Der Neue Heimatklang Popmusiker Aus Deutschland Haben Sich Einen Stolzen Anteil Am Musikmarkt Erobert – Und Singen Manchmal Sogar Über Patriotische Gefühle

Der Neue Heimatklang Popmusiker Aus Deutschland Haben Sich Einen Stolzen Anteil Am Musikmarkt Erobert – Und Singen Manchmal Sogar Über Patriotische Gefühle

DERNER / ACTION PRESS Popband Silbermond in Bochum (2004): Auf den ersten zehn Plätzen der deutschen Album-Hitparade Der neue Heimatklang Popmusiker aus Deutschland haben sich einen stolzen Anteil am Musikmarkt erobert – und singen manchmal sogar über patriotische Gefühle. / Von Christoph Dallach er seit vielen Jahren stolzeste tikern gelobt und verkaufen ihre Alben in Die deutsche Musikindustrie selbst ist Triumph der heimischen Pro- hohen Auflagen. „Wir konnten uns nicht schon seit ein paar Jahren in einer schwe- duktion blieb nahezu unbe- vorstellen, dass Rockmusik auch auf ren Krise. Die Umsatzzahlen sind trotz Dmerkt – und das, obwohl die Deutsch funktionieren kann“, berichtet leichter Erholung immer noch mies, ver- Manager der Plattenindustrie ihn seit Jah- Juli-Sängerin Eva Briegel, die mit dem antwortlich dafür sind unter anderem sehr ren lautstark herbeizureden versucht hat- Song „Perfekte Welle“ einen der großen hohe (und erst in jüngster Vergangenheit ten: Auf den ersten zehn Plätzen der deut- Hits des vergangenen Jahres feiern konn- zaghaft abgesenkte) CD-Preise, die das schen Album-Hitparade fanden sich im te, außerdem „fanden wir es noch vor ein private Schwarzbrennen von CDs zur Fol- vergangenen September plötzlich Werke paar Jahren uncool, Deutsch zu singen“. ge hatten. Tatsache ist aber auch: Auf dem deutscher Musiker: die CDs von Bands Nun ist Deutsch-Rock plötzlich cool. geschrumpften Markt werden immer mehr und Solokünstlern mit Namen wie Silber- Besonders viel Rummel – kaum geringer einheimische Produkte verkauft. mond, 2raumwohnung, Gentleman, Söh- als der um angloamerikanische Musik- Dabei hat sich in deutschen Landen ne Mannheims, Die Ärzte, Reamonn und Neuerscheinungen von George Michael eine Vielzahl von höchst unterschied- Max Herre. oder Coldplay – gab es in diesem Frühjahr lichen Musikstilen etabliert. Da gibt es Der verblüffende Hitparadenerfolg be- um das neue Werk der Band Wir sind Hel- die grüblerischen Rock-Intellektuellen der legt, dass Popmusik made in Germany sich den: Schließlich haben es die Wahl-Berli- sogenannten Hamburger Schule, zu der eine starke Position auf dem Markt er- ner um Sängerin Judith Holofernes mit Bands wie Tocotronic oder Blumfeld ge- kämpft hat – ganz ohne die von manchen ihrem vor knapp zwei Jahren erschiene- rechnet werden; die deutschsprachigen Politikern und Branchenmenschen gefor- nen Debütalbum „Die Reklamation“ auf HipHopper wie die Absoluten Beginner, derten, gesetzlich verordneten Hilfsmaß- fast eine halbe Million verkaufter Kopien Fettes Brot oder die Fantastischen Vier; nahmen für deutsche Musikprodukte. gebracht und gelten damit als wohl größ- die massenwirksamen Pop-Großmeister Junge Musiker aus Bands wie Mia, Juli te Branchen-Überraschung der vergange- wie Die Ärzte oder Rosenstolz; die Sän- oder Virginia Jetzt! werden von den Kri- nen Jahre. gerinnen der Rockbands Juli und Silber- 216 spiegel special 4/2005 KULTUR mond; und dazu noch Soul-Schlagersänger wie Xavier Naidoo. Doch jenseits aller Geschmacksfragen gilt: Songs in deutscher Sprache sind sowohl beim ganz jungen als auch beim ergrauenden Erwachsenen- publikum beliebt wie schon lange nicht mehr. „Neue Heimat“ oder „Müssen alle mit“ heißen CDs, auf denen Lieder vieler der aktuellen Erfolgsbands versammelt sind. „Du und viele von deinen Freunden“ lautet der Titel eines telefonbuchdicken Buchs, für das die Journalistin Astrid Vits Interviews mit gleich 34 derzeit populären Bands und Solokünstlern gesammelt hat. In diesem Interview-Buch zeigt sich ebenso wie in den Texten von Musikjour- nalisten in Fachblättern wie „Spex“ oder „Musikexpress“: Die Frage nach dem Zu- stand der deutschen Popmusik führt fast zwangsläufig zum Nachdenken über die nationale Identität der (jüngeren) Deut- Popgruppe Wir sind Helden mit Sängerin Holofernes schen. Gestritten wird unter Musikern und Kritikern am liebsten darüber, wie deutsch man sich als deutscher Musiker überhaupt gebärden darf. Die Berliner Popband Mia singt Text- zeilen wie „Fragt man mich jetzt, woher ich komme, tu ich mir nicht mehr selber Leid“, die aus Brandenburg stammenden Jungs von Virginia Jetzt! behaupten: „Das ist mein Land, meine Menschen.“ Solche keineswegs besonders pompösen patrioti- schen Töne sind Anlass für ziemlich hitzi- ge Diskussionen: „Halt’s Maul, Deutsch- land“, betitelte etwa die „Spex“-Redak- tion eine Ausgabe der Zeitschrift. Und Bands wie Blumfeld oder Tocotro- nic, die als irgendwie fortschrittlich und in- tellektuell gelten, verkündeten, dass sie mit Aufrufen zum Nachdenken über Deutschland bitte schön nicht behelligt werden möchten. Allerhand Medienlärm gab es jüngst JAN SCHUERMANN JAN auch um die Forderung nach einer Popgruppe Fettes Brot in Oberhausen Zwangs-Radioquote für deutsche Produk- te nach französischem Vorbild. Dort ist per Gesetz festgelegt, dass 40 Prozent al- ler tagsüber im Radio gespielter Songs französischsprachig sein müssen. Als Agi- tatoren für eine deutsche Quote aber ta- ten sich in Deutschland vor allem hoff- nungslos abgemeldete Musiker-Senioren wie der Barde Heinz Rudolf Kunze hervor – auch deshalb ist die Diskussion fürs Erste folgenlos geblieben. Ohnehin erinnern sich ältere Menschen noch gut an Zeiten, in denen die populä- re Musik in Deutschland fast ausschließ- lich von deutsch singenden Künstlern be- herrscht wurde. Trotz eines enormen Nachholbedarfs etwa in Sachen (unter der Nazi-Herrschaft verbotener) amerikani- scher Jazzmusik wollten die Musikhörer der Nachkriegszeit zunächst nicht allzu viel von Songs in der Sprache der Besat- zer wissen: Wirklich erfolgreich in den fünfziger Jahren waren der sogenannte Popgruppe Virginia Jetzt!: Streit über die Frage, wie deutsch man sein darf Schlager und dessen Helden von Conny spiegel special 4/2005 217 KULTUR Froboess („Pack die Badehose ein“) über Freddy Quinn („Heimatlos“) bis zu Vico Torriani („Siebenmal in der Woche“). Als der Rock’n’Roll 1958 nach Deutsch- land kam und Bill Haley für Randale in Hamburg, Berlin und Essen sorgte – auf- gekratzte Halbstarke zertrümmerten zu „Rock Around the Clock“ das Inventar der Konzertsäle –, galt er den meisten deutschen Kritikern als Teufelszeug. Das DDR-Staatsorgan „Neues Deutschland“ beklagte gar eine „Orgie der amerikani- schen Unkultur“. Selbst der Siegeszug der Beatles, der 1960 in Hamburger Spelunken wie der Indra begann, änderte nichts daran, dass die meisten angloamerikanischen Hits erst in deutscher Sprache nachgesungen wer- den mussten, damit sie auch hierzulande ein Massenpublikum begeistern konnten. Das zeitigte oft kuriose Übersetzungs- leistungen – so wurde zum Beispiel aus Sandie Shaws Hit „Puppet on a String“ im Deutschen „Wiedehopf im Mai“. Zugleich ließen sich viele internatio- nale Größen wie Elvis Presley, die Beat- les, Johnny Cash, die Beach Boys oder die Supremes von ihren Plattenfirmen zu Aufnahmen in deutscher Sprache nöti- gen – auch das hatte allerlei exotischen Blödsinn zur Folge. Die deutschen Beatbands der Sechziger klangen noch wie Kopien angelsächsischer Vorbilder, Anfang der Siebziger aber machten sich spätere Rockhelden wie Udo Lindenberg (sein erstes deutschsprachi- ges Album hieß 1972 „Daumen im Wind“) und die Musiker von Ton Steine Scherben mit Mut und Talent daran, Songs in deut- scher Sprache zu singen. Eine echte Sen- sation war es, als 1975 die Düsseldorfer Band Kraftwerk mit dem Album „Auto- bahn“ in den Top Ten der amerikanischen Hitparade landete – derart Furore hatte populäre Musik aus Deutschland in den USA nicht mehr gemacht, seit Bertolt Brecht und Kurt Weill mit den Songs der 1928 uraufgeführten „Dreigroschenoper“ ein Welterfolg gelungen war. Die Kraftwerk-Musiker begründeten ihren bis heute stabilen Ruhm mit Songs, die für typisch deutsche Tugenden wie Unnahbarkeit, Perfektion und eine ge- wisse Kälte zu stehen schienen. Gleich- falls internationale Anerkennung, wenn- gleich ohne wirklich spektakuläre Ver- kaufserfolge, verschafften sich seit Ende der sechziger Jahre auch die sogenannten Krautrocker: deutsche Bands wie Amon Düül, Tangerine Dream oder Can, die mit einer häufig ohne Gesang auskommen- den, oft atemberaubenden Mischung aus Rock, Jazz, Elektronik und Gaga einen ei- genen Stil schufen. Angloamerikanische Popgrößen wie David Bowie oder Beck schwärmen heute noch von den großen Platten der Krauts. Ansonsten interessierte man sich jen- seits der deutschen Sprachgrenzen eher 218 Sätze wie „Ein Mensch brennt“ her- ausbrüllen. Doch bei aller Kritik: Rammstein gelingt eine virtuose In- szenierung, ihr teutonischer Mix aus Wagner-Pomp und Rock-Wahnsinn beeindruckt Amerikaner und Briten bis heute. Fröhlicher und harmloser wirken da jene deutschen Musiker, die mit Techno- und Rave-Beats für Aufse- hen sorgen: DJs, Produzenten und Musiker wie Sven Väth oder Paul van Dyk füllen bis heute Clubs von Basel bis Bombay. Der lebendigste und vor allem fürs junge Publikum aufregendste Markt der deutschen Popszene aber ist die deutschsprachige HipHop-Kultur. Seit Beginn der neunziger Jahre wi- derlegen Hunderte Rapkünstler die Musikkritiker-Behauptung, man kön- ne den aus Amerikas Ghettos stam- menden Sprechgesang nicht auf TEUTOPRESS (L.); INTER-TOPICS (R.) (L.); INTER-TOPICS TEUTOPRESS deutsche Verhältnisse übertragen, Roboter der Gruppe Kraftwerk, Sängerin Nena: Eine echte Sensation ohne dass dies komplett lächerlich wirke. wenig für deutsch singende Pop- und Punks von Abwärts Zeilen wie „Stalin- Der erste große Wurf gelang ausge- Rockhelden wie Marius Müller-Western- grad, Stalingrad/ Deutschland Katastro- rechnet ein paar Stuttgarter Jungs, den hagen, Herbert Grönemeyer

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