Patricia Purtschert Kolonialität und Geschlecht im 20. Jahrhundert Postcolonial Studies | Band 33 Patricia Purtschert ist Philosophin und Kulturwissenschaftlerin sowie Co-Lei- terin des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung an der Uni- versität Bern. Patricia Purtschert Kolonialität und Geschlecht im 20. Jahrhundert Eine Geschichte der weißen Schweiz Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förde- rung der wissenschaftlichen Forschung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommerci- al-NoDerivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestat- tet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwen- dung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an rights@tran- script-verlag.de Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellen- angabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. wei- tere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Bild 1: Werbung für Lux-Seife (Ausschnitt), Quelle: Schweizer Illustrierte Zeitung 1932(7); Bild 2: Bergsteiger Peter Diener, Quelle: Titelbild Schweizer Illustrierte Zeitung 1960(26) Lektorat: Petra Schäfter, textetage Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4410-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4410-8 https://doi.org/10.14361/9783839444108 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Inhalt Kolonialität und Geschlecht – Eine Einleitung | 7 Paradoxien moderner Macht | 15 Kolonialität und Moderne | 21 Europas ›rassenloser Rassismus‹ | 27 Koloniale Amnesie | 31 Kolonialität, Geschlecht und Sexualität | 35 Moderne Subjektformation und Othering | 40 Koloniale Komplizenschaft | 50 Kulturelle Dimensionen des Rassismus | 57 Schweizer Alltagsrassismus und koloniale Unschuld | 62 Kapitel 1 Weiße Waren: Die Erfindung der Schweizer Hausfrau | 71 Vignette: ›Total‹ macht aus Braunbären wieder Eisbären | 72 Schweizer Warenrassismus | 77 Die Erfindung des ›weißen N-‹: Erster Teil | 88 Eine koloniale Genealogie des ›weißen N-‹ | 96 Das ›Senegalesendorf‹ im Zürcher Zoo | 107 Weiße Männlichkeit und anti-egalitäres Othering | 114 Schweizer Schokolade und die Kommodifizierung Schwarzer Körper | 122 Die Erfindung des ›weißen N-‹: Zweiter Teil | 132 Warenrassismus und Othering | 138 Weiße Weiblichkeit in der Werbung | 149 Die Schweizer Hausfrau und ›the white woman’s burden‹ | 157 Kolonialer Zivilisationsneid | 164 Schwarzer Neid auf weißes Glück | 174 Konklusion: Weißsein als Versprechen | 179 Kapitel 2 Kämpfe im Himalaya: Schweizer Helden in kolonialen Abenteuern | 185 Vignette: Kampf am Everest | 186 Imaginäre Bergtopografien | 194 Die Schweiz und die Berge in Zeiten der Dekolonisierung | 196 Erforschen und Erobern | 204 Tropische Alpen, alpine Tropen | 207 Schweizer ›Berg-Othering‹ | 211 Der ›native informant‹ und die Grenzen der Kultur | 219 Nationale Freiheit und koloniale Expansion | 228 Koloniale Kämpfe am Himalaya | 234 Die Internationalisierung des Höhenbergsteigens | 238 Nepal und die Schweiz: Ein Verhältnis ›ungleicher Ähnlichkeit‹ | 246 Sahibs und Sherpas | 252 Männlichkeit in der Todeszone | 265 Über ›Rassengrenzen‹ hinweg: Tenzing Norgay und Raymond Lambert | 276 Schweizer ›Technokolonialismus‹ | 282 Konklusion: ›Berg-Othering‹ und Dekolonisation | 297 Nachwort | 303 Swiss Ways of Othering: Die Hausfrau und der Bergsteiger | 304 Das ›hyperreale Europa‹ und die Schweiz | 307 Für ein post-monolithisches Verständnis des Kolonialismus | 310 Weiterführende Überlegungen zur Schweizer Geschichte | 313 Danksagung | 323 Abbildungsverzeichnis | 327 Literatur | 329 Kolonialität und Geschlecht – Eine Einleitung »Da sitzt er, ausgelaugt. Schweigend. Eine flackernde Kerze erleuchtet nur spär- lich die Kammer des Zimmermanns im Gastarbeiterheim. Der Euramerikaner aus einer Schweizer Ethnie spricht einen deutschen Dialekt und gibt vor, im Zeitalter von Jet und Web vor Gewalt und Hunger geflohen zu sein. Er hat sich jedoch jene Aura bewahrt, die schon unsere Krankenschwestern und Entwicklungshelfer fas- zinierte. Nennen wir ihn Yacouba, erstens, um seine Identität zu schützen, und zweitens, weil er einen Familiennamen hat, bei dem man sich die Zunge aushaken würde.«1 Mit diesen Sätzen beginnt Abdourahman Waberis Persiflage auf die ak- tuelle Weltordnung, In den Vereinigten Staaten von Afrika. Waberi denkt sich darin eine Welt aus, in der Afrika die unangefochtene ökonomi- sche, kulturelle, technische und politische Vorherrschaft zukommt. Der unerschöpfliche Reichtum des afrikanischen Kontinents wird mit dem Elend der zahlreichen illegalen Migrant*innen kontrastiert, die aus Eura- merika auf den Kontinent drängen und an den Rändern der Großstädte in Armut und Verzweiflung leben. Stellvertretend für diese verarmten Mas- sen wird die Geschichte von Yacouba erzählt, einem Schweizer, der »in einer verseuchten Favela der Region Zürich geboren [wurde], wo Kinder- sterblichkeit und AIDS […] Rekordwerte erreichen«.2 Die afrikanischen Reaktionen auf die Migrationsbewegungen aus Eu- ramerika fallen unterschiedlich aus: Professor Garba Huntingawbe von der Kenyatta School of European and American Studies stellt im Fernse- hen die rhetorische Frage, ob Afrika weiterhin das ganze Elend der Welt aufnehmen könne, und fordert die rücksichtslose Abschiebung aller aus- 1 | Waberi 2007, 9. 2 | Waberi 2007, 9. 8 Kolonialität und Geschlecht im 20. Jahrhundert ländischen Staatsangehörigen: »Zuerst die Illegalen, dann die Halblega- len, dann die Paralegalen und so weiter und so fort.«3 Dagegen hält ein alternatives Netzwerk, dessen Gesicht Dounya Daher von der Universität Langston Hughes in Harar ist. Sie hat sich unter anderem einen Namen gemacht »für ihre Kampagne zugunsten eines Herkunftssiegels […], das in den Supermärkten von Abidjan für fair gehandelte Bananen aus Neb- raska«4 wirbt. Der Sprecher der Vereinigten Staaten von Afrika schließ- lich, Seine Exzellenz El Hadj Saidou Touré, erklärt »die Stabilisierung des Friedens in Westeuropa zur absoluten Priorität«5 für die afrikanische Staatengemeinschaft. Während die Mächtigen der Welt, sprich Afrikas, miteinander ringen, zieht der Schweizer Yacouba auf der Suche nach Arbeit und Nahrung durch die Straßen von Asmara, begafft von den Einheimischen: »Wenn er vorübergeht, drehen sich die Fußgänger nach ihm um, erstaunter als Völkerkundler, die im tiefsten Bayern auf einen primitiven Volksstamm stoßen.«6 Yacouba verschwindet noch vor Ende der ersten Hälfte des Ro- mans. Er wird tot in einer Sackgasse an der Rue Toussaint-Louverture auf- gefunden, verblutet mangels medizinischer Hilfe. Lakonisch wird fest- gehalten: »Die Polizei hat nur wenige Indizien entdeckt, unter anderem seine dreckige Mütze und einen nicht abgeschickten Brief an seine Fami- lie in Zürich. […] Die ganze Ermittlung hat ein pickeliger Praktikant aus Arusha zusammengestoppelt.«7 Der Zürcher Yacouba, dessen richtigen Namen wir erst spät und nur beiläufig erfahren, bleibt gesichtslos und ohne Konturen. Dass er den Roman eröffnet, ist aber kein Zufall. Denn es sind die um ihr Überleben kämpfenden Figuren aus Euramerika, welche die Geschichte des reichen Afrikas umranken. Überall tauchen sie auf, überfluten und stören die glänzenden Straßenbilder der afrikanischen Hauptstädte. Das Elend Europas bildet die Kulisse für die Geschichte der privilegierten Protagonistin, einer afrikanischen Künstlerin europäischer Herkunft, die sich zwischen Gleichgültigkeit und kurz anhaltenden An- 3 | Waberi 2007, 13. 4 | Waberi 2007, 13. 5 | Waberi 2007, 14. 6 | Waberi 2007, 15. 7 | Waberi 2007, 60. Kolonialität und Geschlecht — Eine Einleitung 9 fällen von sozialem Engagement zwischen diesen Gestalten aus einer an- deren Welt bewegt.8 Waberis Roman ist eine eindrückliche Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und der neokolonialen Weltordnung. Mit dem Stilmittel der Umkehrung hält er dem Westen einen Spiegel vor Augen, der zeigt, wie widersinnig, kontingent und dennoch wirkmächtig die Trennung der Welt in eine fortschrittliche und eine rückständige Sphäre ist. Warum aber eröffnet Waberi seine Kritik an der kolonialen Weltordnung mit dem Bild eines verarmten Schweizer Migranten, der in den luxuriösen Straßen von Asmara um sein Leben kämpft und den Subalternen per se verkörpert? Warum lenken die ersten Sätze dieser fulminanten Abrech- nung mit dem Kolonialismus die Aufmerksamkeit auf Zürich und nicht auf London, Paris, Amsterdam, Brüssel, Lissabon oder Madrid? Vielleicht weil Waberi es vermeiden will, eine ehemalige Kolonialmacht ins Zent- rum zu stellen, weil sein Roman keine einseitige Abrechnung mit einer Metropole darstellt, sondern den gesamten europäisch-nordamerikani- schen Machtkomplex in den Blick nehmen will? Denn mit Yacouba
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