Sándor Szenes: geb. 1924 in Budapest, hat die Deportationen 1944 miterlebt. Er wurde nach Dachau verschleppt, ins KZ Landsberg verlegt und dort von amerikanischen Soldaten befreit. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft, Arbeit als Journalist für Zeitungen und den ungarischen Rundfunk. Aufsätze über das Schicksal der ungarischen Juden im II. Weltkrieg; sein Buch über dieses Thema (Befejezetlen múlt), dessen Veröffentlichung lange durch die Behörden verhindert wurde, erschien 1986. Frank Baron, geb. 1936 in Budapest, 1947 Emigration in die USA, seit 1954 amerikanischer Staatsbürger. Studium der Geschichte und Germanistik, heute Professor an der Universität Kansas (germanistisches Seminar). Forschungsgebiete: Literatur und Literaturgeschichte in der Renaissancezeit sowie im 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen über Peter Luder, Stephan Hoest, Joachim Camerarius, Faust; Zeitschriftenartikel über Paracelsus, Rilke, Hesse, Thomas Mann, Albert Bloch und zur ungarischen Literaturgeschichte. Sándor Szenes und Frank Baron Von Ungarn nach Auschwitz Die verschwiegene Warnung Westfälisches Dampfboot Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme Szenes, Sándor: Von Ungarn nach Auschwitz: die verschwiegene Warnung / Frank Baron und Sándor Szenes. - 1. Aufl. - Münster: Westfälisches Dampfboot, 1994 ISBN 3-924550-98-0 Ne: Baron, Frank: 1. Auflage Münster 1994 © Verlag Westfälisches Dampfboot Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Egbert Lütke-Fahle Druck: Druckwerkstatt Hafen GmbH, Münster ISBN 3-924550-98-0 Inhalt Frank Baron: Vorwort 7 Einleitung 9 Sándor Szenes: Warnung und Schweigen in Budapest (Interviews) 51 I. József Éliás 55 II. Mária Székely 67 III. András Zakar 75 IV. Sándor Török 85 Anhang Frank Baron: Früheste Berichte über Auschwitz und die Deportationen 99 I. Rudolf Vrba und Alfred Wetzler 107 II. Czeslaw Mordowicz und Arnost Rosin 153 III. Der "polnische Major" 163 IV. Ghettoisierung und Deportationen in Ungarn 191 Personenregister 203 5 6 Vorwort Die Aufgabe, historische Ereignisse als Zusammenhang zu erkennen und darzustellen, wird besonders schwierig, wenn Menschen in einflußreicher Position es vorziehen, sich in Stillschweigen zu hüllen über Dinge, die sie früher einmal wußten, und über das, was sie selbst getan oder auch nicht getan hatten. Die Verbrechen in ihrer Abscheulichkeit, die im Jahr 1944 in Ungarn begangen wurden, schufen einen luftleeren Raum. Als Sándor Szenes seine Forschungen über die Folgen der Besetzung von Ungarn durch die Deutschen am Ende des zweiten Weltkriegs begann, fehlte es völlig an Beweismaterial für die Beantwortung von kritischen Fragen. Schon ehe die Massendeportationen der jüdischen Bevölkerung durchgeführt wurden, waren in Budapest Meldungen darüber im Umlauf, was die Deportationen in Wirklichkeit bedeuteten. Eine genaue Dokumentation über empfangene Warnungen und deren Bekanntmachung war unbedingt nötig. Szenes fand die Lösung für dieses Problem, indem er Personen interviewte, die unmittelbar in dem Versuch involviert waren, im Sommer 1944 der politischen Führung und der Kirchenführung Berichte über Auschwitz zu liefern. Seine Interviews stellen das fehlende Bindeglied in einem dramatischen Abschnitt der Geschichte dar. Meine persönliche Beteiligung an dieser Aufgabe begann, als ich von Sándor Szenes und seinen Entdeckungen erfuhr und als es mir klar wurde, daß die Berichte über die Vernichtungslager, die die Geschehnisse in Budapest tiefgehend beeinflußt hatten, in ihrer Bedeutsamkeit weit über den Bereich der ungarischen Geschichte hinausgingen. Die Berichte zwangen schließlich Regierungshäupter und führende Repräsentanten der Kirchen außerhalb des deutschen Einflußbereichs, sich mit der Realität der Massenvernichtungen auseinanderzusetzen und dazu Stellung zu nehmen. Ich habe einerseits versucht, die Reaktionen zu beschreiben, die diese schockierenden Enthüllungen hervorriefen, und andererseits auch die 7 Mächte, die sich für deren Geheimhaltung einsetzten. Da die frühen Auschwitz-Berichte Original-Dokumente aus dem zweiten Weltkrieg sind, verlangen sie eine weit größere Beachtung, als ihnen bisher zuteil geworden ist. Deshalb veröffentliche ich sie im Anhang. Die Illustrationen in den Berichten sind verkleinerte Ablichtungen aus dem Text in Maschinenschrift. Die Abbildungen sind aus dem privaten Fotoarchiv von Sándor Szenes. Die Luftaufnahme von den Vernichtungs- lagern Auschwitz-Birkenau stammt aus dem Nationalarchiv in Washington. László Bodolay (Budapest) übersetzte die Interviews aus dem Ungarischen ins Deutsche. Ursula Huelsbergen (Lawrence, Kansas) übersetzte das Vorwort, die Einleitung und den Mordovicz-Rosin-Bericht vom Englischen ins Deutsche und hat bei der Gesamtkorrektur mitgewirkt. Ich bin Hartmut Rudolph (Münster) und Péter Küllöi (Budapest) zu besonderem Dank verpflichtet, da sie dazu verholfen haben, diese Veröffentlichung Wirklichkeit werden zu lassen. Frank Baron Lawrence, Kansas Eine kleine Zahl von Fehlern wurde in dieser Internet Darstellung Korrigiert. F.B. 8 Einleitung Er hat die Deportation von Ungarn nach Auschwitz mitgemacht und hat sie überlebt. Elie Wiesel stellt beunruhigende Fragen über die Geschehnisse im Jahr 1944. Ich halte die Tragödie der ungarischen Juden für etwas, das zu ernster Anklage berechtigt und aufruft. Warum haben wir davon nichts gewußt? Ich könnte vieles erzählen, denn ich bin ein ungarischer Jude. Bis heute bemühe ich mich darum zu verstehen, was da geschehen ist. Falls es je eine Tragödie gegeben hat, die hätte vermieden werden können, dann war es diese. Es war spät im Verlauf des Krieges — es war schon April, Mai — der erste Transport verließ Sziget am 16. Mai, drei Wochen vor dem Tag X, vor der Landung in der Normandie. Deutschland verlor den Krieg, und Deutsch-land wußte es. Dennoch wurden 450.000 Juden aus den Provinzen in Zügen mit versiegelten Waggons verschleppt. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Warum wurde dem nicht Einhalt geboten?1 Diese Fragen führen zu weiteren Fragen: Wer wußte, was Elie Wiesel und andere Juden nicht wußten? Wann erhielten sie die Information über das Ausrottungsprogramm, das Ungarn bedrohte? Warum blieb die Information geheim für die Bevölkerung? Warum zögerte man, etwas dagegen zu tun? Wie wurde die Information weitergegeben und an wen? Waren die informierte politische Führung und die Verantwortlichen in der Kirchenführung dazu in der Lage, die Deportationen zu beenden oder 1Elie Wiesels Einleitung zu Randolph L. Braham und Bela Vago (Hrsg.): The Holocaust in Hungary Forty Years Later. New York 1985, S. xiv. Die eigentliche Zahl der Deportierten war nach Angaben der deutschen Behörden 437 402. Vgl. Anmerkung 3. Die Deportation aus Ungarn und deren Folgen werden gezeigt in Elie Wiesels Buch: Night. Toronto 1960. 9 wirksame Rettungsaktionen zu unternehmen? Warum weigerte man sich, etwas zu tun, oder warum zögerte man, bis die meisten Deportationen ausgeführt worden waren? Welche ideologischen oder taktischen Überlegungen beeinflußten ihre Handlungen? Wann erhielt die jüdische Führung einen Bericht über Auschwitz, und was hat sie mit diesem Bericht angefangen? War es Nachlässigkeit, oder waren die Schwierigkeiten zu groß, als daß man sie hätte überwinden können? Gab es überhaupt vernünftige Entscheidungsmöglichkeiten? Was hätte man unternehmen können? Wiesel sagt, daß das Unternehmen zur Ausrottung der jüdischen Bevölkerung in Ungarn von einer relativ kleinen Anzahl deutscher Truppen, Funktionäre und Kollaborateure wirksam ausgeführt wurde, solange man nicht mit Sicherheit wußte, was eigentlich vor sich ging. Geheimhaltung war der Hauptbestandteil der Nazi-Pläne für die “Endlösung” in Ungarn. Als zwei Juden im April 1944 von Auschwitz entkamen und über das Lager berichteten, das die Deportierten aus Ungarn aufnehmen sollte, lieferten sie — als Möglichkeit — eine starke Handhabe dafür, dem wirkungsvollen Mechanismus von Deportation und Vernichtung Einhalt zu gebieten. Aber hätte das die Sachlage ändern können? Das Dokumentationsmaterial in diesem Buch enthält die Basis für die Beantwortung dieser Fragen. Wir bringen einmal eine Serie von Interviews mit Personen, die diesen Bericht über Auschwitz erhielten und verbreiteten. Die Interviews zeigen die Umstände, die zu der Zeit in Budapest herrschten, als der Bericht über Auschwitz dort ankam, und auch die Reaktion der politischen Führung und der Kirchenoberhäupter, die mit ihm konfrontiert wurden. Zum anderen drucken wir den Text des Berichts über Auschwitz, und dieses Dokument zeigt uns genauestens, welche schockierenden Enthüllungen die ungarische Führung in ihrer Hand hielt. Es hängt vom Verstehen und von einer genauen Deutung dieser Dokumente ab, wieweit wir die Fragen, die wir gestellt haben, beantworten können. Obwohl der Bericht im Krisenjahr 1944 eine zentrale Rolle spielt, wäre es doch riskant, ihn aus dem Zusammenhang zu lösen. Viele andere Faktoren — politische, militärische und geographische — kamen zusammen 10 und beeinflußten die Geschehnisse und deren schnellen Wechsel. Der Bericht über Auschwitz erreichte Ungarn während der unerwarteten Besetzung von Ungarn durch Deutschland, das bisher eigentlich ein Bundesgenosse war. Das Überraschungsmoment, die Geschwindigkeit und die brutale Tüchtigkeit verhalfen zum Erfolg der deutschen “Endlösung” in Ungarn. Warum wurde die Kenntnis über die Vernichtungslager von der ungarischen Bevölkerung ferngehalten? In welchem historischen Zusammenhang haben sich die Bemühungen abgespielt, durch die die schockierenden Neuigkeiten als Mittel benutzt wurden, um die Juden vor der Vernichtung zu retten? Die vorliegende
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