Die Odyssee der Neuen Amerikanischen Filmheldin Dissertation im Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften Freie Universität Berlin Irina Bodrow, M.A. Juli 2013 Erstgutachter: Prof. Dr. Winfried Fluck Zweitgutachter: Prof. Dr. Laura Bieger Tag der Disputation: 20.12.2013 iii Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit beinhaltet eine narratologische Untersuchung der Heldinnenreisen in einer Filmauswahl der Jahre 2009, 2010 und 2011. Diese narratologische Untersuchung basiert auf der Arbeit Morphologie des Märchens von Vladimir Yakovlevich Propp und un- tersucht systematisch einzelne Ereignisse der Heldenreise in ihrer Erzählabfolge während der Erzählung. Zur Untersuchung stehen neben Filmheldinnen auch literarische Heroinnen. Die verschiedenen Heldinnen werden anhand ihrer Motivation in drei Kategorien systema- tisiert: die Heimkehrerin, die Auswanderin und die Liebesheldin. In der Analyse werden die Heldinnen des Hollywood Kinos den Heroinnen der Independent Kultur gegenüberge- stellt. Letztere zeugen von einem spezifischen Frauenbild und einer Heldenreise mit anderer Ästhetik, anderen Zielen und anderen Charakterzügen als im Hollywood Film. Diese Fak- toren schlagen sich auch in der Struktur der Heldenreise nieder. In der Untersuchung der neuen amerikanischen Filmheldinnen diskutiert diese interdisziplinäre Arbeit Aspekte der Mythen-, Märchen- und Erzählforschung, der Film- und Kulturwissenschaften sowie der Frauenstudien. v Abstract The work at hand contains a narratological study of the heroine’s journey in a film selec- tion from the years 2009, 2010 and 2011. This narratological study is based on the work Morphology of the Folk Tale by Vladimir Yakovlevich Propp and systematically examines the constituent events of the heroic journey in their succession in the narration. In addition to the mainly cinematic heroines also literary heroines are subject of investigation. Three distinct heroine types are discerned by their motivations: the homecomer, the emigrant and the lover. In the analysis the female heroes of Hollywood cinema are contrasted with the heroines of Independent culture. The heroines of the Independent subculture show a speci- fic perception of women and a heroic journey with a different aesthetic, different ends and different character traits from Hollywood heroines. These factors can be witnessed in the structure of the heroic journey as well. By the analysis of new American cinematic heroines this interdisciplinary work addresses issues from the studies of mythology, narratology as well as film-, cultural- and women studies. vii Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 1 1.1 Wissenschaftliche Einordnung . .3 1.2 Ziele der Arbeit . .4 2 Methode, Begriffsbestimmung und Korpus 7 2.1 Das Märchen als Struktur . .8 2.2 Die Proppschen Funktionen . 11 2.3 Kritik an der Morphologie des Märchens ................... 18 2.4 Datenerhebung und Prüfung . 23 2.5 Korpus . 26 3 Was ist eine Heldin? 33 3.1 Die klassische Heimkehrerin – Opferung und Erlösung . 45 3.2 Die heranwachsende Auswanderin – Suche und Transfiguration . 56 3.3 Die erfüllte Liebesheldin – Einheit zweier Heldenreisen . 68 4 Analyse der Heldinnen in den Korpusfilmen 77 4.1 Die Heimkehrerin . 79 4.1.1 Animierte Opfer und Mother Quest in Tangled und Coraline .... 80 4.1.2 Final Girls im Horrorfilm in Cabin in the Woods, The House of the Devil und Drag Me to Hell ....................... 88 4.1.3 Verlust eines Familienmitglieds – Die blutigen Rächerinnen in True Grit und Inglourious Basterds ..................... 97 4.1.4 Verlust eines Familienmitglieds – Die Trauernden in We Need to Talk About Kevin und Rabbit Hole ..................... 102 4.1.5 Dramatische Märtyrerinnen in der Gemeinschaft der Familie in Win- ter’s Bone und Conviction ....................... 109 ix Inhaltsverzeichnis 4.1.6 Dramatische Märtyrerinnen in der Gemeinschaft der Kommune in Meek’s Cutoff, Easy A und Martha, Marcy, May, Marlene ..... 113 4.1.7 Das Gruppenopfer im Ensemblefilme – Carnage, Putty Hill und Con- tagion .................................. 122 4.1.8 Zusammenfassung – Opferung ohne Heimkehr . 130 4.2 Die Auswanderin . 134 4.2.1 Der rezeptive Erziehungsroman – Selbstdisziplinierung und -Training in Whip It und Higher Ground ..................... 137 4.2.2 Der direktive Erziehungsroman – Disziplinierung und Training durch die Heldin als Lehrerin in Amreeka, Secretariat, Please Give und The Blind Side ................................ 141 4.2.3 Künstlerroman – Inspiration in Tiny Furniture, Black Swan, Pariah, The Help und Precious ......................... 148 4.2.4 Entwicklungsroman bei erwachsenen Heldinnen in Mother and Child und Bridesmaids ............................ 162 4.2.5 Entwicklungsroman vom Kind zur Frau in My Sister’s Keeper, The Princess and the Frog, Sin Nombre .................. 166 4.2.6 Zusammenfassung – Suche ohne Transfiguration . 171 4.3 Die Liebesheldin . 176 4.3.1 Die Sirene – Singende Heldinnen im Musical in Sita Sings the Blues und Guy and Madeline on a Park Bench ............... 179 4.3.2 Sisterhood Melodrama in The Kids Are Alright und Circumstance . 184 4.3.3 Liebestod in Red White & Blue, Never Let Me Go und Remember Me 191 4.3.4 Die bestandene Prüfung in Let Me In, Flipped und Jane Eyre .... 197 4.3.5 Die misslungene Prüfung in Blue Valentine und The Girl With the Dragon Tattoo .............................. 208 4.3.6 Zusammenfassung – Liebe ohne Heirat . 215 5 Die Neue Heldin im Amerikanischen Film – Die Indie Underachieverin 221 6 Ausblick 245 Literatur 254 x 1 Einleitung Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht.1 Ein Mann reist zwanzig Jahre lang um die Welt. Auf seiner Fahrt durch die Meere besteht er etliche Prüfungen auf Leben und Tod. Sein Mut und Tatendrang, aber vor allem sein Verstand zeichnen ihn aus. Frau und Sohn daheim erwarten sehnlichst seine Rückkehr. Der antike Mythos Odysseus ist eine vorbildliche Heldenreise. Seine gefährlichen Irrfahr- ten bilden einen so spannenden Geschichtsstoff, dass Homer für sie einen eigenen Begriff prägt, der fortan als Sinnbild für lange qualvolle abenteuerliche Reisen gilt. Odysseus Reise, die Odyssee, ist so einzigartig, dass sie seinen Namen trägt. Im Gegensatz zu Achill nutzt der Taktiker Odysseus vor allem die Kraft seines Geistes, wenn er schwierige Aufgaben meistert, Ungeheuer besiegt, Versuchungen widersteht und Rätsel löst. Die schweren Prüfungen auf seiner Reise bilden die Vorlage für unendlich viele Helden- erzählungen in den unterschiedlichsten Medien. Die Odyssee ist damit ein Anfang für die unzähligen, die ihr folgen. Denn noch immer gelangen die Helden der Erzählung an einen gottverlassenen jenseitigen Ort, an dem sie einzig mittels ihrer geistigen und körperlichen Ressourcen über sich hinaus wachsen. Halbgöttern gleich kehren die herausragenden Hero- en dann triumphierend zurück und ernten Bewunderung und Anerkennung. Die kultisch verehrbaren Helden werden im Medium der Erzählung zwar noch geschaffen, haben aber seit einiger Zeit an Ansehen verloren.2 Den literarisierten Heldentaten wird 1Aristoteles 25 2Zwar ist dieser Held immer noch der Prototyp fast jeden Hollywood Actionfilms, aber werden mit den fiktiven Figuren kaum noch über den Fankult hinausreichende Rituale angestellt, denn ihre Glaub- würdigkeit ist verlorenen gegangen. So wird die Glaubhaftigkeit der Geschichten und der Heldentaten außerhalb der Mise en Scène nicht mehr verhandelt, sondern stillschweigend aberkannt. Die Helden- schreine sind verschwunden und Special Effects haben die charakterliche Heldenprüfung verdrängt. Karin Westerwelle schreibt dazu: „Nicht erst im 19. Jahrhundert ist damit ein ethisches und ästheti- sches Leitbild des ’héros’ als militärisch-kriegerischer Typus, der Größe, Ruhm und Ehre verkörpert, obsolet geworden.“ (Westerwelle ”Der Dandy als Held“ in Merkur 891) Auch bei Bolz heißt es in ”Der antiheroische Affekt“: „Doch in der modernen Welt der Information braucht man keine Helden mehr, und wo Kollaboration regiert, gibt es keine Helden mehr. Der Bürger ersetzt die Leistung des Helden 1 1 Einleitung aberkannt, dass sie faktisch möglich und damit anerkennungswert wären.3 Mehrfach wird der Untergang des männlichen Heldentums aber auch durch seine in- flationäre Vervielfachung in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts sowie durch die Schaffung von Nachkriegsmythen postuliert. Aus den mythischen Helden wurden dabei unzählige namenlose Kriegshelden, Helden des Aufbaus, Helden der Arbeit4 bis hin zu den heutigen Helden des Alltags. Arbogast Schmitt erklärt in “Achill - Ein Held?”, dass „Die Möglichkeit, ein Held zu sein wie Achill, [...] in einem radikalen Sinn der Vergangenheit an[gehört] [...].“5 Denn Achill verkörperte für Hegel noch ein „[...] das individuell Menschliche übersteigen- de[s] Heldentum[...]”6, das die Gemeinschaft im Einzelnen verkörpert. Der Held ist dabei ein Held aller, der im Namen und für die Massen, die sich im Helden sehen, mit sich selbst kämpft und dabei Einzigartigkeit erlangt. Sein dabei errungenes Selbstbewusstsein ermöglicht es ihm, „[...] [er] selbst zu sein und zugleich sein Gegenteil.“7 Aber die Überführung des Helden in den Alltag führt zum Heldenüberfluss, aus welchem in “dialektischer Konsequenz”8 ein sinnentleertes Heldentum, eine bloße Worthülse, wird. Josef Früchtl erkennt passend: „Wenn es nur noch Helden gibt, gibt es keinen Helden mehr.“9 Durch „die ’untergeordnete Stellung’ des Subjekts in der bürgerlichen Gesellschaft [...] [geht der Held in] der ihr zugeordneten Staatsform
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