/16/107/1610775.pdf; http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/107/1610776.pdf [eingesehen am 12. Mai 2011]. 2 Obgleich besonders im Bereich der Pädagogik großer Wert auf die Nennung beider Geschlechter gelegt wird, hat sich der Expertenkreis dazu entschlossen, alle personenbezogenen Begriffe aus Gründen der leichteren Lesbarkeit im generischen Maskulinum zu verwenden. 3 Seit März 2010 arbeitet Frau Dr. Miriam Bistrovi´c als „Freie Mitarbeiterin des Expertenkreises“, um die Koordinatoren zu unter- stützen, Rechercheaufträge der Experten zu erledigen, organisatorische Fragen zu klären und die Koordination des Berichts zu terminieren. 4 Antisemitismus – Kontext und Defi nition 29. November 2010 Dr. Ju liane Wetzel zu seiner densein antisemitischer Vorurteile und zählen Nachfolgerin gewählt. Vorfälle auf, aber das Ausmaß des Antisemitismus lässt sich – ebenso wenig wie seine Wirkung auf Selbstverständnis und Arbeitsweise des Einzelne, auf Gruppen und auf die Gesellschaft un abhängigen Expertenkreises Antisemitismus insgesamt – nicht verbindlich bestimmen. Die Wirkung hängt letztlich von individuellen Stand- Kontext orten und Einbindungen ab. Individuelle Ein- schätzungen, persönliche Dispositionen, mediale Erscheinung, Deutung und Bekämpfung des Anti- Verdichtungen und momentane Auffälligkeiten semitismus sind, ungeachtet der verschiedenen entscheiden über die Bedeutungszumessung von Perspektiven von Juden und Nichtjuden darauf, Antisemitismus. Antisemitismus ist also mitnich- nach 1945 von der zeitlichen Nähe zum National- ten ein in reinen Zahlen zu erfassendes Moment sozialismus und dessen langfristigen Folgen gesellschaftlicher Wirklichkeit. Zudem unterlie- bestimmt. Erfahrungen, Erwartungen, Beobach- gen Manifestation wie auch Wahrnehmung von tungen und Deutungen, aber auch unterschwel- Antisemitismus ganz eigenen Konjunkturen, auf lige Befürchtungen und unbewusste Verhaltens- die Wahlkämpfe, nationale Großdebatten mit weisen bestimmen diese Wahrnehmung. Deshalb weiter öffentlicher Anteilnahme, soziale Bewegun- sind zum Verständnis gegenwärtiger Erschei- gen und Netzwerke (Attac), politische Krisen und nungsformen von Antisemitismus im Bericht des globale Themenfelder, aber auch gesellschaftliche unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus Großereignisse (Sportveranstaltungen, Kirchen- nicht nur Momentaufnahmen aus der jüngsten tage etc.) zusätzlich einwirken.4 Gegenwart, sondern auch klärende Analysen über die jüngere Geschichte zu unternehmen. Einzelne Die Wahrnehmung von Antisemitismus und ein- Manifestationen von Antisemitismus oder Ereig- zelner Ereignisse im öffentlichen Raum verbleibt nisse, die entsprechend zugeordnet werden – man hinsichtlich des Gegenstands selbst diffus, ist sie denke nur an NPD-Aufmärsche und die dagegen doch kaum angehalten, sich um begriffl iche oder mobilisierten Abwehrrituale samt entsprechender inhaltliche Differenzierungen zu bemühen. medialer Präsenz – reichen aus, um Besorgnisse über die weitere Verbreitung von Antisemitismus Antisemitismus hat in der politischen Kultur des in der Gesellschaft und damit auch hinsichtlich demokratischen Deutschland keinen Platz, denn er ihrer inneren Verfassung und Stabilität zu wecken. gilt als historisch delegitimiert. So zumindest lau- Antisemitische Tendenzen berühren nicht nur die tet der Soll-Zustand des Konsenses, auf den sich die Frage nach Verlässlichkeit und Funktionstüchtig- deutsche Gesellschaft in einem langen Lernprozess keit der demokratisch-pluralen Grundlage dieses verständigt hat. Der Weg, der seit 1945 bis hierher Staates und seiner Gesellschaft, sondern auch die unternommen wurde, war lang, auch keineswegs notwendige Auseinandersetzung mit dem Natio- zielgerichtet oder gradlinig und erweist sich als nalsozialismus, der zum größten Völkermord in Abfolge komplexer, teilweise unabsehbarer Ereig- der Menschheitsgeschichte geführt hat. Vor dem nisse. Im Unterschied zu den Jahren unmittelbar Hintergrund der historischen Verantwortung der nach 1945 provozieren antisemitische Manifesta- Bundesrepublik ist eine besondere Sensibilität tionen heute unmittelbare Entgegnungen: Wo sie im Umgang mit Antisemitismus unerlässlich, die sich unverblümt oder auch in Andeutungen äußern, ebenso die Traumatisierungserfahrungen der jüdi- greift gesellschaftliche Selbstkontrolle auf unter- schen Bevölkerung im Blick hat. Die Auseinander- schiedlichen Ebenen und mit verschiedenen For- setzung mit Antisemitismus darf allerdings nicht men der Entgegnung. Im öffentlichen Raum kommt in der historisch-politischen Beschäftigung mit es zu einer eingespielten Abfolge von Publikation, dem Thema verharren, sondern muss die Bekämp- Skandalisierung, Formulierung kollektiver Gegen- fung all seiner aktuellen Erscheinungsformen positionen durch Leitmedien,

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