Erich Und Gertrud Zeisl – Affidavit Aus Dem Telefonbuch

Erich Und Gertrud Zeisl – Affidavit Aus Dem Telefonbuch

Inhalt VORWORT ................................................................................................ 6 KLAUS VON DOHNANYI EINLEITUNG ..........................................................................................12 Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich .....................................................18 STEFAN ZWEIG | FRITZ ALTMANN | BARBARA SCHOENBERG HANNES SCHNEIDER | CARL ZUCKMAYER | ELSPETH 1 CHERNIAVSKY Entrechtung, Enteignung und Vertreibung .................................................................50 MONICA DUGOT | ERIKA MANN | MAGDALENA M. WROBEL 2 MIRNA FUNK | ARYE SHARUZ SHALICAR | AUGUST ZIRNER Flucht und Emigration .....................................................88 GABRIEL BACH | LORE SEGAL | THOMAS MANN | WALTER MEHRING | BENJAMIN POGRUND | RUTH ROTEM | ORNAN 3 ROTEM | LIAN ROTEM-STIBBE | LINDA RACHEL SABIERS 4 Die Novemberpogrome 1938 ...................................... 128 MARCEL REICH-RANICKI | RUTH ANDREAS-FRIEDRICH KURT SEELIG | CARL VON OSSIETZKY | ERICH KÄSTNER 4 WALTER FRANKENSTEIN | WILLY COHN Widerstand und Zivilcourage .................................... 160 HELMUT GOLLWITZER | ELISABETH SCHMITZ | RUTH FROMM | LISELOTTE HERRMANN | LUDWIG BECK | GEORG 5 ELSER | SOPHIE SCHOLL | WERNER FINCK IM SPIEGEL DER BERICHTERSTATTUNG ....................................... 188 FRANK MECKLENBURG NACHWORT ........................................................................................ 192 ANHANG .............................................................................................. 195 5 Erich und Gertrud Zeisl – Affidavit aus dem Telefonbuch Tief besorgte Gesichter: Der Wiener Komponist Erich Zeisl (rechts) gemeinsam mit seiner Schwiegermutter, seiner Frau und einer Freundin im Jahr 1938, kurz bevor ihre Möbel abgeholt wurden. Auf diesem Bild von der Wohnung meiner Eltern in Wien sehen Sie nicht nur meine Großmutter, die Juwelierin, meinen Vater, den Komponisten Erich Zeisl, meine Mutter Getrud, die »Doktor Zweier Rechte« also Rechtsanwäl- tin war, sondern auch eine Angestellte meiner Großmutter und Freundin meiner Mutter, die auch hat auswandern müssen. Sie sitzen hier zusam- Dr. phil Barbara Zeisl Schoenberg wur- men ein paar Wochen vor der »Kristallnacht«, am de 1940 in den USA geboren und ist Abend bevor sie die Wohnung auflösen und die die Tochter von Dr. Gertrud und Erich Möbel in alle Welt haben schicken müssen. Man Zeisl. Sie ist auch die Schwiegertochter des ebenfalls in die USA emigrierten braucht nur die Gesichter näher anzuschauen, Komponisten Arnold Schoenberg und wie traurig und irgendwie hilflos sie da sitzen, die Mutter von Randol Schoenberg, wohl wissend und sich fragend, ob sie nicht nur dem Anwalt von Maria Altmann (siehe Seite 32), und drei weiteren Kindern. die Möbel, sondern auch Familie und Freunde je Sie studierte und unterrichtete Deut- wiedersehen würden, ob sie überhaupt überleben sche Sprache und Literatur. Heute lebt würden! Tatsächlich sind meine Großmutter und sie gemeinsam mit ihrem Mann Ronald R. Schoenberg im Haus ihres Schwie- Eltern ein paar Wochen später, einen Tag nach der gervaters in Los Angeles. »Kristallnacht«, am 10. November 1938, geflohen. 34 Mit Glück und vielen Abenteuern kamen sie bis Paris, wo der Komponist Darius Milhaud ihnen half. Den Behörden sagte er, dass mein Vater mit ihm arbeite. Darüber hat mein Vater, der eng mit der Schrift st ellerin Hilde Spiel befreundet war, ein paar Wochen sp äter aus Paris nach London geschrie- ben: »Meine gute, liebe Hilde! Also wir sind gerettet! Alle 4 Buben, Trude und Schwiegermutter! Was wir mitgemacht haben in diesen Tagen, darüber könnte man Bücher schreiben. Leider habe ich meine lieben Eltern zurück- lassen müssen. Was hätte ich tun sollen? … Ich wäre sehr glücklich wenn eine Möglichkeit best ünde die armen alten Leute herauszuretten aus die- ser Hölle … Es entscheidet sich bis 28/2. Kriegen wir kein Reciprice werden wir dafür herausgeschmissen!« Ein paar Monate sp äter musst e aber Darius Milhaud selbst , obwohl sehr anerkannt, Paris verlassen, weil er Jude war. Meine Eltern hatten keine ent- sp rechenden Papiere, um in die USA auswandern zu können. Meine Mutter schrieb dann an alle Zeisls beziehungsweise »Zeisels« im New Yorker Tele- fonbuch – ohne sie zu kennen, ohne verwandt zu sein –, ihre gefährliche Lage erklärend und sie alle um ein Visum bittend. Nur ein Zeisl hat zurück- geschrieben, ein Morris Zeisel. Meine Mutter dachte, er müsst e sehr wohl- habend sein, da die Buchst aben »Plb« hinter seinem Namen st anden, nicht wissend, dass »Plb« »Klempner« bedeutete. Er war ein ganz bescheidener, einfacher Mann, der aber helfen wollte und ihnen einen Affi davit schickte. Damit hat er ihnen das Leben gerettet. Barbara Schoenberg, Los Angeles, 2018 Brief von Erich Zeisl aus Paris an die nach London emigrierte Schrift stellerin Hilde Spiel, verheiratete Mendelssohn 35 Entrechtung, Enteignung und Vertreibung »Sie sind verpfl ichtet, sich davon zu vergewissern, dass der von Ihnen Behandelte ein Jude i .« Aus einem Schreiben des »Beauft ragten für jüdische Behandler« der Reichsärztekammer Berlin, 12.10.1938 50 »Meiner Auff orderung vom 9.8.1938 binnen 1 Woche eine spezifi zierte Aufstellung Ihres Vermögens [...] ein- zureichen, sind Sie bisher nicht nachgekommen. [...] und setze Ihnen zur Erledigung eine letzte Frist von 3 Tagen« 2 Devisenst elle Wien, 22.08.1938 Im Jahr 1938 zeigte die NS-Propaganda Geldzuwendungen wurden unter dem ihre volle Wirkung: Hass und Sozialneid Deckmantel st aatlicher Legalität vert eilt. hatten alle moralischen Schranken be- Alle – vom Blockwart bis zum Gauleiter seitigt. Bereits 1935 war auf dem Nürn- profi tiert en. Im Umfeld der »Arisierung« berger Reichspart eitag der NSDAP das tummelte sich ein kriminelles Milieu, das »Gesetz zum Schutze des deutschen mit der Notlage der Juden einträgliche Blutes und der deutschen Ehre« erlas- Geschäft e machte. Was offi ziell unter- sen worden. Mit diesem Gesetz war die sagt war, wurde massenhaft praktiziert . jurist ische Basis dafür geschaff en, die Schon 1933 hatte die NSDAP zum jüdischen Bürger auszugrenzen, sie zu Boykott jüdischer Geschäft e und Beru- verhöhnen und ihnen ihre Würde zu fe aufgerufen. 1938 erreichte die Aus- nehmen. grenzung einen vorläufi gen Höhepunkt. Parteimitglieder wollten von der Mit einer Flut von Verordnungen und »Umvert eilung« des jüdischen Eigen- Gesetzen wurde den Menschen die tums profi tieren. »Blutordenst räger« Exist enzgrundlage entzogen: Berufs- und »alte Kämpfer« verlangten nach verbote für jüdische Ärzte und Rechts- Kompensation. Sie verwiesen auf ihre anwälte traten in Kraft , jüdische Kinder »Opfer in der Kampfzeit« und fordert en und Jugendliche wurden aus Schulen ihren Anteil an der Beute. Bereicherung und Hochschulen ausgeschlossen, die und Vetternwirt schaft , Untreue und Un- Benutzung öff entlicher Verkehrsmittel terschlagung best immten das Syst em. eingeschränkt, Theater und Kinobesu- Jeder frei gewordene Post en bot Auf- che verboten, Ende des Jahres auch st iegschancen. Part eigenossen wur- das Autofahren. Juden musst en den den in großer Zahl in den öff entlichen Zwangsnamen »Israel« oder »Sara« tra- Dienst geschleust . Immobilien weckten gen. Der Alltag in Deutschland wurde zur Begehrlichkeiten, Grundstücke und Hölle. Das Ziel war klar: Den Menschen 51 wurde die Lebensgrundlage entzogen, sche Aufrüstung war auf Pump finanziert, damit sie Deutschland und Österreich die Industrie profitierte, aber das Reich verlassen – ohne ihre Besitztümer. stand kurz vor dem Staatsbankrott. Infolge der Pogrome versuchte der Am 26. April 1938 trat die »Verord- NS-Staat, den »Radau-Antisemitismus« nung über die Anmeldung des Vermö- und die Selbstbedienungsmentalität gens von Juden« in Kraft. Es war die wieder unter Kontrolle zu bekommen. Vorstufe zur vollständigen Enteignung. Enteignung und Vertreibung der Ju- Juden, deren Vermögen 5.000 Reichs- den sollten in »geordnete« Bahnen mark überstieg, waren gezwungen, ih- gelenkt werden. Der Nutzen aus der ren Besitz detailliert zu deklarieren. Bald »Arisierung«, so Hermann Göring 1938, konnten sie auch nicht mehr über ihr komme einzig und allein dem Reich zu, Geld verfügen. denn nur so sei das Rüstungsprogramm Am 12. November 1938 bat Her- des Führers zu finanzieren. Die giganti- mann Göring hochrangige Beamte und Staatssekretäre ins Berliner Luftfahrt- ministerium. Adolf Eichmann, Spezialist für Vertreibung und Deportation, reiste aus Wien an. Auch Vertreter der Banken und Versicherungen waren anwesend. Das Thema: die systematische Entrech- tung, Enteignung und Vertreibung der Juden. Göring erklärte kurz und bündig: »Der Jude wird aus der Wirtschaft aus- geschieden und tritt seine Wirtschafts- güter an den Staat ab.« Jüdische Ge- werbebetriebe sollten zum Jahresende 1938 schließen oder in »nichtjüdischen Besitz« überführt werden. Doch vor al- lem ging es um die sogenannte »Kristall- nacht«. Weder die Verursacher noch die deutsche Versicherungswirtschaft muss- ten für die Schäden der Pogrome vom 9. November aufkommen. Kurzerhand Das Gesetz über die Änderung von Familien- wurde eine Strafsteuer beschlossen, als namen und Vornamen vom 17. August 1938 »Judenvermögensabgabe« deklariert forderte, sofern kein jüdischer Vorname ge- führt wurde, den Zusatz der Vornamen Israel und auf eine Milliarde Reichsmark be- beziehungsweise Sara. ziffert. Die staatliche Finanzverwaltung 52 ARYE SHARUZ SHALICAR Es muss eine gemeinsame Front gegen den Antisemitismus geben Du hast dich als Kind und Jugendlicher gar nicht als Jude gefühlt,

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