Musikprotokoll 2012 Programmbuch

Musikprotokoll 2012 Programmbuch

im steirischen herbst 4.– 7. oktober 2012 musikprotokoll.ORF.at Eine enharmonische Verwechslung programmMP12.indd 1 21.09.12 08:02 musikprotokoll.orf.at infos/programm/biografien/archiv festspielhaus hellerau Veranstalter Koproduktion Kooperationen Förderer Medienpartner www.skug.at musikprotokoll 2012 Enharmony Kurz nochmals zurück zur enharmonischen Konzept und Programm Verwechslung und ihren Kontexten: Dieser musikprotokoll 2012: Eine enharmonische Verwechslung: Das ist ein Kontext sind die Tonarten, ohne die Tonarten, Christian Scheib und musikalischer Fachausdruck für ein merkwürdi- gäbe es logischerweise keine enharmonische Susanna Niedermayr ges Phänomen. Dafür nämlich, dass ein und Verwechslung. Wenn man in A-Dur spielt und derselbe Ton verschiedene Bezeichnungen hat, die oben erwähnte Taste drückt, spielt man mit dass ein „Cis“ zugleich ein „Des“ ist und sogar dem „Cis“ die Terz des Kontextes, mithin also auch noch ein „Hisis“. Sie klingen am Klavier jenes Intervall, das – neben anderen und alle komplett gleich, es bleibt immer dieselbe anderem – definiert, dass man sich in Dur und Klaviertaste, aber sie heißen nicht nur nicht in Moll befindet. Spielen wir aber in web.tv verschie den, sondern, um genau zu sein, weil Es-Moll, ist derselbe Ton plötzlich die Septime, das ist hier der springende Punkt, sie sind drei also der „vorletzte“ Ton der Tonleiter und damit musikprotokoll 2012 verschiedene Töne. Das liegt am Kontext. Und bei allen Modulationen durch mehrere Tonarten ICAS deswegen führt dieses Phänomen mitten ins mit ganz anderen Funktionen bedacht, als das Web TV Magazin (live) Thema des heurigen musikprotokoll-Mottos gleichklingende „Cis“. Eben alles eine Frage @ musikprotokoll 2012 und dessen Anbindung ans ICAS/ECAS (Inter- des Kontexts. Dieser produ ziert Bedeutung. 04.–07.10.2012, national and European Cities of Advanced Und was der am Klavier ebenfalls gleich- jeweils ab 15.00 Uhr Sound) –Netzwerkthema Bridging: Dass ein klingende Ton als „Hisis“ alles sein könnte, musikprotokoll.ORF.at und derselbe Klang oder Ton oder auch Stille übergehen wir jetzt mit der An mer kung, dass jeweils etwas ganz anderes bedeuten kann, je man auch die Sache mit dem Kontext über- Neben ICAS Radio manifes- nachdem über welche – metaphorisch gespro- treiben kann. tiert sich beim musikprotokoll chen – Brücke man zu ihm kommt, macht den nun erstmals auch ICAS TV. Unterschied, ist die Herausforde rung. Um es an Die enharmonische Verwechslung ist also An allen vier Festivaltagen – einem banalen Beispiel zu demonstrieren: Eine unsere Metapher dafür, dass wir in Musik und jeweils pünktlich um 15 Uhr – Stille von einigen Sekunden, kann genau das Theorie bei diesem musikprotokoll immer laden wir unsere Gäste in sein, einfach eine Stille, der niemand Beach- wieder einmal damit spielen, dass Ein-und- unser temporäres ICAS Web tung schenkt oder Bedeutung zuschreibt. dasselbe zugleich vieles Verschiedenes ist und TV Studio ein, um mehr über Passiert quasi ständig. Sie kann aber auch, nur dass das manchmal von gar keiner Wichtigkeit, ihre vielgestaltigen Projekte weil ein Mikrofon sie aufgenommen hat, zu manchmal aber geradezu der sinngebende zu erfahren und um mit ihnen künstlerisch eingesetztem Material einer Aspekt einer Musik, eines Denkens, des den Status quo der neuen Klanginstallation werden und irritieren oder Umgangs mit dem Klang in der Welt sein kann, und experimentellen Musik erfreuen. Oder nach wie vor nicht bemerkt manchmal eben auch für eine politische zu verhandeln. Gesprochen werden. Sie kann auch als Generalpause in Bedeutung des Umgangs mit Klang. Auf wird in Englisch, um möglichst einem Orchesterstück einen überraschen und Englisch heißt diese Verwechslung etwas viele am Diskurs teilhaben einem die Luft nehmen, sie kann in einem nüchterner „enharmonic relation“. Mit der zu lassen. Außerdem sind Musikstück wie ein Atemholen wirken, um Harmonie, möglicher Disharmonie und dem ausgewählte Konzerte, weiterzuspielen, oder Teil eines langsamen, produktiven Missverstehen spielend, über- während des Festivals, live existentiellen Ausdünnens der Musik sein. schreiben wir unser Festival daher heuer mit per Webstream mitzuerleben. „Enharmony“. 1 Etwas emphatischer und mehr flamboyant künstlerische Produktivkraft, der Kontext als formuliert: Klänge fordern auf. Fordern auf, Katalysator. Aus dieser inneren, historischen Welt zu verändern und Welt verändert wahrzu- musikprotokoll-Logik heraus entwickelte sich nehmen. Dazu brauchen sie Bedeutung. Die schließlich auf unseren Vorschlag hin jener kann sich verändern, ohne dass der Klang sich ECAS Schwerpunkt Bridging, der auch das verändert. Selbst Wahrheit, die Wahrheit des musikprotokoll im steirischen herbst 2012 Klangs als Bedeutung und als Handlungsauf- umfasst. * forderung, ist nicht absolut, sondern referen- tiell, kontingent und kontextabhängig. Diesen Eine Theorie-Volte noch als gedankliche Her- Mechanismen gehen wir musikalisch, theore- aus forderung: Der Ägyptologe Jan Assmann tisch, künstlerisch nach. Viertägig durch- schrieb vor einigen Jahren einen Text, in dem er gehend beim musikprotokoll als Teil des ECAS den Mehrfachbedeutungen von hieroglyphi- Schwerpunktes Bridging. Konzentriert im schen Zeichen nachgeht. Diesen Text unter- Festivalzentrum des steirischen herbstes. ziehen wir jetzt einer enharmonischen Behand- lung, indem wir ihn lassen wie er ist, aber alles * rauschen, Bilderverbot und Nicht nur durch die inhaltliche Anbindung ans Hieroglyphische durch Musikali sches ersetzen. Übertragung entstanden internationale Netzwerk befreundeter Festivals Voilà. Quasi una fantasia. Die Systemoffenheit gemeinsam mit Sabine Sanio, ist Enharmony Teil der musikprotokoll-Identität, von Klängen als Musik hängt mit ihrer Weltrefe- Susanna Niedermayr ist auch aus seiner eigenen Geschichte heraus. renz zusammen sowie damit, dass dies eine Leiterin der musikprotokoll- 1995 standen Musik und Theorie unter der Welt der unmittelbaren Signifikation ist. Auf Aktivitäten innerhalb des Überschrift das rauschen und widmeten sich der Basis der Bedeutsamkeit der Welt und der ICAS/ECAS Netzwerkes. dem Amorphen und seiner ästhetischen Bildhaftigkeit, d.h. Weltbezogenheit der Sprengkraft. Dass die Macht der (musikali- Klänge, können ständig neue bedeutungstra- schen) Bilder aber dennoch erstens nicht gende Klänge eingeführt werden. Bis ins späte ignorierbar, zweitens durchaus hinter fragbar 19. Jahrhundert ist diese Möglichkeit in der und drittens, wenn reflektiert angewandt, eine Musik allerdings durch bestimmte, trotz allem produktive Kraft sein kann, umkreisten wir gültige Ansprüche an eine gesellschaftliche einige Jahre später und nannten das dafür Akzeptanz der Verständlichkeit gebändigt. Im entstandene Buch Bilder – Verbot und 20. Jahrhundert reißen diese Bindungen. Eine Verlangen in Kunst und Musik. Das Übertragen geradezu explosionsartige Vermehrung der der Bedeutung von Bild und Nicht-Bild auf Klangmöglichkeiten innerhalb des Systems jeweils andere Zusammenhänge als Strategie Musik ist die Folge. Aber das ist noch nicht in der Kunst und die dabei erfolgenden alles. Die meisten Klänge nehmen verschiedene Veränderungen und Varianten waren nochmals Bedeutungen an, einige ein Dutzend und mehr. einige Jahre später unser Thema, das dazu- Der absolute Gipfel des Raffine ments ist bei gehörige Buch heißt Übertragung – Transfer – Musikstücken erreicht, die nur einen einzigen Metapher. Kulturtechniken, ihre Visionen und (oder im radikalsten Fall gar keinen) produzier- Obsessionen. Der konsequent weitergedachte ten Klang verwenden, der immer wieder, mit 2 nächste Schritt ist also die Veränderung der jeweils anderer Bedeutung, wiederholt wird. Bedeutung ohne Veränderung des Phänomens, Die Bedeutung ändert sich entsprechend des eben die enharmonische Verwechslung als jeweiligen Kontexts, in dem der Klang verwendet wird, ohne dass der Klang seine konkretem Wandel und Wissen.“ „Die Wahrheit Gestalt verändern würde. Die Musikreferenz ist konkret“ sagt Hegel, denn erst die Relation der Klänge wird durch diese Klangvermehrung des Dings zum andern Ding definiert das Ding Ö1 Zeit-Ton Magazin kaum verändert. Die entscheidenden Verände- und seine Wahrheit, denn das Ding beweise Mittwoch, 3. Oktober 2012 run gen liegen auf der Ebene der Weltreferenz seine „Eigenschaft nur unter der Bedingung 23.00 Uhr des inzwischen 21. Jahrhunderts und seiner einer entsprechenden Beschaffenheit des ebenfalls explosionsartig vermehrten gesell- andern Dinges, aber sie ist ihm zugleich schaftlich-technologischen Referenzmöglich- eigentümlich und seine mit sich identische keiten. (Dies alles nach Jan Assmanns Grundlage.“ Materialität der Kommunikation, darin: Im Schatten junger Medienblüte). Seine Substanz, Eine enharmonische Verwechslung als diejenige der Gestalt des Klangs, wird, ohne Handlungsanweisung. verändert zu werden, zu etwas Anderem, ein klassischer Fall von, um die Welt des Ägypti- Christian Scheib schen oder Musikalisch-Ästhetischen mit der Katholischen zu vertauschen, von Transsub- stan tiation. Wofür also ist ein Klang Zeichen im 21. Jahrhundert? Welche Klänge sind Zeichen und damit Handlungsanweisung wofür, in welchem Kontext und unter welchen gesell- schaftlichen Umständen? Eine Welt als Klang zwischen ikonenhaften, kommerziellen Sound- logos und privaten Klingeltönen, instrumen taler Avantgarde und Stille, abstrakter Elektronik, Klangdesign und Pop Songs. Warum und wie fungiert und funktioniert ein und derselbe Klang in verschiedenen Kontexten als Zeichen für verschiedene Bedeutungszuschreibungen? Was bewirkt

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