Titel Koalition der Kraftlosen Angela Merkel und Franz Müntefering stehen einer Regierung vor, die schon ein Jahr nach Amtsantritt zerschlissen wirkt. Visionsfrei und weitgehend führungslos wird dahinregiert – kein Durchbruch, nirgends. Millionen von Bürgern wenden sich verärgert ab. uf der Chefetage des Bundeskanz- leramts hängen sie einträchtig ne- Abeneinander. Sie säumen den Gang, der vom Büro der Angela Merkel zu dem ihrer Vertrauten Beate Baumann führt: Wer die Ahnengalerie deutscher Kanzler ab- schreitet, blickt in verschlossene, von den Zeitläuften zerfurchte Gesichter. Es sind vor allem die funkelnden Au- gen, der entschlossene, feste Blick, der die- se Fotografien auszeichnet. Inmitten der zerklüfteten Gesichtslandschaften wirken die Augen wie Leuchttürme, die Orientie- rung und Standfestigkeit symbolisieren. Die jetzige Kanzlerin wird später ver- mutlich ebenfalls zu einer solchen ge- schichtsträchtigen Figur erstarren. Einst- weilen aber zeigt Angela Merkel etwas, was man bei deutschen Bundeskanzlern so of- fen kaum je hat besichtigen können: Angst. Aus Angst, das Falsche zu sagen, liest sie selbst Grußworte vom Blatt ab, wie jüngst vor dem Korps der in Berlin versammelten Auslandsjournalisten. Aus Angst vor einer Niederlage greift sie die SPD niemals direkt an. Aus Angst vor den Ministerpräsidenten der Union schickt sie selbst in dieser Schlacht andere vor, wie kürzlich Innen- minister Wolfgang Schäuble. Aus Angst vor dem Schwesterzwist mit der CSU lässt sie deren Chef Edmund Stoiber jede Tölpel- haftigkeit begehen, ohne dass der auch nur ein böses Wort zu befürchten hätte. Die Parteifreunde erleben eine Angela Mutlos, die nur noch schemenhaft an jene zielstrebige Politikerin erinnert, die einst den Parteipatriarchen Helmut Kohl aufs Altenteil schob, um, derart befreit, in Rich- tung Kanzleramt loszustürmen. Wie zur Kompensation tritt sie im In- nersten ihres Machtzirkels herrisch auf. Hier fallen die barschen Worte, hier erfol- gen die Zurechtweisungen, die sie sich draußen verkneift. Die Gegner tanzen ihr auf der Nase herum, während das engste Umfeld leidet: „Das Wort ,Danke‘“, sagt einer ihrer Mitarbeiter, „habe ich hier noch nie gehört.“ Vizekanzler Franz Müntefering könnte das politische Vakuum für sich nutzen. Aber er hat seine besten Tage hinter sich und reitet der Abendsonne entgegen. Er will in Frieden leben, auch mit Merkel. Von der SPD ist er mindestens so ent- täuscht wie sie von ihm. Im Zorn hat er vor Partner Müntefering, Merkel: Die Terminkalender sind gut gefüllt, aber die Ideenvorräte 20 der spiegel 44/2006 einem Jahr den Parteivorsitz niedergelegt, und offenbar verzeiht er sich diese Ner- Große Minus-Koalition „Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit ... venschwäche bis heute nicht. Der Müntefering dieser Tage hat mit ... von Bundeskanzlerin ... von Vizekanzler ... der Bundesregie- Angela Merkel?“ Franz Müntefering?“ rung ingesamt?“ dem Arbeiterführer von einst nur noch 83 den Namen gemein. Er ist ein Gewesener, 77 dessen Gestaltungsanspruch seit dem weniger zufrieden/ Machtverzicht zusammengefallen ist wie gar nicht zufrieden 68 66 ein erkaltetes Soufflé. Seine Getreuen 64 64 bewegt inzwischen nur noch eine Fra- 59 Angaben in Prozent 54 ge: Hält der Franz durch bis zur nächs- 49 TNS Infratest für den SPIEGEL ten Wahl, oder schmeißt er schon vor- rund 1000 Befragte; 45 45 an 100 fehlende Prozent: her hin? „weiß nicht“/keine Angabe 35 35 34 32 sehr zufrieden/zufrieden 24 Oktober 21 16 Mai Juli Oktober Mai Juli Oktober Mai Juli So ist diese Große Koalition schon an der Spitze eine merkwürdig kraftlose Ver- anstaltung. Die Terminkalender der politi- schen Führungskräfte sind gut gefüllt, aber ihre Ideenvorräte scheinen aufgezehrt. Das Volk trägt diese Regierung nicht, es erduldet sie. Die jüngste Umfrage von TNS Infratest im Auftrag des SPIEGEL weist ei- nen Abgrund von Misstrauen aus. Nur noch 16 Prozent der Befragten sind mit diesem merkwürdigen Gespann zufrieden (siehe Grafik). Selbst das alltägliche Fordern, Mahnen und Drohen ist bei Licht besehen ein eher mattes Ritual geworden. In Wahrheit wird ja gar nicht gestritten, nur gestänkert. Es gibt keine Siegeszuversicht. Nicht einmal der Wunsch, es dem anderen wirklich zei- gen zu wollen, ist besonders ausgeprägt. Diese Koalition, die sich zu Unrecht die Große nennt, bezieht ihr Lebenselixier einzig aus der Schwäche des jeweils ande- ren. Weil der Stimmenentzug bei der Bun- destagswahl für alle Beteiligten so groß ausfiel, dass keiner mit einem kleinen Partner regieren konnte, fand man zu- sammen. Der wichtigste Grund des Zu- sammenbleibens ist der, dass zum Weg- rennen die Kraft fehlt. Der Wähler hat es offenbar so gewollt, zumindest hat er das Seinige dazugetan: Rot-Grün wurde abgewählt, ohne dass die schwarz-gelbe Koalition antreten konnte. Es wird in Berlin getagt und getafelt, man fährt vor oder entschwebt, es werden TV-Auftritte absolviert wie in einer End- losschleife. Einen tieferen Sinn aber als den, die Zipfelchen der Macht in den Hän- den zu behalten, ist diesem Treiben nur schwerlich abzugewinnen. Von einer „Zwangsehe“ spricht in aller Offenheit der CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hängt Wechselphantasien nach und zwinkert mittlerweile auch öffentlich den Liberalen zu. Sein Ansehen bei den Wählern ist zur- zeit deutlich größer als das von Angela FABRIZIO BENSCH / REUTERS FABRIZIO Merkel. Bei einem direkten Duell würden scheinen aufgezehrt ihn laut TNS Infratest 43 Prozent zum der spiegel 44/2006 21 ze von großer Entschiedenheit und ein ein- deutiges Programm. Die Deutschen haben Angela Merkel viel nachgesehen, ihre zuweilen spröde, manchmal auch etwas strenge Art, ihre Un- sicherheiten im öffentlichen Auftritt, ihr Unvermögen, Menschen mit Worten zu be- geistern. Das alles hat die Bürger nicht da- von abgehalten, ihr am Anfang der Kanz- lerschaft Traumnoten zu geben. Sie be- gannen, ihr Vertrauen zu schenken. Merkel hat ja unbestreitbar viele vor- zeigbare Seiten. Sie ist wissbegierig und sachorientiert, sie ist auch nach einem Jahr im Kanzleramt erstaunlich bescheiden ge- blieben. Sie lässt ihre Gegenüber ausreden und hört ihnen zu, sie wird Fremden ge- genüber nie unwirsch oder herrisch. Sie wird allenfalls etwas spöttisch, wenn sich die Debatte im Kreis zu drehen beginnt. Doch das sind Eigenschaften, mit denen sich auch eine Erwachsenenfortbildungs- stätte leiten ließe. Um ein Land zu führen, braucht es Entschlossenheit, auch Ri- sikobereitschaft. Und eine klare Vorstel- lung, wohin man führen will. Es sind zwei Worte, die Merkels Mangel wahrschein- lich am deutlichsten beschreiben: fehlende Führung. Nach einem Jahr Schwarz-Rot ist man um ein paar Überraschungen reicher. Die erste Überraschung ist, wie schnell sich der Zauber des Anfangs verflüchtigt hat. Die zweite, wie wenig die neue Regierung von den günstigen wirtschaftlichen Umständen zu profitieren versteht, die ihr das Geschäft eigentlich sehr erleichtern müssten. Es ist lange her, dass eine Regierung in der Lage war, zusätzliche Steuereinnahmen in zwei- stelliger Milliardenhöhe zu verbuchen. MICHAEL HANSCHKE / DPA Und es war auch ein seltener Fall, dass, SPD-Chef Beck*: Eher zufällig die Debatte über soziale Ausgrenzung losgetreten wie im WM-Sommer, eine wochenlange Euphorie die übliche grämliche Stimmung Kanzler wählen, die Amtsinhaberin käme kern und Handelskammern, sie ist beim im Volk vergessen machte. auf 37 Prozent. Außenhandelsverband zu Gast, bei Fir- Die größte Überraschung aber ist zu- 343 Tage ist Merkel jetzt im Amt, sie ist menjubiläen und Bankentagungen, sie gleich die vielleicht größte Enttäuschung: die mächtigste Frau Deutschlands, sie gibt besucht Schulen und Bundeswehr-Stand- Kaum jemand hat für möglich gehalten, die Richtlinien der deutschen Politik vor, orte. dass die Qualität des Regierungshandwerks so steht es in der Verfassung. Aber davon Aber es formt sich kein Bild. Je ausgie- weiter sacken könnte. Es wird repariert ist im Regierungsgeschäft nicht viel zu mer- biger sie sich zeigt, desto mehr verflüchtigt und geflickt, als hätte es keinen Regie- ken, der Verfassungstext und die Berliner sie sich. Als sie sich um das Amt bewarb, rungswechsel gegeben. 20 Prozent aller Realität klaffen weit auseinander. war sie Merkel, die Reformerin. Es gab Sät- Gesetze, schätzt die Steuerrechtsprofesso- Es stellen sich Fragen, die sich ein Jahr rin Johanna Hey, dienen der Korrektur des nach Geschäftsübernahme eigentlich nicht jeweils vorangegangenen Gesetzes. stellen dürfen: Wer regiert Deutschland? Beck liegt vorn Das Land geht nun in sein zweites Jahr Ist es die Kanzlerin, oder ist es der Vize- „Wenn man den Kanzler direkt im Wartestand. Die guten Wirtschaftsdaten kanzler? Liegt die Macht in Wahrheit bei wählen könnte, wen würden bedeuten nicht, dass sich an der Grund- den Ministerpräsidenten? Oder regiert am Sie wählen?“ verfassung Entscheidendes geändert hät- Ende niemand und damit die grauen Ge- te. Nach wie vor wird auf die demografi- sellen der Ministerialbürokratie? Kurt 43 37 Angela schen Probleme nicht angemessen reagiert, Es ist kein guter Zustand für ein Land, Beck Merkel nach wie vor gibt es keine überzeugende wenn die Frage aufkommt, wer das Sagen Antwort darauf, wer die Rente bezahlen hat. Es ist sogar ziemlich besorgniserregend. soll, wenn die Zahl derjenigen, die ein- Untätig ist Merkel nicht. Sie ist fast täg- % zahlen, immer kleiner wird. lich im Einsatz, sie spricht vor Handwer- Von den nun angebotenen neuen Jobs 14 spontan: werden die Langzeitarbeitslosen wieder keinen von beiden nicht profitieren. Eine feste,
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