„Die Straße“ „Geschichte und Gegenwart eines Handelsweges“ Herausgegeben von Willi Stubenvoll, Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen, Umschau Verlag, Frankfurt am Main 1990 ISBN 3-524-69098-X (S. 41 bis S. 62) Helmut Ruppel Unterwegs auf der Straße Eine historische Reise von Frankfurt nach Leipzig Wer heute mit dem Auto von Wächtersbach nach Frankfurt fahren will, der benutzt am besten die Autobahn, und zwar die Auffahrt an der Eisernen Hand. Ohne hohes Tempo er- reicht er die östlichen Vororte der Main-Metropole in einer guten halben Stunde. Mit der Ei- senbahn gelangt man in circa 45 Minuten zum Frankfurter Hauptbahnhof, der heute im Zentrum, bei seiner Einweihung 1888 aber noch am westlichen Stadtrand „auf freiem Feld" lag. Frankfurt am Main ist heute der wichtigste Verkehrsknotenpunkt der Bundesre- publik Deutschland. Sternförmig laufen die Schienen hier zusammen, und im 20. Jahrhun- dert entwickelte sich der Rhein-Main-Flughafen zu einem der bedeutendsten Europas. Die ältesten Verkehrsadern aber sind die Straßen, und auch sie verliefen vom Main aus in alle Himmelsrichtungen. Nach Osten hin konnte der Reisende schon in früherer Zeit zwischen mehreren Routen wählen. Die Hohe Straße führte über den Vogelsberg nach Osthessen und weiter nach Thüringen. Schließlich gab es den alten Handelsweg durch das Kinzigtal - die Frankfurt-Leipziger Straße. Sie verband die berühmten Messestädte, die am Main und an der Pleiße liegen. Ihr will sich der Verfasser nun besonders widmen. 1 Obwohl die Straße sehr alt sein muß, weil das Kinzigtal in seiner West-Ost-Richtung eine natürliche Trasse bildet, wird erst im Mittelalter Näheres von ihr berichtet. Damals zählte man den Handelsweg zu denjenigen Straßen, die ihrer Funktion entsprechend, einmal via publica, dann wieder folcweg, diotuvec, dietvec, strata regia, chuningeswec, via militaris, heristrata. heriwec, heergasse, Freis Straße, Reichsstraße, via plebeia genannt wurde. In Urkunden, die sich auf Orte des Kinzigtales beziehen, taucht die eine oder andere Be- zeichnung auf. So bekannten Zeugen am 6. November 1383, daß sie „zu den heiligen gesworn vordeme hofetore des sthiftes zu Sluchtern an des riches strasze" gekommen seien und ein Pecz Mülichen schenkte am 11. November 1399 dem Kloster Schlüchtern für eine Seelenmesse Äcer, Wiesen und Gärten in Hintersteinau und Schlüchtern „mit hal- me, hande und munde noch gerichts recht, gewonheit und herkommen" im Beisein vieler Zeugen zu Schlüchtern „an der fryhen stroszen"1. Nicht selten war nur die Rede von „der Straße". Die Stadt Steinau, die einstmals politisch, militärisch und verwaltungsmäßig (bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts) eine bedeutende Rolle im oberen Kinzigtal spielte, trägt noch heute das Attribut „an der Straße" zum Namen. Schon 1353 tauchte die Bezeichnung „Steyna an der strazen" auf und in der Umschrift des ältesten Stadtsiegels des 14. Jahr- hunderts heißt es „Stena an der Straszse".2 Nach der Messezeit in Frankfurt verließen die Kaufleute mit ihren Handelswagen und Karren die Stadt. Fuhren sie nach Osten, so mußten sie die Allerheiligenpforte passieren, in der auch eine Zollstation untergebracht war. Damals umgab die 2 Stadt ein sternförmig angelegtes Befestigungswerk mit Wassergraben.3 Die Reisenden gelangten auf der Frankfurt-Leipziger Straße über Hochstadt, Bruchköbel und Langendiebach nach Langenselbold, bis ins 19. Jahrhundert hinein einfach nur „Sei- bold" genannt.4 Als schließlich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein Postkurs von Frankfurt nach Fulda von der Reichspostverwaltung angelegt wurde, nahm der Verkehr seinen Weg über die gräflich hanauische Residenzstadt Hanau in Richtung Langensel- bold. Näherten sich die Wagen Langenselbold, so befiel manchen Reisenden ein ungutes Ge- fühl, denn hinter dem Dorf lag die berüchtigte Abtshecke. Die Reichsstraße führte nämlich nördlich an den Selbolder Weinbergen und am Galgenküppel vorbei auf die Abtshecke hinauf. Langenselbold war ein isenburgischer Gerichtsort. Es hatte ein Hochgericht, wel- ches 1566 erwähnt wird.5 Seitlich der Straßen, auf einer Anhöhe gelegen, errichteten die Gerichtsherren mit Vorliebe den Galgen. Die Deliquenten ließ man oft tagelang an der Richtstätte hängen, zur Abschreckung für die Vorüberreisenden. Beim Anblick des Todes kam Angst und Schrecken auf. Und dann ging es in den Wald, die steile Abtshecke hinauf. Die Menschen mußten vom Wagen steigen, weil die Pferde schon ihre Mühe hatten, die schweren Fuhrwerke zu ziehen. Diesen Umstand nutzten im Schutze des Waldes Wegela- gerer und Räuberbanden, Nicht selten lauerten sie den Kaufleuten auf, um sie zu nötigen bzw. auszurauben. Auch Goethe mußte mit der Postkutsche diesen beschwerlichen Streckenabschnitt passie- ren. In „Dichtung und Wahrheit" findet man folgende Schilderung: „Wir waren zur Allerheili- genpforte hinausgefahren und hatten bald Hanau hinter uns, da ich denn zu Gegenden gelangte, die durch ihre Neuheit meine Aufmerksamkeit erregten, wenn sie auch in der jet- zigen Jahrszeit wenig Erfreuliches darboten. Ein anhaltender Regen hatte die Wege äu- ßerst verdorben, welche überhaupt noch nicht in den guten Stand gesetzt waren, in wel- chem wir die nachmals finden; und unsere Reise war daher weder angenehm noch glück- lich. Doch verdankte ich dieser feuchten Witterung den Anblick eines Naturphänomens, das wohl höchst selten sein mag; denn ich habe nichts Ähnliches jemals wieder gesehen, noch auch von andern, daß sie es gewahrt hätten, vernommen. Wir fuhren nämlich zwi- schen Hanau und Gelnhausen bei Nachtzeit eine Anhöhe hinauf und wollten, ob es gleich finster war, doch lieber zu Fuß gehen, als uns der Gefahr und Beschwerlichkeit dieser Wegstrecke aussetzen. Auf einmal sah ich an der rechten Seite des Wegs in einer Tiefe eine Art von wundersam erleuchtetem Amphitheater. Es blinkten nämlich in einem trichter- förmigen Raume unzählige Lichtchen stufenweise übereinander und leuchteten so lebhaft, daß das Auge davon geblendet wurde. Was aber den Blick noch mehr verwirrte, war, daß sie nicht etwa still saßen, sondern hin und wider hüpften, sowohl von oben nach unten als umgekehrt und nach allen Seiten. Die meisten jedoch blieben ruhig und flimmerten fort. Nur höchst ungern ließ ich mich von diesem Schauspiel abrufen, das ich genauer zu beob- achten gewünscht hätte. Auf Befragen wollte der Postillon zwar von einer solchen Erschei- nung nichts wissen, sagte aber, daß in der Nähe sich ein alter Steinbruch befinde, dessen mittlere Vertiefung mit Wasser angefüllt sei. Ob dieses nun ein Pandämonium von Irrlich- tern oder eine Gesellschaft von leuchtenden Geschöpfen gewesen, will ich nicht entschei- dert"6 Bemühungen von Fuhrleuten und der Reichspost, die Straße hinter Langenselbold in Richtung Gelnhausen ins Tal zu verlegen, hatte es einige Male gegeben. 1763 waren 30 Furhleute bereit, in Langenselbold bzw. in Rothenbergen den doppelten Wegzoll zu ent- 3 richten, um finanziell zur Verwirklichung der Baupläne beizutragen und 1777 veranlaßte die Regierungskanzlei in Meerholz (= Sitz der Grafschaft Ysenburg-Meerholz) das Gericht Gründau, zu dem Rothenbergen gehörte, 1000 Steinfuhren vom Herzberg bei Lieblos zur Baustelle der neuen Taltrasse. Es wird aber berichtet, daß die Fuhren wegen fehlender Geldmittel ins Stocken gerieten. Daher mußte 1793 die preußische Artillerie auf ihrem Marsch nach Frankreich noch über die Abtshecke geleitet werden.7 Erst in napoleonischer Zeit, als das Fürstentum Isenburg ein souveräner Rheinbundstaat geworden war, konnte 1810 die Taltrasse in Betrieb genommen werden. Sie führt am Fuße des Südabhangs der Abtshecke entlang. Die Strecke Langenselbold - Rothenbergen konnte nun gefahrlos ge- nommen werden. Rothenbergen, einst ein gräflich meerholzisches Dorf, hat eine enge, kurvenreiche Ortsdurchfahrt. Bis zur Eröffnung der Autobahn (A66) auf dem Streckenab- schnitt bis Gelnhausen rollte der gesamte Verkehr durch den Ort, denn dies war die stark befahrene B 40; zum Leidwesen vieler Bürger. In Rothenbergen liegt das Gasthaus „Zum Faß", das seit einigen Jahren allerdings seine Funktion eingebüßt hat und seither nur noch Wohnzwecken dient. Seit 1623 war dieser stattliche Gasthof im Besitz der Familie Schminck, der nach Einheirat in den Besitz der Namensträger Prinz überging. 1893 erwarb Friedrich Faß, ein ortsansässiger Landwirt, die Gast- und Schankwirtschaft mit allen Gerechtigkeiten. Diesen Namen trägt das Anwesen heute noch in der Bevölkerung. Viele Kaufleute und Reisende sind hier ein- und ausge- gangen. Am 30. Oktober 1813 übernachtete Napoleon I. bei seinem Rückzug aus Rußland in der großen Stube über dem Gastzimmer. Dabei hat er sicherlich über neue Pläne des weiteren Rückzugs nachgedacht.8 Die Gasthöfe sollten den Reisenden freundlich aufneh- men. Daß dies nicht immer der Fall gewesen ist, schildert Erasmus von Rotterdam: „Den Ankömmling begrüßt niemand. Wenn man lange genug gerufen hat, steckt einer zum Fenster der Gaststube den Kopf heraus. Mit einer Handbewegung wird man nach dem Stall gewiesen. Dein Pferd mußt du selbst versorgen, kein Knecht rührt die Hand. Heu ist in den Städten eine ebenso seltene und teure Ware wie Hafer. Wer eine Kritik äußert, kommt sofort zu hören: ,Wenn's Euch nicht paßt, so sucht Euch ein anderes Wirtshaus.' Besondere Zimmer, in denen man sich ausziehen und reinigen kann, werden einem nicht angewiesen. Man wird sofort gestiefelt, bepackt und verschmutzt, wie man ist, in die allen gemeinsame, große Gaststube geführt. Dort zieht man die Stiefel aus, wechselt das Hemd, hängt die vom Regen nassen Kleider an den Ofen und stellt
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