OKT.13 Welttraumforscher EINSCHLAUFEN Letzte Zeilen für einen toten Freund Es war eine Meldung, wie man sie leider immer mal wie- denlang über die besten Formate der Welt – Tonbandkas- der liest: Ein Velofahrer und ein Lastwagen, eine etwas setten, Analogfotografien, Siebdruck-Plattenhüllen, Vinyl, unübersichtliche Situation, ein Crash – und der Velofah- Bento-Boxen aus Holz – und natürlich über den veganen rer liegt schwerverletzt auf der Strasse. Man schafft ihn Lebensstil, den Nino bereits pflegte, als die Lifestyle-Ma- mit Blaulicht ins Spital, die Notfallärzte geben alles – und gazine den Begriff noch nicht einmal kannten. müssen sich schliesslich geschlagen geben. Das Oszillo- Er wusste immer schon unendlich viel, wollte aber stets skop zeigt eine horizontale Linie an, der Patient ist tot. noch viel mehr wissen. Auch über die Jainisten, von denen Der Zeitungsleser seufzt leise und schüttelt den Kopf. Und ich ihm einst nach dem gemeinsamen Auflegen in der Lo- blättert weiter. Erst am Tag darauf erfährt er über sein pri- ra-Hütte auf dem Kasernen-Areal erzählte (Vorabend des vates Netzwerk, wer dort unten beim Tunnel am Zürcher 1. Mai). Es sind dies Veganer-Mönche, die derart über- Hauptbahnhof sein Leben viel zu früh beenden musste: Es zeugte Tierfreunde sind, dass sie einerseits einen Mund- war Nino Kühnis, unser guter Freund, Kumpel, Verbün- schutz tragen (um nicht irrtümlicherweise Insekten zu ver- deter, Mitmusiker und geschätzter Loop-Autor. Ein Mann schlucken), andererseits aber auch immer einen leichten der Worte, aber eben auch der Taten. Besen mit sich führen, um den Fussweg vor ihren Sandalen Wir trafen uns erstmals in den späten Neunzigerjahren bei zu wischen – damit sie nicht auf Käfer oder anderes Klein- der Jugendzeitung «Toaster» in deren mittlerweile längst getier treten. aufgegebenen Räumlichkeiten im Dynamo-Gebäude. Und Als Loop-Autor fast der ersten Stunde war Nino eine wir waren von Beginn weg auf einer Wellenlänge – lang- Klasse für sich. So hat er es beispielsweise geschafft, die jährige Skatet, Freunde grossartiger Musik und begeisterte Gebrüder Wicky (Greg und Chris), die Frontmänner der Ironiker vor dem Herrn. Das führte in der Folge zu etlichen Romandie-Bands Chewy beziehungsweise Favez, zu einem gemeinsamen Projekten – ob nun in späten Illegal-Bars, gemeinsamen Interview zu bitten – und er hat ihnen dann besetzten Häusern oder Radiostudios, Alternativ-Lokalen, auch noch ein Kindheitsfoto aus dem Kreuz geleiert, das an unscheinbaren Strassenecken oder in irgendwelchen schliesslich zum Loop-Coverbild avancierte. Oder dann Dödel-Büros. war er unterwegs, um das Ehepaar Ceresole zu intervie- Wir sassen in der Bullenhitze des Lora-Studios und mo- wen, die heimlichen Financiers des ersten Sonic-Youth- derierten dort munter die «Vierspur-Show», pfuschten Albums. Er pflegte seine unregelmässig erscheinende Ko- an der Rüdigerstrasse einen tollen Country-Abend durch, lumne «Heja Sverige», interviewte vor knapp zehn Jahren standen im Provi treff bei einem eher gewagten Singer/ die damalige Zürcher Vorzeige-Frauenband Rosebud und Songwriter-Stelldichein als Metronome Man (Nino) und rückte altgediente Mailorder-Koryphäen noch einmal ins Phil Duke (ich) auf der kleinen Bühne, sassen blödelnd und Zentrum. biertrinkend vor der Totalbar und unterhielten uns stun- Das sind freilich nur einige wenige Facetten eines Freun- des, der mit einer grossen Arbeit zum Thema Anarchis- Impressum Nº 08.13 mus vor kurzem seine Dissertation eingereicht hat, das DER MUSIKZEITUNG LOOP 16. JAHRGANG Skateboard-Label Food sowie das Musik-Label Quiet mit- P.S./LOOP Verlag begründet hat und überall dort tätig war, wo clevere Leute Postfach, 8026 Zürich mit Rückgrat gefragt waren. Selbst in aussichtslosen Situa- Tel. 044 240 44 25, Fax. …27 tionen blieb Nino besonnen und setzte sein umfangreiches [email protected] / www.loopzeitung.ch Do-It-Yourself-Wissen ein. Steckerleiste? Easy. Gesangsan- Verlag, Layout: Thierry Frochaux lage futsch? Der Trick mit der Alufolie. Biervorräte aufge- Administration, Inserate: Manfred Müller braucht? Verstärkung aus dem Freundeskreis anfordern. Redaktion: Philippe Amrein (amp), Solche Leute sind verdammt selten geworden. Junge Men- Benedikt Sartorius (bs), Koni Löpfe schen, denen es nicht um Konsum geht, sondern darum, Mitarbeit: Reto Aschwanden (ash), die misslichen Verhältnisse mit guten Ideen, Gehirnschmalz Yves Baer (yba), Thomas Bohnet (tb), Pascal Cames (cam), Chrigel Fisch, und tatkräftigem Tun zu verbessern. Menschen wie Nino, Christian Gasser (cg), Michael Gasser (mig), den wir nun verloren haben. Nino Kühnis (nin), Hanspeter Künzler (hpk), Wir werden ihn vermissen. Tag für Tag, Woche für Woche, Tony Lauber (tl), Mathias Menzl (men), Monat für Monat, Jahr für Jahr. Er wird für immer einer Philipp Niederberger, Christian Pauli, Adrian Schräder (räd), Roland Strobel, unserer Besten bleiben, ein junger Mann mit unermessli- Miriam Suter (mis) chem Talent, der viel zu früh gehen musste. Tausende von Druck: Rotaz AG, Schaffhausen Tränen werden in unzähligen Biergläsern landen. Das nächste LOOP erscheint am 31.10.2013 Redaktions-/Anzeigenschluss: 24.10.2013 Aus gegebenem Anlass ist der R.I.P. Titelbild: Die Welttraumforscher Abotalon-Comic auf Seite 22. Philippe Amrein EIN PLANET Seit 32 Jahren baut Christian Pfluger an der einzigartigen Welt der Welttraum- forscher. Nun kann dieser Solitär der Schweizer Kulturlandschaft im Kunst- haus Langenthal entdeckt werden. 1981: Eine wunderliche Kassette entsteht, betitelt mit «Herz- schlag Erde». Der Name der Band: Die Welttraumforscher. Hinweise auf die Art der Musik liefern die mysteriösen Kas- settentäter auf einem Beiblatt gleich selber mit: «Kometen- tänze, Tanzfallen und Weder-noch-Geräusche» sind in diesen 30 Minuten versammelt, und auch 32 Jahre nach der Entste- hung wirken diese Do-it-yourself-Dokumente wie verwirren- de Funksprüche von einem fernen Planeten, auf dem die Mu- sik zwar verschroben, aber nicht minder herzlich erklingt. Es blieb nicht bei dieser einen Kassette der Welttraumforscher. Denn seither baut Christian Pfluger – einziges Mitglied und Erfinder der Welttraumforscher – an einem Planeten, der in der Schweizer Kulturlandschaft seinesgleichen sucht: Hun- derte Songs spielte der heute 50-jährige Zürcher ein, zeichne- te Skizzen, schrieb Romane und Forschungsbulletins, drehte Filme und malte grossformatige Bilder. In Deutschland stiess dieses Werk zu Beginn des neuen Jahrtausends dank Elektro- nikern wie Mouse on Mars oder dem «Wirbelwind am Ma- nual» Felix Kubin auf einen günstigen Nährboden, wurde geremixt und gepriesen. Doch in seiner Heimat fristet Pfluger mit seinen Welttraumforschern noch immer das Dasein ei- nes kurligen Eremiten. Das könnte sich nun, im Jahr 2013, endlich ändern, dank dem Kunsthaus Langenthal, das das hybride Werk der Welttraumforscher in einer Retrospektive würdigt. FORSCHENDE TRAUMFIGUREN Diese erste Werkschau zu den Welttraumforschern überhaupt firmiert unter dem Titel «Sommer in der Wirklichkeit» nach einer gleichnamigen Platte der Welttraumforscher. Raffael Dörig, Leiter des Kunsthauses und Kurator der Ausstellung, wollte einen Titel, der dem Werk Pflugers entstammt, «ein entwickeln ein Eigenleben mit irritierenden Selbst- und Quer- im ausstellungsbegleitenden Zitat, das Assoziationen eröffnet, wie so vieles bei den Welt- verweisen, die dieses solitäre Werk so schwer fassbar und Buch «Die Welttraumfor- traumforschern.» Denn obwohl das Werk, das von einem faszinierend machen. Nachvollziehbar ist diese Loslösung scher – Lieder, Zeichen, Interesse für Dada, Surrealismus und der Fantastik durch- von Moden und Tendenzen im Raum, der sich ganz dem Forschungen» abgedruckt zogen ist, den Charakter eines Weltenbaus trägt, ist es kein Leitmotiv Pflugers widmet: dem Reisen, dem Forschen, den ist (siehe folgende Seiten). durchgedachtes, kein striktes System. Ein Planet, der auch Expeditionen. Charaktere wie Leguan Rätselmann und Kip Es ist eine Freude, die dank ein riesiges Archiv an unveröffentlichtem Material birgt, aus Eulenmeister tauchen auf, und die Entwicklung von Sideria, der Ausstellung, dem reich dem der Kurator der Ausstellung schöpfen konnte. «der Stadt in den Sternen», zeigt exemplarisch die Akribie illustrierten Buch und dem Neben einem Musik- und Filmzimmer ist das Welttraumfor- auf, mit der Pfluger zu Werke geht. Für diese Stadt existiert auf Platte neu veröffent- scher-Werk in Langenthal in vier thematische Räume aufge- eine eigene Schrift, eine Landkarte, er skizzierte Wohnräume, lichten Kassettenfrühwerk splittet. In einem Raum sind etwa die Dokumente der frühen schrieb eine fiktive Bibliografie und einen unveröffentlichten «Die Singende Sternlaterne/ «Kassettenjahre» zu besichtigen: Illustrierte «Ankündigungs- Reiseführer, der über 150 Seiten umfasst. Natürlich fehlt Folklore des Weltalls 1982» blätter» mit den forschenden Traumfiguren, Annoncen für auch ein Soundtrack nicht. nachvollziehbar wird. Die sein Label Monif, die Pfluger in Fanzines untergebracht hat, Diese Akribie findet sich auch in den Zeichnungsserien «Der Freude über die Entdeckung und Umschlagentwürfe seiner Kassetten finden sich hier. Fra- Bretzelberger Bilderbogen» sowie dem «grossen Bilderbo- eines grossen Werkes. Ei- gen wie «Erforschen sie die Welt im Traum oder erforschen gen», die in den weiteren Räumen zu besichtigen sind: Mit nes, wie es einst im Loop sie den Traum der Welt oder erforschen sie den Weltraum Filzstiften und Tusch entwickelt Pfluger, der in den Achtzi- beschrieben war, «das leise und schreiben sich nur falsch oder träumen
Details
-
File Typepdf
-
Upload Time-
-
Content LanguagesEnglish
-
Upload UserAnonymous/Not logged-in
-
File Pages24 Page
-
File Size-