Sprachstrategien im Bereich der Maxime des optimierbaren Lebens Die Kritik des Untoten-Diskurses in Texten von Elfriede Jelinek Moira Mertens (Wien) I. Der Diskurs des Untoten Alle Bemühungen enden bei Jelineks Untoten, gegenläufig zum potentiell therapeutischen Zweck, immer wieder im Kannibalismus, Sadismus und Masochismus einer Infantilgesellschaft. 1 Nicht erst seit dem Roman Die Kinder der Toten entwerfen Texte von Elfriede Jelinek ein hybrides, nekromantisches Erinnerungsprojekt, in dem die Toten der Gegenwart zusammen mit den Toten der Shoah erinnert und gleichzeitig einer fiktional-symbolischen Wiedererweckung unterzogen werden. Lebende Tote, von Jelinek auch als „Kadaver aus Sprache“ 2 bezeichnet, führen seit dem Kurzprosatext DER FREMDE! störenfried der ruhe eines sommerabends der ruhe eines friedhofs ein beunruhigendes, wenn nicht gar enervierendes ‚Vermischungsverhältnis‘ mit den Lebenden der Textgegenwart. Elfriede Jelineks Werk gewinnt seine Energie aus der kannibalistischen und autoaggressiven Gewalt sogenannter Untoter, VampirInnen, monströser Doppelgeschöpfe, verwesenden Zombies und Mumien: Der Bogen spannt sich vom ersten Essay Die endlose Unschuldigkeit , in dessen Theorie- und Medienmix, chronologische Bruchstücke der Vergewaltigung nancy winters durch einen Vampir eingebaut sind, bis zum Hypertext des Gothic Horror Die Kinder der Toten , von Krankheit oder Moderne Frauen bis zu den Prinzessinnendramen . Die hartnäckig verfolgte Nekrotik, die noch die neueren Dramen Schatten (Eurydike sagt) , Rein Gold und Die Straße. Die Stadt. Der Überfall bestimmt, bildet den Nährboden der beißenden Zeitkritik, mit der sich Jelinek wütend für ein Erinnern des Holocaust und des Faschismus und gegen den gegenwärtigen Rassismus, gegen Fremden- und Frauenfeindlichkeit sowie gegen die materielle und immaterielle Ausbeutung der Menschen im Informationszeitalter richtet. 1 Lux, Joachim: Ja, ich öffne ihnen jetzt die Augen . In: Programmheft des Wiener Akademietheaters zu Elfriede Jelineks „Babel“ 2005, o.S. 2 Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten . Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 117. Neben dem Phantasma der Untoten lauern in ihren Texten allerdings ebenso Hinweise auf organische Überreste, die offensichtlich Zeugnisse brutaler Gewalt oder aber des rationell- technischen Umgangs mit dem menschlichen Leben sind. Zerstückelte Körperlandschaften erinnern zum Beispiel in DER FREMDE! als „menschenmauer […] aus leibern rümpfen und gliedmaßen“ 3, in wir sind lockvögel baby! als „menschenböschung“ 4 oder in Die Kinder der Toten als alpine, hautfaltige „mit Menschenwachs geölte“ 5 „Fleischlandschaft“ 6 an die Leichenberge der Massenmorde des 20. Jahrhunderts. Im gleichen Roman vermag die „Embryonalmasse“ 7 an die ‚frozen angels‘ erinnern, die als nicht definierter Biomassebestand in biotechnischen Laboren lagern. Doch die „Fragmentierung des Biologischen“ 8 macht auch vor den Figuren keinen Halt: Nicht erst die neueren Texte wie Aber sicher! (2. Akt) 9, in dem eine Frauenleiche aufgrund fehlender, lebender DNS nicht als die Rosa Luxemburgs identifizierbar ist, gehen auf die Methoden der Bio-Medizin ein, die Körper in „Blut, Organe, Gene oder das Gehirn“ 10 und mit Jelinek könnte man noch ergänzen in Haut, Haar, Zähne, Nägel und Fett zerlegen. Bereits in wir sind lockvögel baby! ist die Vermischungsfigur otto unter anderem „ein bewährter organspender“ 11 , der für die im Roman vollzogene erste Herztransplantation als Organlager dient, womit die erste Herztransplantation von 1967 und das Hirntodkriterium von 1968 kritisch kommentiert wird. Die Untoten in Die Kinder der Toten schließlich leben in einer sogenannten „Lagergemeinschaft“ 12 mit den Lebenden, sie sind abhängig von lebensverlängernden medizinischen Eingriffen (Organtransplantationen, Herzschrittmachern) und existieren durch Einverleibungen, die in einer Vermischung und Verdopplung der Figuren sowie in der Verschlingung anderer besteht. 13 Besonderes Augenmerk der Texte bildet die Matrix einer als nicht gelingend dargestellten Optimierung des Lebens, wie sie durch das Verhältnis der Lebenden zu den Toten, die damit verbundenen Themen der Vergangenheitsbewältigung, die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten, die 3 Jelinek, Elfriede: DER FREMDE! störenfried der ruhe eines sommerabends der ruhe eines friedhofs . In: Handke, Peter (Hg.): Der gewöhnliche Schrecken. Horrorgeschichten. Salzburg: Residenz Verlag 1969, S. 155. 4 Jelinek, Elfriede: wir sind lockvögel baby! Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996, S. 206. 5 Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten . Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 103. 6 Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten . Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 105. 7 Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten . Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 631. 8 Lemke, Thomas: Die politische Ökonomie des Lebens – Biopolitik und Rassismus bei Michel Foucault und Giorgio Agamben . In: Bröckling, Ulrich u.a. (Hg.): Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie. Literatur und Politik. Tübingen: Narr 2004, S. 257-274, hier S. 268. 9 Jelinek, Elfriede: Aber sicher! 2. Akt. Was bleiben kann, wenn man es weglässt . In: Berz, Peter u.a. (Hg.): Spielregeln. 25 Aufstellungen. Eine Festschrift für Wolfgang Pircher. Zürich: Diaphanes 2012, S. 307-316. 10 Lemke, Thomas: Die politische Ökonomie des Lebens – Biopolitik und Rassismus bei Michel Foucault und Giorgio Agamben . In: Bröckling, Ulrich u.a. (Hg.): Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie. Literatur und Politik. Tübingen: Narr 2004, S. 257-274, hier S. 269. 11 Jelinek, Elfriede: wir sind lockvögel baby! Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996, S. 171. 12 Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten . Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 395. 13 Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten . Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 395. Biopolitik oder durch die Verortung des Menschen im Zeitalter digitaler Virtualisierung generiert werden. Die Maxime eines optimierbaren Lebens erscheint dabei oft als Zwang, der, internalisiert, die Selbstwahrnehmung der Figuren bestimmt. Das heißt, im Umkehrschluss geht es in Jelineks Texten um die Frage nach dem Leben selbst und darum durch welche Praktiken und Strategien es codiert und definiert wird. Ausgehend von dieser Frage fasse ich Jelineks ästhetischen Umgang mit dem/n Untoten und entwerfe Thesen zur Kritik des Rassismus sowie der Kritik der Biopolitik in Jelineks Texten. II. Annäherung an den Begriff ‚untot‘: sprachstrategische Ökonomisierungen des Lebens Jelineks Auseinandersetzung mit dem Diskurs des Untoten umfasst ein Spektrum, das sich auf phantastischer, ästhetischer, thematischer und der rhetorischen Ebene vollzieht. Jelineks Texte geben keine Antworten, sondern stoßen durch ihre ästhetisch-dekonstruierenden Verfahren in Grauzonen, die sprachlich-ethisch unklar sind. In einem E-Mail-Austausch mit Joachim Lux erklärt die Autorin: Ich spreche von dem, was verschwunden ist und versuche, es wieder erscheinen zu lassen. Also nicht nur das Verschwundene und das Verborgene, sondern das Ungesprochene. Deshalb versuche ich ja, alles so zu sagen, (und damit auch zu tun), als wäre es so noch nicht gesagt worden. Es ist aber natürlich alles schon längst gesagt! Nicht einmal der Mann kann alles neu sagen. 14 Jelineks Obsession ist es, an die Triebe, das Unbewusste und Vergessene literarisch- sprachlich heranzukommen. Das nennt die Autorenstimme in Lust: „[…] hören Sie! Die Sprache selbst will jetzt sprechen gehen!“ 15 Mit Markus Metz und Georg Seeßlen gehört gerade der Bereich des Untoten einer solchen Grauzone an, da der Begriff des Untoten mit einer „gezielten Unschärfe“ 16 operiert. Auch Jelineks kalauernde Texte bedienen sich dieser Unschärfe auf sprachlich-semantischer Ebene; aber woher kommt sie und was bedeutet sie? Untot heißt entweder ‚nicht ganz lebendig‘ oder ‚nicht ganz tot‘ – beide Zustände sind im Bereich der Logik des Lebens nicht unbedingt wünschenswert, denn Leben und Tod sollten voneinander getrennt sein. Die Unschärfe von ‚untot‘ ist zunächst sprachlich in der semantischen Mehrdeutigkeit verortbar, die von der Wortbildung mit dem Präfix ‚un-‘ herrührt. Sogenannte Un-Affigierungen können einerseits als Negierung (= nicht tot) 14 Jelinek, Elfriede: Was fallen kann, das wird auch fallen. E-mail-Korrespondenz zwischen Elfriede Jelinek und Joachim Lux . In: Das Werk. Burgtheater. Heft 77/Spielzeit 2002/2003, S. 9-21, hier S. 21. 15 Jelinek, Elfriede: Lust . Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 28. 16 Metz, Markus / Seeßlen, Georg: Wir Untote! Über Posthumane, Zombies, Botox-Monster und andere Über- und Unterlebensformen in Life Science & Pulp Fiction . Berlin: Matthes & Seitz 2011, S. 19. andererseits als pejorativ-abschwächende Kontradiktion des Oppositionswortes (= weniger lebendig) verstanden werden. ‚Untot‘ als Negation kann dementsprechend biologische Zustände beschreiben, die mit Oliver Müller als weder tot noch lebendig beschreibbar sind, weil sie zwar organisch, aber synthetisches biologisches Material sind, das in biomedizinischen Laboren hergestellt wird. 17 Auch die Phänomene des Medienzeitalters sind mit Friedrich Kittler als ‚untot‘ zu beschreiben, da sie auf die Simulation des Lebendigen und sogar des psychischen Selbst in den virtuellen Realitäten abzielen. 18 Im phantastischen Bereich wird ‚untot‘ (= nicht ganz tot) zeitlich verstanden: Es bezeichnet „die Fiktion des den Tod beziehungsweise die Mortifikation voraussetzenden „Nach“lebenden“ 19 . Das heißt, es gibt ein (pop-)kulturelles Set an Bildern wie Zombies, VampirInnen oder lebendig gewordene Dinge, die die
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