Angebliche "Gewaltfreiheit" Als Gründungsmythos

Angebliche "Gewaltfreiheit" Als Gründungsmythos

Das ambivalente Angebliche Verhältnis der Grünen „Gewaltfreiheit“ als zur Gewaltfrage Gründungsmythos Stephan Eisel Die Debatte um die militante Vergangen- suchten, dominierte bei der nachfolgen- heit von Außenminister Joschka Fischer den Spontibewegung und den daraus und Umweltminister Jürgen Trittin ist für entstehenden Grünen die Debatte um die die Grünen nicht nur unangenehm, weil Mittel des Protestes und des Widerstan- es dabei um ihre prominentesten Reprä- des gegen demokratische Mehrheitsent- sentanten geht, sie ruft auch in Erinne- scheidungen. rung, wie schwer sich die Grünen seit ih- Die Frage, inwieweit dabei Gewalt zur rer Gründung mit der klaren Ablehnung Erreichung eigener politischer Ziele legi- von Gewalt als Mittel der politischen tim sei, schob sich dabei so sehr in den Auseinandersetzung taten. Dieser Pro- Vordergrund, dass die Grünen sich bei zess ist auch deshalb noch nicht abge- ihrer bundesweiten Gründung 1980 be- schlossen, weil der Generationenwechsel wusst das Etikett „gewaltfrei“ zulegten. in der Führungsetage der Partei noch Der scheinbar klare Begriff sollte von der nicht in Gang gekommen ist. Die Emanzi- tatsächlich diffusen Haltung zur Gewalt- pation von der Gründergeneration der frage ablenken. Noch nie zuvor hatte Grünen steht noch aus. eine demokratische Partei geglaubt, die Noch dominieren an der Spitze der Par- Selbstverständlichkeit der Gewaltableh- tei die Nachkriegskinder Rezzo Schlauch nung so unterstreichen zu müssen. In (Jahrgang 1947), Joschka Fischer (Jahr- Wahrheit spiegelte sich darin das ambi- gang 1948), Jürgen Trittin (Jahrgang 1954) valente Verhältnis der Grünen zum staat- oder Claudia Roth (Jahrgang 1955). Sie lichen Gewaltmonopol, der Kehrseite des waren keine 68er wie zum Beispiel der in der Demokratie unverzichtbaren indi- im Krieg geborene Rudi Dutschke (Jahr- viduellen Gewaltverzichtes. Das schlech- gang 1940), sondern erlebten ihre politi- te Gewissen stand mit dem Begriff „ge- sche Sozialisation in den siebziger Jahren, waltfrei“ quasi im Parteinamen der Grü- als Willy Brandt und Helmut Schmidt nen. regierten. Ihre Agitationsziele und Akti- onsfelder waren nicht mehr das Berli- Gewalttheorien als Legitimation ner Springerhochhaus, sondern Brokdorf, für Gewalttaten Wackersdorf und Gorleben für die Anti- Für die Rechtfertigung von Gewalt in Atom-Bewegung, Mutlangen im Kampf der politischen Auseinandersetzung be- gegen die NATO-Nachrüstung und die zog man sich gerne auf Herbert Marcuses Startbahn West des Frankfurter Flugha- Theorie der „Repressiven Toleranz“. Da- fens. nach ist der demokratische Staat eigent- Wo Dutschke und der Sozialistische lich ein repressiver Staat, der den Einzel- Deutsche Studentenbund (SDS) in langat- nen durch die scheinbare Gewährung de- migen Theoriedebatten den inhaltlichen mokratischer Freiheit ständig manipu- Gehalt ihres Protestes zu formulieren liert. Dieser angeblichen Repressivität des Seite 60 Nr. 376 · März 2001 Angebliche „Gewaltfreiheit“ als Gründungsmythos Systems setzte Marcuse seine „befreiende strationen gegen Kernkraftwerke ebenso Toleranz“ entgegen. Der Einzelne ist wie Hausbesetzungen oder Kasernen- demnach nicht nur berechtigt, sondern blockaden zu rechtfertigen. Michael geradezu genötigt, der eigenen Befreiung Wendt und Klaus-Jürgen Schmidt, da- wegen zur Gewalt zu greifen. mals für die Alternative Liste im Berliner Nicht weniger folgenreich war Johan Abgeordnetenhaus, äußerten zum Bei- Galtungs Gewaltanalyse, die Ende der spiel im Juli 1981 in einem Spiegel-Inter- sechziger Jahre das Stichwort der „struk- view: „Wir haben die Gewalt nicht erfun- turellen Gewalt“ hervorbrachte. Aus- den, wir haben sie vorgefunden. Wir ge- gangspunkt war Galtungs Auffassung, hen davon aus, dass tatsächlich Verhält- dass eine Eingrenzung des Gewaltbegriffs nisse bestehen, die auf Gewalt beruhen. auf bloße physische Beschädigung abzu- Dass es dagegen ein legitimes Wider- lehnen sei. Er führt die Kategorie der standsrecht gibt, haben wir in unserem „strukturellen Gewalt“ ein, der als „all- Programm auf die Formel gebracht, dass gemeine Formel Ungleichheit, vor allem die Betroffenen die Form ihres Wider- Ungleichheit in der Verteilung der Macht“ standes selbst entscheiden.“ Aus dieser zu Grunde liegt. Ergebnis der Galtung- allgemeinen Bewertung folgt das Ver- schen Betrachtungen war ein außeror- ständnis für konkrete Gewaltanwen- dentlich weit gefasster Gewaltbegriff. dung: „Es war politisch notwendig, dass Nach diesem Konzept wurde jedes Hin- beispielsweise im Dezember am Ku- dernis, jede Schwierigkeit oder – wie Pe- Damm die Steine geflogen sind.“ ter Graf Kielmansegg es formulierte – „je- Rainer Trampert, Bundesvorsitzender des Zurückbleiben sozialer Ordnungen der Grünen, äußerte sich im Februar 1983 hinter dem Ziel der Vollkommenheit als ähnlich: „Wenn man sich anguckt, dass Ausdruck von Gewaltverhältnissen auf- ein Zerstörungspotenzial aufgebaut wur- gefasst“. de, mit dem die Erde sechs-, siebenmal Die Wortführer der studentischen Pro- vernichtet werden kann, wenn man sich testbewegung der sechziger Jahre griffen die reale Staatsgewalt anguckt, wie sie die wesentlichen Stichworte der neuen Herr Zimmermann vorschlägt und reali- Gesellschafts- und Gewalttheorie schnell siert, dann ist der Steinwurf eines De- auf und nutzten sie für ihren politischen monstranten meines Erachtens Ausdruck Tageskampf. Da war oft die Rede von der einer schreienden Hilflosigkeit gegen die- „staatlichen Gewaltmaschine“ (Dutschke) ses Gewaltpotenzial.“ Marie Luise Beck- oder der „ständigen Gewalt der Herr- Oberndorf, damals Bundestagsabgeord- schenden“ (Meschkat). Marcuses Theorie nete, übernahm wie viele andere Reprä- der „repressiven Toleranz“ und Galtungs sentanten der Grünen diese Argumenta- Definition der „strukturellen Gewalt“ bo- tion: „Was ist denn zum Beispiel das Wer- ten jede Möglichkeit, auch die bundes- fen eines Steines im Verhältnis zu dem deutschen Ordnungen als gewaltsam zu ungeheuren Gewaltpotenzial, das in den beschreiben. Mit dieser Vorstellung von Sprengköpfen dieser Atomraketen steckt, einer Allgegenwart der Gewalt wurde die im Herbst stationiert werden?“ Der in Gegengewalt gerechtfertigt, am radikals- der Alternativszene häufig anzutreffende ten in der Form terroristischer Anschläge. Slogan „Macht kaputt, was Euch kaputt Im alternativ-grünen Bereich hatten macht“ war das popularisierte Resultat die Theorien von Marcuse und Galtung von Marcuses und Galtungs Theorien. ihre Auswirkungen auch dort, wo man Zur Tendenz, eigene Gewaltbereit- sich vom Terrorismus distanzierte. Es schaft als Gegengewalt und damit quasi war üblich, damit gewalttätige Demon- als Notwehr zu entschuldigen, kamen seit Die politische Meinung Seite 61 Stephan Eisel Ende der sechziger Jahre weitere begriff- und Tor geöffnet, das rechtfertigende liche und theoretische Verharmlosungen Wort vom „gewaltfreien Widerstand“ von Gewalt. hatte Hochkonjunktur. Es war in diesem Umfeld kein Problem, auch Blockaden Begriffliche Verharmlosung und und Besetzungen unter das Schlagwort Anspruch auf Definitionsmonopol „Gewaltfreiheit“ zu fassen – man be- Die Unterscheidung zwischen „progres- stimmte ja selbst, was Gewalt ist. So nah- siver“ und „reaktionärer“ Gewalt ließ men viele Bundes- und Landtagsabge- ebenso wie die Unterscheidung zwischen ordnete der Grünen im Zusammenhang „Gewalt gegen Sachen“ und „Gewalt ge- mit der Auseinandersetzung um den gen Menschen“ jeweils eine bestimmte NATO-Doppelbeschluss an Blockaden Art der Gewaltanwendung als legitim er- amerikanischer Kasernen und des Deut- scheinen. Insbesondere die Formel „Ge- schen Bundestages, des Bundeskanzler- walt gegen Sachen, nicht gegen Men- amtes und des Verteidigungsministeri- schen“ wurde sehr populär, da sie den ums teil. Gewaltcharakter der „Gewalt gegen Sa- Über Blockaden hinaus gehört auch chen“ quasi wegdefinierte. das Eindringen zum Beispiel in gesperr- Hinzu kam der Anspruch auf das Defi- tes Gelände und die Weigerung, dieses nitionsmonopol, was Gewalt sei und was wieder zu verlassen, zum Repertoire des als „gewaltfrei“ zu gelten habe. So bean- „gewaltfreien Widerstandes“. Bei den spruchte ein Sprecher der Bürgerinitiati- Konflikten um den Bau der Startbahn ven gegen den Frankfurter Flughafenaus- West des Frankfurter Flughafens äußerte bau, „dass wir als Bürgerinitiativen selbst zum Beispiel ein Sprecher der opponie- definieren, was gewaltfrei ist, und uns renden Bürgerinitiativen zu einer mögli- nicht von irgendjemandem, der außer- chen Bauplatzbesetzung: „Für uns ist das halb der Bewegung steht, das vorschrei- keine Gewalt.“ Als sich in Berlin in den ben lassen. Und weil das so ist, wird ziem- achtziger Jahren Hausbesetzungen häuf- lich präzise innerhalb eines Rahmens, der ten, erklärte der damalige Bundestags- breit diskutiert und vorgegeben worden kandidat Otto Schily für die Grünen: ist, in der Vorbereitung auf jede konkrete „Eine Hausbesetzung ist gewaltfrei.“ Im Aktion bestimmt, was unter diesen Be- Zusammenhang mit den Protesten gegen griffen zu verstehen ist.“ die Stationierung amerikanischer Mittel- Im „Friedensmanifest“ der Grünen streckenraketen definierten schließlich vom Herbst 1981 heißt es: „Wir lassen uns Sprecher der Friedensbewegung auch das nicht durch Vertreter der Staatsgewalt ir- Vordringen auf das Gelände amerikani- ritieren, die nicht legale, gewaltfreie Ak- scher Kasernen als „gewaltfrei“. tionen als verkappte Gewalt darstellen Wo Blockaden und Besetzungen Teile wollen.“ Petra Kelly unterstrich am 4. Mai eines angeblich „gewaltfreien Widerstan- 1983 im Deutschen Bundestag: „Wir las- des“

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