vom 26.12.2015, 13:00 Uhr Musik "Man muss die Welt von allen Seiten ansehen" Von Christine Dobretsberger Die Sängerin und Lehrerin Hilde Zadek, die kürzlich ihren 98. Geburtstag gefeiert hat, erzählt aus ihrem Leben, von der Exilzeit in Palästina, spricht über ihre Lieblingsrollen und erklärt, worauf es beim Singen vor allem ankommt. "Wiener Zeitung": Frau Zadek, Sie haben 25 Jahre an der Wiener Staatsoper gesungen und auch international große Erfolge gefeiert. 1971 nahmen Sie Abschied von der Bühne und widmen sich seither mit ganzer Kraft der Gesangspädagogik. Was war für Sie persönlich bereichernder: Ihre aktive Zeit als Sopranistin oder Ihr Wirken als Gesangspädagogin? Hilde Zadek bei der Präsentation des Buchs "Was ich liebe, gibt mir Kraft" Hilde Zadek: Für mich gibt es hier keinen von Christine Dobretsberger. Unterschied im Gewicht. Ich könnte nicht sagen, dass ich eins mehr geliebt habe, © Toppress Austria / Karl Schöndorfer das Singen oder das Unterrichten. Beides hat mir unerhört viel Spaß gemacht und mich sehr befriedigt. Zunächst zur Gesangspädagogik: Was lieben Sie am Unterrichten besonders? Dass ich Menschen formen und ihnen einen Ausblick auf die Welt geben kann. Kunst ist etwas ungemein Wichtiges im menschlichen Leben. Sie vertreten die Ansicht, dass ein Künstler ein möglichst vielseitig gebildeter Mensch sein sollte. Natürlich! Ein Sänger, der nur darauf bedacht ist, möglichst schöne Töne zu produzieren, ist kein Künstler. Ein Künstler ist ein allroundgebildeter Mensch. Neben der Musik sollte man sich mit Dichtung, Malerei, Architektur, aber auch mit Geschichte beschäftigen. Man muss sich die Welt doch von allen Seiten ansehen! Impressionistische Musik kann man zum Beispiel nur dann ideal singen, wenn man impressionistische Malerei kennt. Es gibt viele Parallelen in den verschiedenen Kunstsparten. Sie unterrichteten 15 Jahre am Wiener Konservatorium und avancierten zur Leiterin der Gesangsabteilung. Danach setzten Sie Ihre Lehrtätigkeit mit Meisterkursen und Privatunterricht fort. Würden Sie sagen, dass Unterrichten ebenso eine Kunst ist wie das Singen selbst? Selbstverständlich. Man muss versuchen, sich möglichst gut in den Menschen hinein zu fühlen, den man unterrichtet und ihn zu ermutigen, dass er sich öffnet. Im Gesang muss man sich so weit öffnen, dass das Gegenüber etwas dabei empfindet. Nur was man selbst empfindet, kann man weitergeben. Stures Notensingen ist das Scheußlichste, was es gibt. Sie meinen, wenn der Gesang nur auf Hilde Zadek in ihrer Zeit als Technik basiert? Opernsängerin. © apa/Wiener Staatsoper Ja, so ist es. Technik ist wichtig als Basis, ohne Technik kann man keinen Beruf ausüben, aber die Technik darf nicht vordergründig sein. Vordergründig muss immer der Mensch sein! Möchten Sie einige Namen von ehemaligen Studentinnen und Studenten nennen, über deren Werdegang Sie sich besonders freuen? Da gibt es viele! Adrianne Pieczonka, Maria Venuti, Georg Tichy, Alfred ramek, Ulrike Steinsky, Flurin Caduff, Georg Nigl und noch viele andere. Ihren Studenten zufolge vermitteln Sie das Gefühl, Singen sei das Einfachste auf der Welt. Das ist es auch! Jedes Kind kann singen, jeder Vogel kann piepen. Ist der Mensch traurig, dann wird er nicht singen, ist der Vogel traurig, wird er nicht pfeifen. Singen ist ein Ausdruck von Lust. Ich bin der Ansicht, dass ein Lernender aus jeder Gesangsstunde ein positives Hilde Zadek wurde am 15. Dezember Gefühl mitnehmen sollte: 1917 in Bromberg (Provinz Posen) Dass er etwas erfahren, geboren. 1935 musste sie dass er etwas in sich Deutschland aufgrund ihrer jüdischen entdeckt hat und der Welt Herkunft verlassen. Sie emigrierte näher gekommen ist. nach Palästina und verdiente sich in Jerusalem als Verkäuferin von Unterrichten Sie heute Kinderschuhen das Geld für ihr noch? Musikstudium, das sie 1945 mit Auszeichnung abschloss.1947 feierte Ich nehme keine Anfänger Zadek ihr Debüt als Aida an der mehr an. Zu mir kommen Wiener Staatsoper, die 25 Jahre lang arrivierte Sängerinnen und zum künstlerischen Zentrum ihres Sänger, die mich um meine Schaffens wurde. Sie wirkte in über Meinung fragen. Ratschläge 700 Vorstellungen mit und sang 29 erteile ich nach wie vor sehr Rollen aus den verschiedenen gerne. Musikepochen: Mozart (Gräfin Almaviva, Donna Anna, Vitellia), Seit 1998 gibt es den Richard Strauss (Salome, "Internationalen Hilde­ Chrysothemis, Marschallin, Arabella, Zadek­Gesangswettbewerb". Ariadne), Richard Wagner (Senta, Wie wichtig ist Ihnen diese Elisabeth, Elsa, Eva, Sieglinde), Veranstaltung? Giuseppe Verdi (Aida, Elisabeth, Amelia, Desdemona), Giacomo Der Hilde­Zadek­ Puccini (Tosca), Pietro Mascagni Gesangswettbewerb ist mir (Santuzza). ein großes Anliegen, weil er Gastspiele führten die Sopranistin an jungen Künstlern die die großen Opernhäuser der Welt. Möglichkeit gibt, ein Von 1964 bis 1978 unterrichtete Repertoire zu erarbeiten, Zadek am Wiener Konservatorium was meistens während des und avancierte zur Leiterin der Studiums gar nicht Gesangsabteilung. Meisterkurse stattfindet. Es war mir von führten sie u.a. nach Italien und Anbeginn enorm wichtig, Japan. Seit 1998 findet der nach ihr diesen Wettbewerb benannte "Internationale Hilde­ vonstatten gehen zu lassen, Zadek­Gesangswettbewerb" statt. damit sich die jungen Hilde Zadek lebt in Wien und Menschen aneinander Karlsruhe. messen können und auch Auszeichnungen (Auswahl): damit konfrontiert sind, sich Österreichisches Ehrenkreuz für mit moderner Musik Wissenschaft und Kunst (1965), beschäftigen zu müssen. Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper (1977), Großes Ehrenzeichen für Sie waren zeit Ihres Lebens Verdienste um die Republik sehr aufgeschlossen für die Österreich (2012). Moderne und sangen unter anderem Werke von © Toppress Austria / Karl Schöndorfer Benjamin Britten, Gian Carlo Menotti, Gottfried von Einem und Paul Hindemith. Ich finde, dass ein Künstler in der Zeit, in der er lebt, auch die jeweilige Kunst empfinden muss. An einem Gesangswettbewerb teilzunehmen war für Sie persönlich nie ein Thema, zumal Ihr künstlerischer Werdegang doch ganz anders verlaufen ist. Ich bin für nichts ein Musterbeispiel und bin direkt hineingesprungen ins kalte Wasser. Sowohl über Ihre Autobiographie und natürlich auch jetzt im Rahmen unseres Gesprächs vermitteln Sie eine ausgesprochen positive Einstellung zum Leben. Wie haben Sie zu dieser positiven Grundhaltung gefunden, auch in Anbetracht dessen, dass Sie als junge Frau eine denkbar schwierige Zeit zu meistern hatten? Ich denke, dass jeder Mensch ­ es sei denn, er ist krank ­ zu einer positiven Lebenseinstellung gelangen kann. Ich musste mich in meiner Jugend einer schwierigen Realität stellen. Aber das gab mir letzten Endes auch Kraft. Könnte man sagen, dass Ihr Wunsch, Sängerin zu werden, Ihnen doch ein beträchtliches Quantum an Lebensmut geschenkt hat? Oh ja! Mein Wunsch, Sängerin zu werden, hat mir nicht nur ein Quantum an Lebensmut geschenkt, er hat mein Leben geformt. Ich bin alle Wege gegangen, damit dieser Wunsch verwirklicht werden konnte. Und diese Wege waren gar nicht einfach. Im Oktober 1935 mussten Sie aufgrund der immer größer und bedrohlicher werdenden antisemitischen Anfeindungen Deutschland verlassen und nach Palästina emigrierten. Wie schafften Sie es, in Palästina Fuß zu fassen? Zunächst absolvierte ich eine Ausbildung zur Säuglingsschwester und arbeitete unter anderem im Hadassah Hospital in Jerusalem. Als meine Eltern und meine beiden jüngeren Schwestern 1939 ebenfalls nach Palästina emigrierten, eröffnete mein Vater in Jerusalem ein Kinderschuhgeschäft, in dem ich dann mitarbeitete. Neben der Arbeit im Schuhgeschäft begannen Sie 1940 ein Musikstudium am Konservato­ rium. Wie ließen sich Arbeit und Studium verbinden? Von acht Uhr Früh bis sieben Uhr abends habe ich Schuhe verkauft und von 19 Uhr bis 22 Uhr am Konservatorium Musik studiert. Danach musste ich das notwendige Quantum für mein Studium lernen. Dieses Arbeitspensum hielten Sie fünf Jahre lang durch? Man ist doch dazu geschaffen, dass man acht Stunden schläft und 16 Stunden zur Verfügung hat, um zu arbeiten. In dieser Zeit kam es allerdings zu einer Lebenskrise, auch zu Differenzen und Auffassungsunterschieden mit Ihrem Vater. Die Belastung ging so weit, dass Sie ­ wie Sie durchblicken ließen ­ daran beinahe innerlich zerbrochen wären. In dieser Zeit gab es viele Dinge, die ich seelisch verarbeiten musste, auch tiefgehende Gefühle, die ein junger Mensch eben in seinen Entwicklungsjahren durchlebt. Das Resultat war eine menschliche Krise. Aber ich habe sie überstanden und sie hat mich eigentlich viel stärker gemacht. Ich bedauere nicht, dass ich diese Krise hatte. Alles, was ich erlebt habe, hat mich in einer Weise geformt. Während Ihre Eltern und Ihre beiden Schwestern 1945 in die USA emigrierten, sind Sie nach Europa zurückgekehrt, zunächst nach Zürich, wo Sie bei Ria Ginster Liedgesang studierten. In Zürich kam es auch zu dieser schicksalshaften Begegnung mit Franz Salmhofer, dem damaligen Wiener Staatsoperndirektor. In der Folge wurden Sie am 26. Jänner 1947 zum Vorsingen nach Wien eingeladen und hatten am 3. Februar Ihr Debüt als Aida. Sie lernten diese Partie in nur fünf Tagen. Ist es tatsächlich so, dass Sie zuvor noch nie auf einer Opernbühne gestanden waren? Ja, es waren meine ersten Bühnenschritte. Es ist doch sehr ungewöhnlich, als erste Partie sofort eine Hauptrolle zu singen. Das hat sich durch Zufall ergeben, weil es kurzfristig zu einer Absage kam und Direktor Salmhofer in fünf Tagen die Aida neu zu besetzen hatte. Es gab keine Proben, ich konnte kein Wort Italienisch,
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