SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde „Immer ran an' Speck!“ – Claire Waldoff und das Berliner Kabarett (4) Von Sylvia Roth Sendung: Freitag 30. Dezember 2016 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 SWR2 Musikstunde mit Sylvia Roth „Immer ran an' Speck!“ – Claire Waldoff und das Berliner Kabarett (4) SWR 2, 27. Dezember – 30. Dezember 2016, 9h05 – 10h00 Folge IV: Tanz in die Dunkelheit (1926-1933) Signet O-Ton Waldoff (1953): „Hallo, hallo! Hier spricht Claire Waldoff! Ich grüße Euch, meine Lieben!“ Titelmusik Herzlich Willkommen zu unserer Sendung über Claire Waldoff und das Berliner Kabarett – am Mikrofon begrüßt Sie Sylvia Roth. I. Heimat Berlin - Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit! - Paul Graetz (2'48) T: Walter Mehring, M: Friedrich Hollaender (1920) Titel CD: Hoppla, wir leben! Töne aus dem Kabarett 1901-1933, Patmos 3-491- 91153-2, LC 04176 Im Berlin der Zwanziger Jahre beschleunigt sich das Lebenstempo – Paul Graetz kann ein Lied davon singen, das Walter Mehring und Friedrich Hollaender der Kodderschnauze auf den Leib geschrieben haben. Je schneller sich der Minutenzeiger auf dem Zifferblatt dreht, desto rasender verändert sich auch die Metropole an der Spree. Nun „das neue New York“ genannt, hat sie sich bereits auf eine Einwohnerzahl von vier Millionen Menschen ausgedehnt – lebensgierigen Menschen, die sich ihre Stadt unentwegt erobern. Vor allem bei Nacht, also dann, wenn die Boulevards in ein plötzliches Feuerwerk gehüllt werden, weil der elektrische Strom in Millionen von Glühbirnen schießt. Auf dem Kurfürstendamm und der Friedrichstraße sausen die bunten Reklameschriften über die Häuserfassaden, während auf der Straße das Leben pulsiert: Vergnügungssüchtige stauen sich vor den Türen der Tanzdielen, in den Bars werden Cocktails gemixt und sogenannte „Spanner“ schieben sich an einsame Männer heran, um ihnen zuzuflüstern: „Nacktlokal – Spielklub – Nackttänze“. Oder auch: „Kokain jefällig?“ 3 Am neu entstehenden „Berliner Broadway“ nahe der Gedächtniskirche wachsen Kinos aus dem Boden, in denen neuerdings auch Tonfilme gezeigt werden. Zunehmend bestimmt der Film den Blick auf die Welt. II. Mein Bruder macht beim Tonfilm die Geräusche - Kurt Gerron (2'51) T: Luigi Bernauer, M: Charles Amberg, Fred Raymond (1930) SWR 1986067 01-010 Nicht nur Kurt Gerron fühlt sich – in einer Nummer von Charles Amberg, Fred Raymond und Luigi Bernauer – von der Omnipräsenz des Films bedroht. Auch die Kleinkunstbühnen müssen immer schärfere Geschütze auffahren, um gegen die Konkurrenz des Kintopps anzukommen. In den Revuen zeigt man nicht mehr nur nacktes Bein, sondern Ganzkörper-Fleischbeschau. 'Berlin ohne Hemd', 'Tausend nackte Frauen' oder 'Von Bettchen zu Bettchen' heißen die Shows von James Klein, der das Nacktballett salonfähig macht und damit unzählige Zuschauer anzieht. In kleinerem Rahmen lässt Celly de Rheydt, eigentlich Cäcilie Schmidt aus Mönchengladbach, die Hüllen fallen. Und auch Anita Berber sorgt für nackte Tatsachen. Gegenüber des „Schwarzen Kater“, im neu eröffneten Kabarett „Weiße Maus“, spült die Berber sich jeden Abend eine Flasche Cognac die Kehle hinunter, betäubt sich mit Kokain und Morphium, und tanzt ihren Widerstand gegen verlogene moralische Werte. So lange, bis sie bewusstlos von der Bühne getragen wird. III. Zieh dich aus, Petronella - Ute Lemper (2'17) T: Kurt Tucholsky, M: Friedrich Hollaender (1920) SWR M0240838 008 Für Gussy Holl schrieb Kurt Tucholsky diesen von Friedrich Hollaender vertonten ironischen Blick auf den Nacktheitskult. Es sang Ute Lemper, am Klavier begleitet von Jefrrey Cohen. Nicht nur als nacktes Lustobjekt zeigt sich der weibliche Körper der Zwanziger Jahre, sondern auch als Gestaltungsmasse – als ein Kunstwerk, das modelliert werden will. Längst ist der Sport nicht mehr nur Domäne des Mannes, ganz im Gegenteil, auch die Frau trainiert. Am liebsten im Kampf mit dem eigenen Boxtrainer. Überhaupt tritt die neue Frau männlich auf – die Welt ist androgyn geworden. Als sei der Etonboyanzug, den Claire Waldoff bereits 20 Jahre zuvor gegen die Zensur verteidigt hat, nun im großen Stil salonfähig geworden, räkeln sich an den Bars Frauen, die problemlos als Herren durchgehen könnten: Im Smoking wie aus 4 dem Ei gepellt, den kurzen Bubikopf streng zurückgegelt, das Monokel zwischen die Augen gekniffen. Und auch umgekehrt lösen die Geschlechtergrenzen sich auf: In den einschlägigen Clubs gibt es Transvestiten zu bestaunen, die täuschend echt nach Frau aussehen. Die immer vielseitiger genutzte Gummifabrikation stellt künstliche Körperteile so gelungen her, dass man nicht mehr erkennen kann, ob die blonde Fee am Tresen nun eigentlich ein X- oder ein Y-Chromosom in sich trägt. IV. Hannelore - Claire Waldoff (2'29) T: Horst Platen, M: Willy Hagen (1928) Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge I, Membran Music 223226-354/D, LC 12281 Ist Hannelore ein Mann oder eine Frau? Wie die Geschlechtergrenzen verschwimmen, beschreibt Claire Waldoff in dem 1928 entstandenen Lied von Horst Platen und Willy Hagen. Überhaupt scheint die Lebensweise, die Claire Waldoff und ihre Gefährtin Olly von Roeder schon seit Jahren selbstbewusst vertreten, sich nun auch für die breitere Masse einzulösen. Die lesbische Liebe entwickelt sich zu einer regelrechten Mode. Homosexuelle Frauen werden nicht länger als „Kranke“ oder „Minderwertige“ verurteilt, vielmehr ist man stolz darauf, vom „anderen Ufer“ zu sein. Sogar die immer zahlreicher an die Spree strömenden Touristen reißen sich darum, in die legendäre lesbische Szene Berlins einzutauchen, um die „Priesterinnen der Sappho“ zu begutachten. Und auch die Scheidungsabteilung von Moabit weiß davon zu berichten, wie viele Ehen zerbrechen, weil eine verheiratete Frau dem unwiderstehlichen Charme einer Lesbe erliegt. V. Lila Lied - Orchesterversion mit Refraingesang - Orchester Marek Weber (3'37) T: Kurt Schwabach, M: Mischa Spoliansky (Pseudonym: Arno Billing) (1920) M0448293 017 Das Lila Lied, die Hymne der homosexuellen Bewegung, 1920 komponiert von Mischa Spoliansky, der im Laufe der Zwanziger Jahre mit diversen Kabarett- Revuen auf sich aufmerksam machte. Gewidmet ist es Dr. Magnus Hirschfeld, der mit seinem 1919 gegründeten Berliner „Institut für Sexualwissenschaft“ um Toleranz für die gleichgeschlechtliche Liebe warb. Wir hörten das Lied in einer instrumentalen Version mit dem Orchester Marek Weber. Obwohl die „neue Frau“ also selbstbewusster denn je auftritt, kämpft sie bisweilen so verzweifelt für ihr androgynes Schönheitsideal, dass sie nachhelfen lässt und sich eine Kunst zunutze macht, die dem Körperkult der Zwanziger Jahre gerade 5 recht kommt: Die Kunst des „Nasenjoseph“, des Chirurgen Jacques Joseph, der schon Ende des 19. Jahrhunderts die ersten abstehenden Ohren anlegte – und dessen Errungenschaften sich von Jahr zu Jahr verfeinerten. Ausgerechnet die Verwundeten aus dem Ersten Weltkrieg waren es, die die plastische Chirurgie entscheidend voranbrachten. Claire Waldoff, die mit ihren korpulenten Formen so gar nicht dem androgynen Schönheitsideal zu entsprechen scheint, obwohl sie das männliche Auftreten schon früher lebte als viele andere Frauen, lässt es sich nicht nehmen, über die kosmetischen Eingriffe zu spotten. VI. Wegen Emil seine unanständige Lust - Claire Waldoff (2'51) T: Julian Arendt, M: Paul Strasser (1929) Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge II, Membran Music 223227-354/D, LC 12281 Wer hätte gedacht, dass es schon in den Zwanziger Jahren Schönheitsoperationen gab – das war Claire Waldoff mit einem selbstbewussten „Nein!“ zu Face-Lifting, Fettabsaugung und Nasenkorrektur. In einem Couplet aus dem Jahre 1929 von Julian Arendt und Paul Strasser. In den Tanzdielen, in denen das Flirten über Rohrpost und Tischtelefone erleichtert wird, dreht man sich in Ekstase. Dauertänzer Fernando hottet ohne Pause 155 Stunden lang über das Parkett und verbraucht dabei zweitausend Tänzerinnen, sechzig Liter Limonade, vierhundert Zigaretten und elf Paar Schuhsohlen. Doch – es ist ein Tanz auf dem Vulkan. Unter der Sucht nach Rausch, unter der brodelnden Oberfläche der angeblich so goldenen Zwanziger Jahre, verdrängen die Menschen noch immer die Erfahrungen des Krieges und der Inflation. Ein sensibler Beobachter wie Joachim Ringelnatz durchschaut dies sehr wohl: „Das geknechtete Berlin schlemmt und tanzt, wie man in Paris tanzte vor dem Geköpftwerden“, schreibt er 1924. Die Schlager, die in rauen Mengen auf den Markt geworfen werden, sehnen sich nach immer exotischeren Zielen: Nach Hawaii, Honolulu, dem Himalaya – an den des Reimes wegen Herr Meyer reist – oder auch nach dem Mars. Dem Wunsch nach Realitätsflucht entspricht auch der bewusst intendierte Nonsenscharakter vieler Texte. VII. Ich kauf mir ne Rakete - Max Raabe
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