Politik Ohne Alternative? Probleme Einer Geschichte Der Arbeiterbewegung in Der Endphase Der Weimarer Republik*

Politik Ohne Alternative? Probleme Einer Geschichte Der Arbeiterbewegung in Der Endphase Der Weimarer Republik*

65 Heinrich August Winkler Politik ohne Alternative? Probleme einer Geschichte der Arbeiterbewegung in der Endphase der Weimarer Republik* Was ich Ihnen heute vortragen möchte, sind Überlegungen im Zusam- menhang mit dem letzten Band meiner dreibändigen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik. Der Band be- faßt sich mit der Endphase von Weimar, der Zeit vom Sommer 1930 bis zum Januar 1933, in der die erste deutsche Republik nicht mehr parla- mentarisch, sondern mit Hilfe von Notverordnungen des Reichspräsi- denten regiert wurde. Drei Fragen sind es, denen ich mich heute beson- ders zuwenden will. Erstens: Was sind die Ursachen dafür, daß die parlamentarische Demokratie im März 1930 gescheitert ist? Zweitens: Welche Handlungsspielräume hatte die Sozialdemokratie in der Zeit des ersten Präsidialkabinetts Brüning? (Es ist diese Zeit, von Ende März 1930 bis Anfang Oktober 1931, mit der ich mich im folgenden besonders befassen möchte, wobei das Für und Wider der »Tolerierungspolitik«, der parlamentarischen Stützung Brünings ab Oktober 1930, im Mittelpunkt stehen wird.) Drittens: Welche allgemeineren Schlußfolgerungen für die historische Urteilsbildung könnten sich aus dem engeren Thema meiner Arbeit ergeben? I. Zum ersten Abschnitt also, der Frage nach den Ursachen für das Schei- tern der parlamentarischen Demokratie. Eines der klügsten Urteile über Weimar stammt von Aristoteles. In seiner »Politik« bemerkt er einmal, der Anfang sei schon die Hälfte des Ganzen. Das gilt in der Tat auch für die Weimarer Republik und ihre revolutionäre Entstehungsgeschichte. Die deutsche Revolution von 1918/19 ist bis heute ein kontroverses Ereignis geblieben. Aber zweierlei ist unbestritten. Erstens: Der Verlauf der Revolution hatte eine prägende Wirkung auf die gesamte Republik. Und zweitens: Diese Revolution war keine der »klassischen« Revolutio- * Vortrag, gehalten am 4. 2. 1986 im Wissenschaftskolleg zu Berlin. 66 Wissenschaftskolleg • Jahrbuch 1985/86 nen, nicht vergleichbar der großen französischen Revolution von 1789 und auch nicht der russischen Oktoberrevolution von 1917. 1918/19 vollzog sich in Deutschland ein politischer Systemwechsel, keine gesellschaftliche Umwälzung. Es gab ein hohes Maß an Kontinui- tät, ja man kann von »Überkontinuität« sprechen. Zwei Gründe möchte ich zunächst zur Erklärung heranziehen: Der erste ist der in Deutschland erreichte Grad an Industrialisierung, der zweite der Grad an Demokratisie- rung. Die Revolution von 1918/19 war die erste Revolution in einer hochentwickelten, arbeitsteiligen Industriegesellschaft. Eine solche Ge- sellschaft verträgt offenbar radikale Umwälzungen viel schwerer als über- wiegend agrarische Gesellschaften (wie, beispielsweise, die französische von 1789 oder die russische von 1917). Eduard Bernstein, der Vater des sozialdemokratischen Revisionismus, hat 1921 in seinem Buch über die deutsche Revolution angemerkt, wie in der Biologie seien auch in der menschlichen Gesellschaft primitive Organismen leichter umzubilden als komplexere. Ich zitiere: »Je vielseitiger ... ihre innere Gliederung, je ausgebildeter die Arbeitsteilung und das Zusammenarbeiten ihrer Or- gane bereits sind, umso größer die Gefahr schwerer Schädigung ihrer Lebensmöglichkeiten, wenn versucht wird, sie mit Anwendung von Ge- waltmitteln in kurzer Zeit in bezug auf Form und Inhalt radikal umzubil- den. Gleichviel, ob sie sich darüber Rechenschaft ablegen oder nicht, haben die maßgebenden Führer der Sozialdemokratie das aus der Ein- sicht in die tatsächlichen Verhältnisse begriffen und ihre Praxis in der Revolution danach eingerichtet.« Bernsteins These deckt sich mit einer Ansicht, die in jüngster Zeit vor allem von Richard Löwenthal vertreten wird: Industriegesellschaften bedürfen, um zu funktionieren, eines hohen Maßes an administrativer Kontinuität. Löwenthal sieht darin den entscheidenden Grund für den Konsens zwischen den sozialdemokratischen Volksbeauftragten von 1918/19 und den Massen ihrer Anhänger - einen Konsens, der im wesent- lichen in einem Anti-Chaos-Reflex bestand. Auch auf die Folgen der Demokratisierung hat bereits Bernstein hinge- wiesen. Deutschland kannte, bis zum Oktober 1918, kein parlamentari- sches System, wohl aber (seit 1867 im Norddeutschen Bund, seit 1871 im Deutschen Reich) das allgemeine, gleiche Männerwahlrecht. Die Ge- wöhnung an das allgemeine Wahlrecht hatte zur Folge, daß es in Deutsch- land, anders als im zaristischen Rußland, keinen Boden für die Parole »Diktatur des Proletariats« gab. Das allgemeine Wahlrecht war ein tra- dierter Teilhabeanspruch. Er schlug sich Ende 1918 im Ruf nach baldigen Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung nieder. Der Grad der Industrialisierung und der Grad der Demokratisierung sind Gründe dafür, daß es in Deutschland 1918/19 nicht zu einer radika- len gesellschaftlichen Umwälzung kam. Aber sie erklären nicht, warum Heinrich August Winkler 67 die regierenden Sozialdemokraten die vorhandenen Handlungsspiel- räume nicht nutzten - Handlungsspielräume für Eingriffe, die der er- strebten parlamentarischen Demokratie ein festes soziales Fundament gegeben hätten. Ich denke dabei an die Republikanisierung des Militärs, die Demokratisierung von Verwaltung und Justiz, die Vergesellschaftung des Steinkohlenbergbaus. In allen diesen Bereichen hätte es darum ge- hen müssen, Bollwerke von Kräften zu schleifen, die aus der Zeit des Kaiserreiches als geschworene Gegner einer Demokratisierung bekannt waren. Geschehen ist in dieser Hinsicht nichts, und ich sehe dafür vor allem einen Grund: die überlieferte sozialdemokratische Spielart von Mar- xismus. Sie bestand im Kern aus dem Glauben, daß die Geschichte zwangsläufig den Sozialismus hervorbringen werde. Folglich durfte man der Geschichte nicht zur Unzeit ins Handwerk pfuschen - etwa durch eine übereilte Sozialisierung. Der Sozialismus sollte nicht diskreditiert werden, und das war nur sicherzustellen, wenn er blieb, was er war: Theorie. Nach den Ursachen nun zu den Folgen der Überkontinuität. Da war erstens die Chance der »alten Eliten«, ihre vorübergehend in Frage gestellten Machtpositionen zu befestigen und die Zugeständnisse von 1918 zu revidieren. Der Industrie gelang das Ende 1923, als der Achtstun- dentag, die wichtigste soziale Errungenschaft aus der Revolutionszeit, faktisch weitgehend aufgehoben wurde. Der Triumph der vorindustriel- len Trägerschicht des alten Preußen war womöglich noch größer: Sie konnte 1925 die Wahl des Generalfeldmarschalls von Hindenburg zum Reichspräsidenten erreichen. Die preußische Grundaristokratie bewies damit wieder einmal ihr Geschick, Massen zu mobilisieren - eine Fähig- keit, welche den deutschen Großunternehmern in viel geringerem Maß eigen war. Eine zweite Folge der Überkontinuität waren die Schwierigkeiten der Sozialdemokratie, der Staatsgründungspartei von Weimar, in der Repu- blik ihren Staat wiederzuerkennen und sich mit Weimar vorbehaltlos zu identifizieren. Es ist keine Übertreibung, von einem tiefen Zwiespalt in der Weimarer Sozialdemokratie zu sprechen. Die eine Seele in ihrer Brust sehnte sich nach der »natürlichen« Oppositionsrolle zurück, die ihr im Kaiserreich zugefallen war. Die andere Seele wollte die Macht im Staat festhalten (das war in Preußen der Fall) oder wiedererobern (das war so im Reich zwischen 1924 und 1928). Die Folge dieses inneren Konflikts war, daß die SPD ihren Normalzustand weder in der unbedingten Oppo- sition noch in der offenen Mitregierung fand, sondern in der unechten Koalition - in Gestalt der Tolerierung von bürgerlichen Minderheitsre- gierungen, ja sogar der teilweisen Tolerierung rechter Mehrheitsregie- rungen. Stresemann konnte seine Außenpolitik in den Jahren 1924 bis 1928 nur auf Grund dieser Haltung der Sozialdemokratie betreiben. 68 Wissenschaftskolleg • Jahrbuch 1985/86 Die letzte formelle Koalitionsregierung mit sozialdemokratischer Be- teiligung, die letzte Mehrheitsregierung überhaupt - die Große Koalition unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller in den Jahren von 1928 bis 1930 - ist im März 1930 nur vordergründig an einem Streit um die Arbeitslosenversicherung gescheitert. (Die rechte Flügel- partei, die unternehmerfreundliche Deutsche Volkspartei, wollte die Lei- stungen senken und die Beiträge nicht erhöhen, die linke Flügelpartei, die SPD, wollte umgekehrt die Beiträge erhöhen und die Leistungen erhalten.) Die tieferen, strukturellen Gründe fasse ich in einer These zusammen: Was 1929/30 zur Diskussion stand, waren auf der einen Seite die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Sozialen und auf der anderen Seite die sozialen Rahmenbedingungen der Wirtschaft. Sozialdemokraten und Freien Gewerkschaften ging es darum, die sozialen Errungenschaften, darunter die 1927 eingeführte Arbeitslosen- versicherung, und das erreichte Lohnniveau auch in der Krise zu verteidi- gen - und das nicht zuletzt, um der Republik die Loyalität der Arbeiter zu sichern. Sozialer Abbau bedeutete für die SPD immer ein erhöhtes Risiko, Arbeiter an die kommunistische Konkurrenz zu verlieren. Koali- tionspolitik war nach sozialdemokratischer Mehrheitsmeinung also nur gerechtfertigt, wenn die sozialen Leistungen erhalten blieben. Abschied von der Koalition durfte die SPD mithin auch dann nehmen, wenn es keine parlamentarische Alternative zur bestehenden (Großen) Koalition gab - und ebendies war im Frühjahr 1930 der Fall. Die Deutsche Volkspartei und die Unternehmer waren hingegen der Meinung, daß die sozialen Errungenschaften zu teuer und die Löhne überhöht waren. Eine Korrektur hielten sie auch

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