M 3828 F HOHENZOLLERISCHE Herausgegeben vom Hohenzollerischen Geschichtsverein HEIMAT 42. Jahrgang Nr. 1 / März 1992 Neckarhausen um 1900. Im Vordergrund links die Betonbrücke von Baurat Max Leibbrand, 1900. An der Straße (senkrecht unter der Kapelle) der Erinnerungs-Obelisk mit Gedenktafel zur Brücke. In der Mitte das noch bestehende Forsthaus, die mittlerweile abgebrochene Scheuer und das längs stehende ehemalige Schafhaus. Rechts die Ulrichskapelle von Neckarhausen mit dem steinernen Brotlaib, die dritte Kapelle an dieser Stelle, erbaut 1889 von W. Fr. Laur. (Bildnachweis: Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart, Sammlung Metz) LYDIA FOCKE Kindheit in Neckarhausen Die Kindheit in den Jahren zwischen 1924 und 1934 spielte Neckarhausen war fürstlich-hohenzollerisch und preußisch. sich in einer überschaubaren Welt ab, mit Menschen, die man Es bestand aus der Oberförsterei, der Wirtschaft, dem Wohn- alle kannte, und in Häusern, in denen Kinder willkommen haus, der Kapelle, einem Sägewerk, einem Lagerhaus und aus waren. Sie bedeutete große Freiheit und viel Lebensfreude auf dem Bahnhof mit zwei Bahnwärterhäuschen. Ich glaube Wiesen, zwischen Bäumen und Sträuchern, im Wald und am nicht, daß die Neckarhausener ihren Ort damals als Weiler Neckar. Es war eine Zeit der Freundschaft unter den Neckar- bezeichneten. Man war Bahnstation! Das hatte weder Glatt hausener Kindern. noch Betra oder Empfingen aufzuweisen. Es war etwas Besonderes. Die Einwohner fühlten sich als Beamte oder hinunter. Dackel sprangen herum, und im Forsthaus hingen Geschäftsleute. Geweihe. Bei schlechtem Wetter durften wir dort spielen. Der Umgang der Neckarhausener untereinander war sehr Eine Idee kam von den Försterbuben: Frisör. Kundschaft war freundschaftlich. Das wirkte sich auch auf die Kinder aus. Es Lydia, denn sie hatte zwei Zöpfe. Mit einem Zopf am Kopf waren die drei Buben von der Oberförsterei, Roland, Eber- und einem in der Hand kehrte sie dann zur Mama heim. hard und Wolfram Gönner, der Alfred Strobel vom Säge- Rund um die Kapelle verbrachten die Kinder viel Zeit. Die werk, Robert Baum von der Wirtschaft, die Pfisterskinder Treppen rauf und runter, und die Nischen an den Kirchen- vom Lagerhaus, besonders der Max, und aus dem Wohnhaus wänden eigneten sich besonders gut zum Verstecken. Die das damals einzige Mädchen, die Lydia Missel. Dieses Wohn- Geschichte vom steinernen Brotlaib war jedem bekannt; aber haus hatte Großmutter Hauser, die frühere Wirtin und man versuchte immer wieder, ihn mit einem Stecken herun- Witwe des Benedikt Hauser, gebaut. Sie war die dominie- terzuschubsen. War Gottesdienst im Kichlein, wurden die rende Person im Leben der kleinen Lydia. Die Großmutter Kinder mitgenommen. Aber das Schönste in der Kapelle war wohnte oben, und von ihrem Stübchen aus hatte man einen das Jesuskind im Glaskasten auf der Empore. Wie oft schlich weiten Blick über das Glattal. Wenn aus den Wäldern manch- ich mich hinauf und betrachtete andächtig das Christkind. mal weiße Schwaden aufstiegen, erläuterte die Großmutter, Mir schien, als sei es direkt vom Himmel gekommen. daß die Hasen jetzt Küchle backen. Die kleine Lydia glaubte daran, ebenso wie an den Osterhasen, denn hinter dem Haus sprangen immer Feldhasen herum. Der Nikolaus kam zu jedem Kind mit Sack und Rute. Das Christkind schmückte Die Kindheitserinnerungen von Frau Lydia Focke, den mit seinen Lichtern richtig himmlisch wirkenden Christ- geb. Missel, bilden den Abschluß der »Glatter Schrif- baum. Die Tanne kam jedoch vom Fürst, der allgegenwärti- ten« Nr. 5, die vor einiger Zeit bei der Gesellschaft gen Respektsperson. Schloß Glatt erschienen ist. Diese Schrift gibt einen Längsschnitt durch die Geschichte des Weilers Die Großmutter liebte ich heiß. Sie war ein Teil von Neckar- Neckarhausen vom 11. bis ins 20. Jahrhundert. Das hausen, und alle achteten sie. Auf der »Bühne« hatte sie einen Heft enthält sechs Beiträge, es wird in dieser Nummer Taubenschlag. Manchmal durfte ich dort Futter streuen. Das der Hohenzollerischen Heimat besprochen (siehe Gurren der Tauben und das Plätschern des Brunnens neben Buchbesprechung). Wolfgang Hermann dem Haus waren die ersten und bleibenden Laute, die das Kleinkind Lydia aufnahm. Noch nach 60 Jahren überfällt mich ein Gefühl, wenn ich Tauben und einen Brunnen höre. Die Wirtschaft flößte den Kindern einen gewissen Respekt Weniger gemütlich waren die oft heftigen Gewitter. Dann ein. Draußen standen die Fuhrwerke mit den Pferden, innen flüchtete man zur Großmutter, die eine Kerze anzündete und ging es meist laut zu, und Rauchschwaden schwebten über laut betete. Sie war eine geborene Linsenmann und stammte den Gästen. Die Großmutter war oft dort; sie kannte viele aus der Mühle in Fischingen. Die furchtbare Brandkatastro- Leute. Gegen Abend wurde man als Kind mit einem Krug phe von 1912, als die Fischinger Mühle ganz abbrannte und zum »Baum« geschickt, um Bier fürs Vesper zu holen. Tote zu beklagen waren, prägte ihr angstvolles Verhalten bei Feuern und Blitzen. Neben der Wirtschaft befand sich ein großer Garten mit dem Schopf, in dem alles abgestellt wurde, was man nicht mehr Der Vater war ein bewundernswerter Mann. Oft trug er eine brauchte, aber vielleicht wieder gebrauchen konnte. Und da Uniform und übte seine Macht im Bahnhof aus. Dort war er war der Bienenstand. Unvergessen der Anblick der Groß- Stationsvorsteher und Herr über die Züge. Wenn er wollte, mutter mit ihrem riesigen Strohhut auf dem Kopf und dem hielten sie an oder fuhren weiter. Ein Besuch im Bahnhof war großen Schleier rings um den Hut. Den hatte die Großmutter immer interessant. Besonders der Telegraph. Aus einem auf, wenn sie die Bienenwaben herausnahm oder einen Apparat kam eine dünne, endlos lange Papierschlange, und Schwärm vom Baum holte. Dem kleinen Mädchen war alles der Vater wußte, was das bedeutete. In der Freizeit züchtete vertraut, was mit der Bienenzucht zusammenhing. Wenn im er besondere Hühner, die man nicht scheuchen durfte. Ab Schopf »geschleudert« wurde, gab es große Eimer voller und zu brachte er sie nach Glatt zur Ausstellung. Er war Honig. jedesmal bester Laune, wenn er dort eine Urkunde erhielt. Die Kinder dehnten ihre Streifzüge auch auf das große Das Haus besaß auf der Bühne einen Rauchfang. Dort Sägewerk und auf das Lagerhaus aus. Mit Alfred turnten wir wurden Speck und Würste hineingehängt, die Verwandte auf den Baumstämmen herum, bis uns die Arbeiter verjagten. mitunter aus Fischingen mitbrachten. Die Mutter hat dann in Das Geräusch der Sägen und der Geruch von Sägemehl ist eng der Küche ein Feuer aus WacholderbüscheLn und aus den mit der Kinderzeit verbunden. Im Lagerhaus gab's jede Tannenzapfen gemacht, die die Kinder gesammelt hatten. Menge Apfel. Dem Max war ich besonders zugetan; ich Ansonsten legte die Mama großen Wert auf ein gepflegtes versprach deshalb, ihn zu heiraten. Heim. Sie hätte deshalb das Töchterchen gern etwas gesitteter gesehen. Lydia streunte aber lieber mit den Buben draußen Aber zuerst holte uns die Schule heim. Ich wurde in Dettin- herum. Mit Puppen konnte sie nicht viel anfangen. Dagegen gen eingeschult. Am ersten und zweiten Tag brachte mich der Vater mit dem Fahrrad hin. Danach wanderte ich jeden Tag hing sie sehr an dem Teddybär Eugen. »Warum fährst Du und bei jedem Wetter die drei Kilometer hin und zurück. In denn den scheußlichen Bär mit dem schönen Puppenwagen der Schule selbst beeindruckten mich die vielen Mädchen. Bis herum?«, klagte die Mama. An einem unvergeßlichen Nach- dahin hatte ich nur Umgang mit Buben gehabt. mittag spielten die Kinder mit der Puppe Beerdigung. Das hatten sie schon mal in Betra beobachtet. Sie gruben zuerst ein Von Disziplin hatte die kleine Lydia keine Ahnung. Sie Loch im Garten; die Puppe kam in eine Schachtel, die schwätzte unentwegt und gab gleich alles von sich, was ihr Großmutter stiftete einen schwarzen Trauerflor und die Herz bewegte. Die Lehrerin war verzweifelt und bat die Rollen von Pfarrer und Leichenträger teilten die Buben unter Eltern um Hilfe. Der Vater lachte; die Mama säte mit sich auf. Es war eine eindrucksvolle Feier. Kressesamen das Wort »Lydia« in den Garten, und ich Uberhaupt Spiele! Unsere Phantasie war grenzenlos. Spielsa- konnte es lesen. chen gab es kaum; aber uns fiel immer etwas ein, und die Im nächsten Jahr kamen Max und Alfred in die Schule. Die Spielplätze wechselten. Beliebt war auch die Oberförsterei. Freude wurde etwas getrübt, als es hieß, der Alfred müsse ins Da gab es viele Möglichkeiten, bis zum Ralls-Häuschen evangelische »Schüle«. Ich kann mich nicht mehr erinnern, 2 was ich zu Hause als Antwort auf die Frage hörte, was denn Damals gab es keinen Fernseher, und doch hatten wir einen »evangelisch« sei. Aber ich weiß noch genau, daß ich einen Krimi mit Fortsetzungen: er hieß »Sixtus«. Ein Sträfling war ganzen Schulweg lang dem Alfred einredete, er dürfe nichts entflohen, den Gendarmen fieberhaft suchten. Nach Wochen von all dem glauben, was die in seiner Schule sagen, denn es fanden sie ihn in einer eindrucksvollen Behausung. Er hatte sei alles verlogen. Alfred nickte immer fest mit dem Kopf, und sich im Wald eine tiefe Höhle gegraben, mit Stämmen und ab sofort war die Konfession kein Thema mehr. Brettern befestigt und sich wohnlich eingerichtet. Mit Asten und Zweigen hatte er seinen Unterschlupf dicht abgedeckt. Zunächst änderte sich nicht viel. Die Kinder streiften herum, Ganze Scharen zogen los, um die »Sixtushöhle« zu besichti- suchten auf den Wiesen die besten Sauerampfer, stolperten gen. Wir Kinder bedauerten, daß der Mann wieder gefangen auf der alten Burg herum oder versuchten mit einem gewissen wurde und seinen schönen Bau verlassen mußte. Gruseln, bis zum Bodenlosen See vorzudringen. Es gab mitunter auch heftigen Streit; eine Narbe an meinem Kopf Dagegen waren uns die Zigeuner nicht geheuer, und wenn sie erinnert noch an eine der Auseinandersetzungen. mit ihren Pferdewagen auftauchten, flüchteten wir ins elterli- che Haus. Es hieß, sie würden die bösen Kinder mitnehmen. Bei Hitze badete man am Neckar bei der alten Brücke. Sogar Und wer wußte schon mit Sicherheit, ob er auch gemeint war. die Großmutter kam mit und stieg, mit einem weißen, leinenen Unterhemd bekleidet, ins Wasser.
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