STUART TABERNER Arnold Stadler: Eine Poetik des Glaubens Meine Bücher sind Refl exe auf etwas, durchaus auch im musikalischen Sinn. Es gibt Tonarten — Dur, Moll, das Lydische, das Mixolydische, das Phrygische und anderes mehr. Paradox ausgedrückt sind meine Bücher sowohl Dur- als auch Moll-gestimmt und auch in allen anderen Tonarten. Wie eben auch das Leben. Es lässt sich nicht reduzieren. Nicht auf Glück oder Unglück. Meine Tonart ist wohl eine, in die ver- schiedene Tonarten einfl ießen. (Arnold Stadler)1 In Arnold Stadlers oben zitierten musikalisch-theoretischen Ausführungen über seinen literarischen „Refl ex“ ist kondensiert zu fi nden, was Kritiker – angefangen bei Martin Walser, dessen frühes Lob maßgeblich zur Bekanntheit des Autors bei- getragen hat – den „Stadler-Ton“2 genannt haben. Der weiche (Moll-)Ton des An- deutens und Aussparens geht einher mit einem harten (Dur-)Ton aphoristischer Deklamation, beide eingebettet in eine dialektische Aufhebung scheinbarer Gegen- sätze von Männlichkeit und Weiblichkeit, Scheu und Provokation, Extraversion und Introversion, Überschreitung und Rücknahme, Verzweifl ung und Sehnsucht. Zugleich verweist die Anspielung auf drei der acht Kirchentonarten des Mittelal- ters auf die Bedeutung der klassischen und der katholischen Tradition für einen Autor, der in den Disziplinen der Theologie und der Germanistik gleichermaßen versiert ist und der wieder und wieder den traumatischen Übergang von der Prä- moderne zur Moderne zum Thema macht. Doch wird Stadlers Aktualisierung des Melodischen, der Rezitation und der Oralität im literarischen Text, die zuweilen an Gregorianische Choräle erinnert, beständig durchbrochen vom Jargon zeitgenössi- scher Theoriemoden, von Kraftausdrücken (so taucht etwa ‚fi cken‘ wiederholt und in deutschen wie auch englischen Variationen auf) und Marketing-Klischees. Noch auffallender als die offenkundigen Bezüge des Autors auf Moderne und Prämoderne, auf das Heilige und das Profane, ist jedoch sein Insistieren auf den irreduziblen, undefi nierbaren „anderen Tonarten“, die seine literarische Ästhetik durchdringen. Charakteristisch für Stadlers Werk sind deshalb auch Modulationen und Nuancen, die sich intuitiv erahnen, aber nur schwer auf einen Begriff bringen lassen. Nicht zuletzt aufgrund der Vielzahl an Begriffen wie „Vergänglichkeit“, „Schmerz“, „Sein“, „Provinz“ und „Heim- und Fernweh“ in Stadlers zahlreichen Arbeiten als 1 Arnold Stadler, „Von der Heimatslosigkeit des Menschen vor Ort“, in: Axel Helbig, Der ei- gene Ton. Gespräche mit Dichtern, Leipzig, 2007, S. 8-23: 9. 2 Martin Walser, Werke XII, Frankfurt/M., 1997, S. 751-760. Zuerst abgedruckt in Der Spie- gel, 31/1994. Abgedruckt außerdem in der Taschenbuchausgabe von Stadlers Mein Hund, meine Sau, mein Leben. F5406-Allkemper.indd 273 02.09.12 13:41 274 STUART TABERNER Lyriker, Romancier, Übersetzer der Psalmen, Reiseschriftsteller, Essayist und Litera- turkritiker, wird er von Kritikern gerne jenem besonderen, ja randständigen Bereich der literarischen Landschaft zugeordnet, in dem konservative, „rückwärtsgewandte“ Autoren wie Alois Brandstetter, Josef Winkler, Walter Kappacher und Martin Mose- bach oder auch etablierte Schriftsteller wie Botho Strauß, Peter Handke und Martin Walser beheimatet sind. Zweifelsohne gibt es bei Stadler Bezüge zu Heidegger, auch wenn diese ironischer, ja kritischer sind, als allgemein anerkannt. Auch stehen mit Tradition und Vergänglichkeit sowie der Banalität der Konsumgesellschaft immer wieder Themen im Zentrum von Stadlers Schreiben, die charakteristisch für gegen- wärtige Kulturkonservative sind. Auch der häufi ge Rückbezug auf die katholische Provinz des alemannischen Süddeutschlands, der deutschsprachigen Schweiz und Österreichs erinnert an Autoren wie Winkler, Kappacher, Karl-Heinz Ott, Robert Schneider und Walser. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass Stadler die Provinz romantisiert. In Ein hinreißender Schrotthändler (1999) etwa betreiben die Einwoh- ner von Kreenheinstetten Detektivbüros und Immobilienfi rmen, färben ihr Haar modisch ‚schwarz-rot‘, machen sich Sorgen über ihr Gewicht, ihre Häuser und Ver- sicherungen, sind unzufrieden mit ihrem Sexualleben, haben Kinder mit so undeut- schen Namen wie Mike und Tom, trinken Energy-Drinks und fahren Geländewa- gen, weil sie „Angst vor dem Steckenbleiben“3 haben. Was Stadler jedoch vor allem von den oben genannten Autoren unterscheidet, ist sein aufrichtiger und tiefer Glaube. Im Gegensatz zu Mosebach, mit dem er häufi g verglichen wird, ist Stadlers Interesse an Religion nicht eine Frage der Form, etwa einer ästhetischen Vorliebe für den katholischen Ritus vor den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Auch geht es nicht um eine postmoderne Performance der (Selbst-)Befreiung aus einer Welt des Konformismus, als die man Martin Walsers kürzlich erschienenen Roman Muttersohn (2011) verstehen könnte. Was Religion für Stadler bedeutet, ist ausge- führt im ersten Buch des neuen Testaments, dem Matthäus-Evangelium, in dem die Demut gegenüber der Lehre Christi, der Zorn über den Materialismus und das Bekenntnis zum Erbarmen mit den Unglücklichen im Hier und Jetzt im Zentrum stehen. Der fl ehentliche Ausruf „Sohn Davids, Hab Erbarmen mit uns!“ (Matthäus 20, 31), der Stadlers Roman Salvatore (2008) voransteht, ist zweifelsohne bestimmend für die politische und ästhetische Perspektive des Autors. Während es Mosebach in erster Linie um das Schicksal des untergegangenen Bürgertums zu gehen scheint, das seiner Privilegien und seiner kulturellen Vormachtstellung verlustig gegangen ist, Walser hingegen um seinen, wie Helmut Peitsch es formuliert, „kulturell-uto- pischen Nationalismus“4, widmet sich Stadler den Desillusionierungen und Ent- täuschungen der Uneingeweihten, der Ungebildeten, der Armen und Marginali- sierten: „Die Welt der Monarchien, der Kolonien und der Ausbeutung und des 3 Vgl. Arnold Stadler, Ein hinreißender Schrotthändler, Köln, 1999, S. 157-162, 164, 177, 182. Im Folgenden zitiert unter Angabe der Sigle HS. 4 Helmut Peitsch, „Vom Preis nationaler Identität. Dorle und Wolf “, in: Heike Doane/Gertrud Pickar Bauer (Hg.), Leseerfahrungen mit Martin Walser, München, 1995, S. 171-188: 178. F5406-Allkemper.indd 274 02.09.12 13:41.
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