Ulrike Brunotte, Rainer Herrn (Hg.) Männlichkeiten und Moderne | GenderCodes | Herausgegeben von Christina von Braun, Volker Hess und Inge Stephan | Band 3 Ulrike Brunotte, Rainer Herrn (Hg.) Männlichkeiten und Moderne Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2008 transcript Verlag, Bielefeld This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Justine Haida, Bielefeld Korrektorat: Frank Zimmer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-707-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zell- stoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Inhalt ULRIKE BRUNOTTE, RAINER HERRN Statt einer Einleitung. Männlichkeiten und Moderne – Pathosformeln, Wissenskulturen, Diskurse ....................................................... 9 CORNELIA KLINGER Von der Gottesebenbildlichkeit zur Affentragödie. Über Veränderungen im Männlichkeitskonzept an der Wende zum 20. Jahrhundert .................................................................. 25 SABINE MEHLMANN Das sexu(alis)ierte Individuum – Zur paradoxen Konstruktionslogik moderner Männlichkeit .......................... 37 UTE FREVERT Das Militär als Schule der Männlichkeiten ...................................................... 57 CLAUDIA BRUNS Männlichkeit, Politik und Nation – Der Eulenburgskandal im Spiegel europäischer Karikaturen ........................ 77 MARTIN LÜCKE Komplizen und Klienten. Die Männlichkeitsrhetorik der Homosexuellen-Bewegung in der Weimarer Republik als hegemoniale Herrschaftspraktik ...................... 97 BIRGIT DAHLKE Proletarische und bürgerliche Jünglinge in der Moderne. Jugendkult als Emanzipationsstrategie und Krisenreaktion um 1900 ......... 111 CHRISTINA VON BRAUN Le petit mal du grand Mâle ............................................................................... 131 BETTINA MATHES »Sollte dieser Mann verunglückt sein?« »Doktor Faust« zwischen Freud und Busoni (Bruchstücke eines Dialogs aus dem Off) ....................................................... 143 JAY GELLER The queerest cut of all: Freud, Beschneidung, Homosexualität und maskulines Judentum ................................................... 157 RAINER HERRN Magnus Hirschfelds Geschlechterkosmos: Die Zwischenstufentheorie im Kontext hegemonialer Männlichkeit .......... 173 MARYLIN REIZBAum Die männliche Kunst der jüdischen »Degeneration« .................................... 197 JOSEPH CROITORU Zwischen Übermacht und Ohnmacht: Die Figur Simsons in der deutschen, völkischen und zionistischen Literatur um 1900 als Medium des kulturpolitischen Kampfes um hegemoniale Männlichkeit ............................................................................... 207 ULRIKE BRUNOTTE ›Große Mutter‹, Gräber und Suffrage. Die Feminisierung der Religion(swissenschaft) bei J.J. Bachofen und Jane E. Harrison ........................................................... 219 HubERTus BÜschEL Im »Tropenkoller« – Hybride Männlichkeit(en) in ethnologischen Texten 1900-1960 .............................................................. 241 TANJA PAULITZ Kämpfe um hegemoniale Männlichkeiten in der Ingenieurkultur um 1900 ....................................................................... 257 INGE STEPHAN Eisige Helden. Kältekult und Männlichkeit in den Polarphantasien von Georg Heym ....... 271 Zu den Autorinnen und Autoren ..................................................................... 287 Anton Räderscheidt, Selbstbildnis 1928, Öl auf Leinwand, 99 x 80 cm Privatbesitz, Hamburg Statt einer Einleitung. Männlichkeiten und Moderne – Pathosformeln, Wissenskulturen, Diskurse Ulrike Brunotte, Rainer Herrn Der kulturellen Etablierung des okzidentalen Konzepts hegemonialer Männ- lichkeit geht die reformatorische Aufhebung des Zölibats, die Entsakralisie- rung der Enthaltsamkeit und damit eine neue Verknüpfung von Gottesnähe und Sexualität voraus. »Doch stellt die programmatische Verweltlichung der Fami- lie, die Luther einleitet, nur einen Aspekt der reformatorischen Neuerungen dar. Der andere, dazu komplementäre Aspekt besteht in der Vergeistigung der irdischen Verhältnisse, in der Umleitung von Energien des Heiligen in die welt- lichen Institutionen« (Koschorke 2000: 149). Träger dieser Geistlichkeit ist in unterschiedlicher Form der Mann, insbesondere der idealisierte »Haus-Vater«. Auch der pater familias konnte als leiblicher Repräsentant des göttlichen Va- ters in der protestantischen Familie seine metaphysisch gesicherte Macht ausü- ben. Als »lachende Erbin« (Weber) des Protestantismus ist das aufklärerische Subjekt- und Männlichkeitsmodell hingegen eng mit der Diskursivierung des transzendentalen Vernunftsubjekts, der Herausbildung der bürgerlichen Nati- onalideologien und der funktional differenzierten Gesellschaft um 1800 ver- knüpft. Die modernen Männlichkeitsdiskurse entwickeln sich dabei paradox, wobei die zentralen Konstruktionsmodi idealtypischer moderner Männlichkeit den »Mann« sowohl »als ›überlegenes‹ Geschlecht als auch als geschlechts- neutralen ›allgemeinen‹ Menschen definieren« (Klinger 2005: 334; Beitrag Mehlmann). Einerseits wird damit das bürgerliche Subjekt gegen die funktio- nale Differenzierung der Gesellschaft, ihre Erschütterungen und ›wilden‹ Ur- sprünge philosophisch als transzendental, identisch und ›ganz‹ gesetzt, ande- rerseits basiert dieses Subjekt auf dem angsterfüllten Zwang ununterbrochener 1 | Vgl. die Natur- und Wildheitsszenarien der aufklärerischen Gesellschafts- vertragstheorien, besonders von Hobbes. 0 | ULRIKE BRUNOTTE/RAINER HERRN Selbstreflexion, so heißt es etwa in Kants »Kritik der reinen Vernunft« nicht mehr »Ich denke, also bin ich« (Descartes), sondern: »Das Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können, denn sonst würde etwas in mir vorge- stellt werden, was gar nicht gedacht werden kann […]« (Kant 1781: B132, 133). Zudem beginnt das Subjekt seine Sicherheit im Transzendentalen auch dadurch langsam zu verlieren, dass im etwa zeitgleich wirksam werdenden biologischen Zweigeschlechtermodell das männliche Geschlecht als physisches konzeptua- lisiert wird. Damit fungiert »der Körper als bedeutungsstiftendes Substrat für die Begründung des sozialen Geschlechts« (Mehlmann 1998: 99) und avanciert zugleich zum »erzeugungsmächtigen Analogienoperator« (Honegger 1991: 8). Nicht zuletzt in dieser diskursiven Paradoxie offenbart sich das zwischen Ver- nunft und ›Natur‹ gespaltene Subjekt selbst als Produkt der Moderne (Kucklig 2006). Dieselbe Paradoxie wiederholt sich in der Ausdifferenzierung und im Verhältnis von Gesellschaft – Berufs-, Erwerbswelt, Öffentlichkeit – einerseits und Gemeinschaft – Haus, Familie, Intimität – andererseits: Obwohl die mo- derne ausdifferenzierte Gesellschaft ›geschlechtsneutral‹ definiert ist, wird sie im 19. Jahrhundert zumindest für das hegemonial wirkmächtige Bürgertum naturalisiert und mit dem männlichen »Geschlechtscharakter« überformt (vgl. Hausen 1976; Kucklig 2006). Im Prozess der diskursiven Produktion hegemo- nialer Männlichkeit kommt nun den neuen lebenswissenschaftlichen und visu- ellen Regimen eine ebenso große Bedeutsamkeit zu wie dem Nachleben (War- burg) oder der Nachahmung (Winckelmann) antiker Pathosformeln und Ästhe- tiken der Maskulinität. Vor allem diese tragen die öffentliche Bildwerdung des hegemonialen weißen Subjekts (Mosse 1997; Schmale 2003: 149-195). In der zugleich körperzentrierten und vergeistigenden Performanz der Subjektwer- dung qua erhebender Schmerz- und Schrecküberwindung durch Selbst-Wissen treffen sich um 1800 die neoklassizistischen Diskurse des Erhabenen, Edlen und Schönen mit solchen der Physiologie, der Maskulinität und der politischen Nationenbildung. Connell hat in diesem Zusammenhang zu Recht auf den »re- lationalen Charakter« (Connell 1999: 188f.) und die historische Machtdynamik (ders. 2005) hingewiesen, in der sich die jeweils hegemoniale Männlichkeit gegenüber anderen Männlichkeiten bewegt und diskursiv wie in sozialer Pra- xis durchsetzt. Dabei handelt es sich bei diesem Anderen bereits im aufkläre- rischen Diskurs nicht nur um das »andere Geschlecht« der Frauen, sondern um die als ›wild‹ und ›unbeherrscht‹ definierten Männer der Kolonien, des »Ori- ents« oder der unteren Schichten. Longue dureé und Pluralität von Männlichkeiten Im Zentrum der normativen Bildregime und Diskurse des Bildungsbür- gertums finden wir um 800 die Gestalt des Laokoon. Die Frage, warum sich ein bestimmtes Stereotyp, wie das mit Laokoon verbundene, auch in der Konkurrenz visueller und narrativer Regime ebenso als Faszinations- bild wie als Ethos von Körperzucht und Nationenbildung innerhalb einer MÄNNLICHKEITEN UND MODERNE | 11 konkurrierenden Pluralität von Männlichkeitskonstruktionen durchzuset- zen vermag, lässt zugleich nach der longue durée von Männlichkeitsmodel- len überhaupt fragen. Auf die Ambivalenz von historischer Pluralität der Männlichkeiten und der bisher nicht zureichend erklärten longue durée be- stimmter vormoderner, ja mythisch-ritueller Formen, Figuren und Hand- lungsmuster von männlicher Herrschaft haben neben Pierre Bourdieu (998/2005) zuletzt George Mosse (997) und Walter
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