Auf der Suche nach dem verlorenen Ich Wolfgang Koeppens Spätwerk Zur Erlangung des akademischen Grades eines DOKTORS DER PHILOSOPHIE (Dr. phil.) von der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Karlsruhe angenommene DISSERTATION von Matthias Kußmann aus Karlsruhe Dekan: Prof. Dr. Bernd Thum 1. Gutachter: Prof. Dr. Hansgeorg Schmidt-Bergmann 2. Gutachter: Prof. Dr. Jan Knopf Tag der mündlichen Prüfung: 8. November 2000 Inhalt 1 Einleitung 1 2 Übergang − Der Weg zum Spätwerk 17 3 "Wir sind von Anbeginn verurteilt" − Jugend (1976) 39 3.1 Zeitgeschichte, Gesellschaft und Architektur als Kulissen 41 3.2 Anfang und Ende: Mutterbindung, Verurteilung, Schuld 46 3.2.1 Der Anfang von Jugend 46 3.2.2 Der letzte Abschnitt von Jugend 55 3.3 Zur Chronologie der Lebensgeschichte 65 3.3.1 Genesis und Apokalypsis als formaler Rahmen 65 3.3.2 Stationen des Scheiterns 67 3.4 Der Ich-Erzähler als Fremder 88 4 "... ein düsteres Selbstgespräch" − Erzählungen, Prosa, Fragmente 94 4.1 "... meine Landschaft": Ein Kaffeehaus (1965) 96 4.2 "Keine Engel. Keine Teufel. Nichts": An mich selbst (1967) 104 4.3 Homo homini lupus: Angst (1974) 112 4.4 "Eine neue Auferstehung des alten Odysseus": Morgenrot (1976) 127 4.5 Korrektur der eigenen Biographie: Ein Anfang ein Ende (1978) 144 4.6 "... und ich schrieb eine Geschichte, die Frieda hieß": 152 Taugte Frieda wirklich nichts? (1982) 5 Eine "Bruderschaft" errichten − Literarische Essays 159 6 Idylle und Melancholie − Die späte Reiseprosa 170 6.1 Rückkehr ins Märchenland: Es war einmal in Masuren (1991) 172 6.2 Venezianische Elegie: Ich bin gern in Venedig warum (1994) 182 7 Nachbemerkung 198 Literaturverzeichnis 203 1 Einleitung Wolfgang Koeppen hat nach den im Rückblick zur Trilogie erklärten Romanen Tauben im Gras,1 Das Treibhaus2 und Der Tod in Rom3 (1951/53/54) keinen weiteren Roman mehr veröffentlicht.4 Neben den Reiseberichten Nach Rußland und anderswohin,5 Amerikafahrt6 sowie Reisen nach Frankreich7 (1958/59/61) legte er jedoch in regelmäßigen Abständen Erzählungen und Prosastücke, Fra- gmente geplanter Erzählwerke sowie Aufsätze und Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften vor.8 Daneben erschienen Interviews, die sich nicht selten lesen wie Texte des Autors selbst. Daß Koeppen also nicht schwieg oder sich dem Markt verweigerte, wie immer wieder behauptet wurde, steht außer Zweifel. Verärgert gab er beispielsweise auf die Frage Asta Scheibs, warum er nach dem großen 1 :ROIJDQJ .RHSSHQ 7DXEHQ LP *UDV 5RPDQ 6WXWWJDUW +DPEXUJ .QIWLJ ZLUG DXV .RHSSHQV7H[WHQLQGHU5HJHOQDFKGHU:HUNDXVJDEH]LWLHUW:ROIJDQJ.RHSSHQ*HVDPPHOWH :HUNHLQVHFKV%lQGHQ+JYRQ0DUFHO5HLFK5DQLFNLLQ=XVDPPHQDUEHLWPLW'DJPDUYRQ%ULHO XQG+DQV8OULFK7UHLFKHO)UDQNIXUWDP0DLQ MHZHLOLJH%DQGXQG6HLWHQ]DKOLQ.ODP PHUQ $OOH QLFKW LQ GHU :HUNDXVJDEH HQWKDOWHQHQ 7H[WH XQG ,QWHUYLHZV .RHSSHQV ZHUGHQ QDFKGHQMHZHLOLJHQ(UVWDXVJDEHQXQGGUXFNHQEH]LHKXQJVZHLVHGHQ6DPPHOElQGHQ]LWLHUWLQ GHQHQVLHSXEOL]LHUWZXUGHQ=XU=LWLHUZHLVHDOOJHPHLQ:LUGHLQ:HUNPHKUPDOVJHQDQQWVR QXUGDVHUVWH0DOPLWYROOVWlQGLJHP7LWHO(UVFKHLQXQJVRUW-DKUXQG5HLKHQWLWHOGDQDFKMHZHLOV PLWHLQHP.XU]WLWHO 2:ROIJDQJ.RHSSHQ'DV7UHLEKDXV5RPDQ6WXWWJDUW 3:ROIJDQJ.RHSSHQ'HU7RGLQ5RP5RPDQ6WXWWJDUW 4%HNDQQWOLFKKDWHUVHLW(QGHGHUIQI]LJHU-DKUHMHGRFKLPPHUZLHGHUQHXH5RPDQHDQJH NQGLJW$OV7LWHOQDQQWHHUXQWHUDQGHUHP,Q6WDXEPLWDOOHQ)HLQGHQ%UDQGHQEXUJV7DVVRRGHU(LQ 0DVNHQEDOO 9JO GD]X LP HLQ]HOQHQ +DQV8OULFK 7UHLFKHO)UDJPHQW RKQH (QGH (LQH 6WXGLH EHU :ROIJDQJ.RHSSHQ+HLGHOEHUJ %HLWUlJH]XU/LWHUDWXUXQG6SUDFKZLVVHQVFKDIW 6 I$QP$QIDQJGHUQHXQ]LJHU-DKUHNQGLJWH.RHSSHQPLW'DV6FKLIIHLQOHW]WHVJU|HUHV 3URMHNWDQXQJHIlKUHLQKXQGHUWIQI]LJ6HLWHQGHV5RPDQHVKDEHHUVFKRQJHVFKULHEHQ@/HLGHU JHIlOOWHUPLUQLFKW,FKKlWWHLKQOlQJVWDXIJHJHEHQZHQQ6LHJIULHG8QVHOGPHLQ9HUOHJHULKQ QLFKWXQEHGLQJWKDEHQZROOWH@ ,FKULVNLHUHGHQ:DKQVLQQ$QGUp0OOHUVSULFKWPLWGHP6FKULIWVWHOOHU :ROIJDQJ.RHSSHQ,Q'LH=HLW :LHZHLW.RHSSHQVYHUVFKLHGHQH5RPDQSURMHNWHVHLW HWZDELVLQGLHQHXQ]LJHU-DKUHWDWVlFKOLFKJHGLHKHQZLUGHUVWGLH6LFKWXQJVHLQHV1DFK ODVVHVHUZHLVHQ(UEHILQGHWVLFKLP:ROIJDQJ.RHSSHQ$UFKLYGHU8QLYHUVLWlW*UHLIVZDOGXQG LVW GHU]HLW IU GLH )RUVFKXQJ QRFK QLFKW LQ YROOHP 8PIDQJ ]XJlQJOLFK =XP JHJHQZlUWLJHQ 6WDQGGHU(UVFKOLHXQJYJO.DSLWHO 5:ROIJDQJ.RHSSHQ1DFK5XODQGXQGDQGHUVZRKLQ(PSILQGVDPH5HLVHQ6WXWWJDUW 6:ROIJDQJ.RHSSHQ$PHULNDIDKUW6WXWWJDUW 7:ROIJDQJ.RHSSHQ5HLVHQQDFK)UDQNUHLFK6WXWWJDUW 8 9JO GD]X $OIUHG (VWHUPDQQ :ROIJDQJ .RHSSHQ (LQH %LEOLRJUDSKLH ,Q =XVDPPHQDUEHLW PLW (FNDUW2HKOHQVFKOlJHUXQG'DJPDUYRQ%ULHOXQGLQ9HUELQGXQJPLW(XJHQ6DWVFKHZVNLXQG *RUGRQ-$%XUJHVV,Q:ROIJDQJ.RHSSHQ+JYRQ(FNDUW2HKOHQVFKOlJHU)UDQNIXUWDP0DLQ VWZ 6 Erfolg seiner Romane so "beharrlich" schweige, die Antwort: "Weil ich nicht zur rechten Zeit gestorben bin."9 Und in einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold sagte er: Es stimmt nicht mal, daß ich verstummt bin. Vielleicht spreche ich mit mir selbst. Und weiß jemand, was ich in dieser Zeit getan und vielleicht auch ge- schrieben habe? Auch veröffentlicht habe, z. B. im 'Merkur'. Und wie viele Seiten wurden geschrieben, Anfänge, die man plötzlich nicht mehr mochte? Sie zählen!10 Alfred Andersch gehört zu den wenigen, die der Legende von Koeppens Schweigen schon früh entgegentraten. Lapidar heißt es in seinem Gruß zu dessen 70. Geburtstag: "Sein 'Schweigen'. Er schweigt aber gar nicht. Er schreibt."11 Doch letztlich spricht auch Andersch von einer Verweigerungshaltung Koeppens: "Er veröffentlicht nur nichts. Das ist etwas ganz anderes, als nicht schreiben."12 Und am Ende seines Essays, der im Juni 1976 publiziert wurde, schreibt er: In der heutigen Konstellation bietet Koeppen das Beispiel einer vollständigen Verweigerung. Ein für allemal hat er sich entschlossen, sich dem Markt zu versagen. Auf dem Höhepunkt einer beispiellosen Kommerzialisierung von Literatur schließt er sich ein, widmet er sich nichts anderem als der Reinheit seines Werks [...].13 Drei Monate später freilich erschien Koeppens "vollendetes Fragment"14 Jugend.15 9(LQVDPGXUFKGLH-DKUH,Q:ROIJDQJ.RHSSHQ,(LQHUGHUVFKUHLEW,*HVSUlFKHXQG,QWHUYLHZV+J YRQ+DQV8OULFK7UHLFKHO)UDQNIXUWDP0DLQ VW 6>=XHUVWPLWGHP=XVDW] 'HU 6FKULIWVWHOOHU :ROIJDQJ .RHSSHQ LP *HVSUlFK PLW $VWD 6FKHLE ,Q 6GGHXWVFKH =HLWXQJ @ 10'HU:HOWJHLVWLVW/LWHUDW,Q:ROIJDQJ.RHSSHQ,(LQHUGHUVFKUHLEW,6>=XHUVWXQWHUGHP 7LWHO*HVSUlFKPLW:ROIJDQJ.RHSSHQ,Q+HLQ]/XGZLJ$UQROG*HVSUlFKHPLW6FKULIWVWHOOHUQ0Q FKHQ6@ 11$OIUHG$QGHUVFK'LH*HKHLPVFKUHLEHU:ROIJDQJ.RHSSHQ,Q'HUVgIIHQWOLFKHU%ULHIDQHLQHQ VRZMHWLVFKHQ6FKULIWVWHOOHUGDVhEHUKROWHEHWUHIIHQG5HSRUWDJHQXQG$XIVlW]H=ULFK6>=XHUVW LQ0HUNXU+6@ 12(EGD 13(EGD6 140DUFHO5HLFK5DQLFNL:DKUKHLWZHLO'LFKWXQJ,Q'HUV:ROIJDQJ.RHSSHQ$XIVlW]HXQG5HGHQ 0LW)RWRJUDILHQYRQ,VROGH2KOEDXP=ULFK6>=XHUVWLQ)UDQNIXUWHU$OOJHPHLQH=HL WXQJ@ 15:ROIJDQJ.RHSSHQ-XJHQG)UDQNIXUWDP0DLQ %6 Koeppens Oeuvre läßt sich in drei Entstehungsphasen einteilen. Die erste umfaßt das Frühwerk, Texte aus den Jahren etwa zwischen 1923 und 1935. Dazu gehören zum einen feuilletonistische und literarkritische Arbeiten vor allem für den Berliner Börsen-Courier,16 zum anderen die Romane Eine unglückliche Liebe (1934)17 und Die Mauer schwankt (1935).18 Ein weiterer im niederländischen Exil entstandener Roman, der den Titel Die Jawang-Gesellschaft tragen sollte, war von Koeppen über Jahrzehnte als verschollen bezeichnet,19 ist aber in seinem Nachlaß gefunden worden.20 Verschiedene andere Texte sind bei seiner Rückkehr aus dem Exil 1938 offenbar tatsächlich verloren gegangen. In der Zeit zwischen Herbst 1938 und Frühjahr 1945, als Koeppen nach Deutschland zurückgekehrt war und sich zunächst beim Film unterstellte, dann in den "Untergrund" ging21 und schließlich in einem Keller versteckt die letzten Monate des Nationalsozialismus überlebte,22 sind nur wenige Aufsätze und Erzählungen entstanden; kaum etwas davon ist erhalten.23 Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beginnt für Koeppen eine zweite Werkphase. Er schreibt mehrere Erzählungen und die Aufzeichnungen aus einem Erdloch, die er 1948 unter dem Namen Jakob Littner publiziert.24 Danach er- 169JO]XGLHVHQIUKHQ$UEHLWHQ$OIUHG(VWHUPDQQ:ROIJDQJ.RHSSHQ(LQH%LEOLRJUDSKLH6 17:ROIJDQJ.RHSSHQ(LQHXQJOFNOLFKH/LHEH5RPDQ%HUOLQ 18:ROIJDQJ.RHSSHQ'LH0DXHUVFKZDQNW5RPDQ%HUOLQ 19 =X .RHSSHQV ([LO]HLW XQG ]XP 5RPDQ 'LH -DZDQJ*HVHOOVFKDIW JHOHJHQWOLFK DXFK LQ GHU 6FKUHLEZHLVH -DKZDQJ*HVHOOVFKDIW YJO EHLVSLHOVZHLVH 'LH 6LWXDWLRQ ZDU VFKL]RSKUHQ,Q:ROIJDQJ .RHSSHQ ,(LQHU GHU VFKUHLEW, 6 >=XHUVW PLW GHP =XVDW] ,6FKUHLEKHIW,*HVSUlFK PLW :ROIJDQJ.RHSSHQEHUVHLQHQ5RPDQ,'LH0DXHU VFKZDQNW, YRQ .DUO 3UPP XQG (UKDUG 6FKW],Q 6FKUHLEKHIW=HLWVFKULIWIU/LWHUDWXU+6@ 209JO5RPDQWUlXPHUDXI6HH,Q'HU6SLHJHO+6>R1@VRZLH$OIUHG(VWHUPDQQ (LQULHVLJHU6WHLQEUXFKDXV$QIlQJHQ:ROIJDQJ.RHSSHQVOLWHUDULVFKHU1DFKOD,Q)UDQNIXUWHU$OOJHPHLQH =HLWXQJ'HUUXQG6FKUHLEPDVFKLQHQVHLWHQXPIDVVHQGH7H[WVROOQDFK$QJDEHQ GHV 6XKUNDPS 9HUODJHV LP 6RPPHU LQ GHP %DQG :ROIJDQJ .RHSSHQ $XI GHP 3KDQWDVLHUR 3URVD DXV GHP 1DFKOD +J YRQ $OIUHG (VWHUPDQQ )UDQNIXUW DP 0DLQ SXEOL]LHUWZHUGHQ 219JO:ROIJDQJ.RHSSHQ2KQH$EVLFKW*HVSUlFKPLW0DUFHO5HLFK5DQLFNLLQGHU5HLKH,=HXJHQGHV -DKUKXQGHUWV,+JYRQ,QJR+HUPDQQ*|WWLQJHQ6II 229JOHEGD6II 239JOEHL%HUQKDUG)HW]9HUWDXVFKWH.|SIH6WXGLHQ]X:ROIJDQJ.RHSSHQVHU]lKOHQGHU3URVD:LHQ :LHQHU$UEHLWHQ]XUGHXWVFKHQ/LWHUDWXU GDV.DSLWHO6FKUHLEHQXQGhEHUOHEHQ'LH-DKUH 6 24-DNRE/LWWQHU$XI]HLFKQXQJHQDXVHLQHP(UGORFK0QFKHQ'HU5RPDQKDQGHOWYRQGHP MGLVFKHQ %ULHIPDUNHQKlQGOHU -DNRE /LWWQHU GHU YRQ GHQ 1DWLRQDOVR]LDOLVWHQ DXV 0QFKHQ scheinen in schneller Folge seine drei Romane Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom, die allesamt Aufsehen erregen, aber teilweise auf vehemente Ablehnung stoßen.25 Daneben entstehen weitere kleine Prosastücke und Erzäh- lungen. Zwischen 1958 und 1961 legt der Autor die Reiseberichte
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