681 Geheimdienste haben es bekanntlich schwer, öffentliche Akzeptanz zu gewinnen – vor allem dann, wenn eine historische Zäsur sie nicht zur Öffnung ihrer Archive zwingt. Denn im Grunde können nur Eingeweihte die Relevanz ihrer Arbeit bewerten. Um so größer ist die Bedeutung der hier publizierten sensationellen Dokumente einzuschätzen, mit denen sich erstmals die Rolle des Bundesnachrichtendienstes in der Krise um den Mauerbau vom August 1961 rekonstruieren lässt. Der BND wusste, was sich anbahnte, und traf entsprechende Vorkehrungen. Matthias Uhl und Armin Wagner „Die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen nachrichtendienstlicher Aufklärung“ Bundesnachrichtendienst und Mauerbau, Juli–September 1961 Der vierzigste Jahrestag des Mauerbaus, die Abriegelung des Westteils der Stadt Berlin vom Umland und den östlichen Stadtbezirken, hat einen beträchtli- chen Forschungsschub ausgelöst. Das sich in zahlreichen Publikationen artiku- lierende Interesse der Historiker richtete sich vorrangig auf die bis dahin quellenmäßig kaum erforschten Entscheidungsprozesse in der DDR und in der Sowjetunion, auf das Verhalten der ostdeutschen Bevölkerung und auf spekta- kuläre Flucht- und Todesfälle1. Aber auch die Haltung der Westmächte und die bundesdeutsche Politik hat man nochmals untersucht, weil nun zahlreiche neue Akten zugänglich wurden. Deutlich wurde etwa, wie weit die britische Regierung zu gehen bereit war: Nach der Errichtung der Mauer regte Premierminister Harold Macmillan an, mit Moskau über die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, die faktische Anerkennung der DDR und die Unterbrechung der politischen Bindung zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet zu diskutieren2. Aufmerk- samkeit fanden in diesem Zusammenhang auch Fragen einer unter anderem kul- turgeschichtlich inspirierten Diplomatiegeschichte3. Wenig Konkretes allerdings ist bislang bekannt über das Wissen der westlichen Geheimdienste im Vorfeld 1 Eine Auswahlbibliographie findet sich in www.chronik-der-mauer.de/index.php/material/ literatur. 2 Vgl. Rolf Steininger, Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958– 1963, München 2001, S. 302; vgl. auch John P.S. Gearson, Harold Macmillan and the Berlin Wall Crisis 1958–62. The Limits of Interests and Force, Basingstoke 1998. 3 Vgl. vor allem Harald Biermann, John F. Kennedy und der Kalte Krieg. Die Außenpolitik der USA und die Grenzen der Glaubwürdigkeit, Paderborn 1997; Christian Bremen, Die Eisenho- wer-Administration und die zweite Berlin-Krise 1958–1961, Berlin/New York 1998; Christof Münger, Kennedy, die Berliner Mauer und die Kubakrise. Die westliche Allianz in der Zerreiß- probe, 1961–1963, Paderborn 2003; Andreas W. Daum, Kennedy in Berlin. Politik, Kultur und Emotionen im Kalten Krieg, Paderborn 2003. VfZ 4/2007 © Oldenbourg 2007 682 Dokumentation des 13. August 19614. Wie erklärte sich die Überraschung des Westens an diesem sommerlichen Sonntag, wenn es zuvor doch Signale gegeben hatte, dass eine Isolierung West-Berlins bevorstünde? Wurden die westlichen Hauptstädte trotz vieler Hinweise wirklich von der Abriegelung überrascht? „Kennedy segelte vor Hyannis Port, das State Department war nahezu verwaist, [der amerikanische Außenminister] Rusk besuchte ein Baseballspiel; Macmillan befand sich auf Grauhuhnjagd in Schottland, und de Gaulle erholte sich in Colombey-les-Deux-Eglises.“5 Für Washington kam das, was sich da anbahnte, nicht unerwartet. Der eigentliche Grund für die verspätet einsetzende Reaktion der Amerikaner lag am Termin für die Grenzschließung, den Ost-Berlin ganz bewusst an einem Wochenende gewählt hatte6. Außerdem sah US-Präsident John F. Kennedy in der Abriegelung solange keinen Anlass zur Unruhe oder gar zur Intervention, wie die vertragsmä- ßigen Rechte der Westalliierten in Berlin gesichert blieben. Was also hatten die amerikanischen Geheimdienste gemeldet? In der ersten Hälfte des Jahres 1961 vermuteten sie, dass die Sowjetunion versuchen werde, die Westmächte aus Berlin zu vertreiben, um das Ulbricht-Regime zu stärken und die DDR nicht dem Zerfall preiszugeben, der notwendigerweise aus einem anhalten- den Exodus der ostdeutschen Bevölkerung resultieren musste. Die Central Intelli- gence Agency (CIA) interessierte vor allem, ob auf Geheiß der Russen auch der westalliierte Zugang zu Berlin blockiert werden sollte – denn nur das hätte Ken- nedy veranlasst, entschieden und notfalls gewaltsam gegen die östliche Politik vorzugehen. Für die Analytiker in Langley standen also nicht Prognosen zum genauen Zeitpunkt einer Absperrungsaktion in Berlin auf der Agenda, sondern „isoliert und künstlich“ durchgespielte Lösungsszenarien für mögliche sowjeti- sche Optionen7. Zwar entwickelten die Westalliierten schon während der fünfzi- ger Jahre Pläne für ein militärisches Eingreifen, falls ihre Rechte in Berlin ver- letzt werden sollten8. In der geteilten Stadt jedoch zeigten sich scheinbar alle Sei- 4 Vgl. dazu jetzt Paul Maddrell, The Western Secret Services, the East German Ministry of State Security and the Building of the Berlin Wall, in: Intelligence and National Security 21 (2006), S. 829–847. 5 Steininger, Mauerbau, S. 262. 6 Zum Ablauf des politischen Entscheidungsprozesses und zu den Maßnahmen des Sicherheits- apparates in der DDR vgl. Matthias Uhl/Armin Wagner (Hrsg.), Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer. Eine Dokumentation, München 2003; zum politischen Kalkül Ost-Berlins vgl. außer- dem Michael Lemke, Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995. 7 Vgl. Bernd Stöver, Mauerbau und Nachrichtendienste. Die CIA und der Wandel der US-Poli- tik in Ostmitteleuropa, in: Hans-Hermann Hertle/Konrad Jarausch/Christoph Kleßmann (Hrsg.), Mauerbau und Mauerfall. Ursachen – Verlauf – Auswirkungen, Berlin 2002, S. 139– 146, hier S. 139 f. 8 Vgl. Christian Bremen, Das Contingency Planning der Eisenhower-Administration während der zweiten Berlinkrise, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 57 (1998), S. 117–147; Sean M. Maloney, Notfallplanung für Berlin. Vorläufer der Flexible Response 1958–1963, in: Militärge- schichte 11 (1997), S. 5–17. VfZ 4/2007 Matthias Uhl und Armin Wagner: „Die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen nachrichtendienstlicher Aufklärung“ 683 ten von den Ereignissen überrascht. Ein erregter Regierender Bürgermeister von West-Berlin forderte die westlichen Stadtkommandanten in Ermangelung wirksa- mer Ad-hoc-Gegenmaßnahmen zu entschiedenerem Protest auf. Erst später erkannte Willy Brandt: „Wäre ich, in jenen sonntäglichen Vormittagsstunden des 13. August, kühleren Blutes gewesen, hätte ich bemerkt, dass die verehrten Her- ren Kommandanten verwirrt, hilflos, ohne Anweisung waren.“9 Warum war Brandts Überraschung so perfekt? Hatte es, wenn schon keinen Informationsaustausch im politischen Raum, so doch wenigstens über nachrich- tendienstliche Kanäle Vorwarnungen gegeben? Wie gestaltete sich das „Meldeauf- kommen“ beim für die Auslandsaufklärung der Bundesrepublik Deutschland zuständigen Bundesnachrichtendienst (BND) unmittelbar vor und nach dem 13. August 1961, und welche Schlussfolgerungen hatte die Auswertung des Dienstes in Pullach daraus gezogen? Wurden Warnungen des BND an die Politik in Bonn und West-Berlin weitergegeben und dort überhört? In dieser Dokumentation soll zunächst kurz auf bisherige Aussagen zum Infor- mationsstand von Bundesregierung und West-Berliner Senat durch den BND sowohl in der Forschungs- als auch in der Memoirenliteratur eingegangen wer- den. Anschließend wird das ausgewertete Quellenkonvolut kurz vorgestellt und der skizzierte Forschungsstand dann an der zugänglichen archivalischen Überlie- ferung des Bundesnachrichtendienstes gespiegelt, die ab September 2003 vom Archiv-Referat des BND an das Bundesarchiv in Koblenz abgegeben wurde. Abschließend soll eine vorsichtige erste Bilanz zur Qualität der BND-Arbeit unmittelbar vor und nach dem Mauerbau versucht werden. Östliche Handlungsoptionen in der Wahrnehmung Bonns und West-Berlins Reinhard Gehlen, Gründer und langjähriger Präsident des Bundesnachrichten- dienstes, hat immer darauf beharrt, dass mit Ausnahme des exakten Stichtages sein Dienst die „bevorstehende hermetische Abschließung der Zonengrenze, insbeson- dere in Berlin“ vorher gemeldet habe, einschließlich der „Lagerung von leichtem Sperrmaterial“10. In „Pullach intern“, der über lange Jahre maßgeblichen Gesamt- darstellung zur Geschichte von Organisation Gehlen und Bundesnachrichten- dienst, schreiben die Autoren Hermann Zolling und Heinz Höhne, der BND habe bereits im Januar 1961 das Bundeskanzleramt informiert, in Ost-Berlin würden Straßen an der innerstädtischen Sektorengrenze umgeleitet. Mit zeitlicher Nähe zum Tag des Mauerbaus habe es noch deutlichere Indizien gegeben: Am 19. Juli 9 Willy Brandt, Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1989, S. 10; vgl. bereits seine Darstellung in: Ders., Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960–1975, Hamburg 1976, S. 11. 10 Reinhard Gehlen, Der Dienst. Erinnerungen 1942–1971, Mainz/Wiesbaden 1971, S. 285 f. Zur Person vgl. Dieter Krüger, Reinhard Gehlen (1902–1979). Der BND-Chef als Schattenmann der Ära Adenauer, in: Ders./Armin Wagner (Hrsg.), Konspiration als Beruf. Deutsche Geheim- dienstchefs im Kalten Krieg, Berlin 2003, S. 207–236; Wolfgang Krieger, „Dr. Schneider“ und der BND, in: Ders. (Hrsg.), Geheimdienste in der Weltgeschichte. Spionage und verdeckte Aktionen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2003, S. 230–247. VfZ 4/2007 684 Dokumentation habe der BND festgestellt, dass die SED-Führung die Aufstellung von Sicherungs- einheiten und
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