LYDIA MÜHLBACH WEIBLICHKEIT ZWISCHEN HAUSARBEIT UND INITIATION Das Grimm’sche S(ch)neewittchen und ausgewählte Adaptionen 1. Arbeit im Märchen: Aspekte von Gender und Genre Die von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten und mehrfach bearbeiteten Kin- der- und Hausmärchen waren der Beginn romantischer Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland und sind noch heute ein bedeutendes Dokument deutscher Kul- turgeschichte.1 Die Herausgabe war von bürgerlichen Moralvorstellungen des an- gehenden 19. Jahrhunderts beeinflusst;2 als didaktisch ausgerichtete ‚Volkspoesie‘ wirken die Märchen bis heute auf gesellschaftliche Werte und Normen zurück. Die Sammlung bildet ein signifikantes Zeitzeugnis bürgerlicher Kultur, in dem auch der Arbeitsdiskurs und die Geschlechterbilder entsprechenden Vorstellungen un- terliegen und beispielsweise regelmäßige Arbeit und das spezifische Familienideal als bürgerliche Norm vorgeführt werden.3 Dass in den bekannteren Volksmärchen der Kleinen Ausgabe (1825) vorrangig weibliche Hauptfiguren und ihre Handlungen beschrieben werden, wurde bereits häufig festgestellt.4 Dabei tendiert die Grimm’sche Sammlung zum Stereotyp der bürgerlichen Frau.5 Durch die „weiblich dominierte Traditions- und Erzählsphäre“ 6 vieler Märchen sowie durch den daraus resultierenden vorrangig weiblichen Adres- satenkreis (rollenspezifische Erziehung) und Erwartungshorizont7 werden in ihnen 1 Im Folgenden durch KHM abgekürzt. Die Sammlung erschien in sieben Auflagen (1812/1815, 1819, 1837, 1840, 1843, 1850 und 1857). Zudem publizierten die Grimms eine Kleine Ausgabe mit 50 Texten aus der Sammlung, die von 1825 bis 1858 in zehn Aufla- gen herausgegeben wurde. 2 Sowohl die Grimms als auch die meisten ihrer Quellen waren im bürgerlichen Milieu situ- iert. 3 Zur bürgerlichen Kultur, ihrem Verbreitungsanspruch bei gleichzeitiger Abgrenzung zu Adel und nicht-bürgerlicher Unterschicht vgl. Gebhardt: Handbuch der deutschen Ge- schichte (Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesell- schaft). Stuttgart 2001, Bd. 13, S. 98-138. 4 Vgl. z. B. Heinz Rölleke: Die Frau im Märchen der Brüder Grimm. In: Die Märchen der Brüder Grimm. Quellen und Studien. Gesammelte Aufsätze. Trier 2000, S. 196-210, hier S. 202f. 5 Vgl. Nicole Lehnert: Brave Prinzessin oder freie Hexe? Zum bürgerlichen Frauenbild in den Grimmschen Märchen. Münster 1996, S. 20 und S. 11. 6 Rölleke: Die Frau im Märchen, S. 200. 7 Vgl. ebd. 410 LYDIA MÜHLBACH Arbeiten für Frauen und Mädchen im privaten Raum fokussiert: Hand- und Haus- arbeit.8 Im Rahmen dieses Bandes böte sich zwar auch das Märchen Frau Holle (KHM 24) mit den beiden Mädchenfiguren und ihren polarisierend vorgeführten Eigen- schaften Fleiß und Faulheit zur Darlegung des Themenkomplexes Arbeit an. Je- doch sollen in diesem Beitrag die eher unscheinbaren, subtileren Arbeiten in einem der bekanntesten Märchen vorgestellt werden, nämlich im Zaubermärchen Schnee- wittchen (KHM 53).9 Neben der genealogischen Untersuchung der von den Grimms spezifisch akzen- tuierten Arbeitsdiskurse in diesem Märchen werden die Arbeitsverrichtungen be- sonders hinsichtlich der Erzählstruktur analysiert und genderkritisch in den Blick genommen.10 Dabei lautet die These dieses Beitrages: Die weibliche Protagonistin 8 Z. B. Allerleirauh (KHM 65), Aschenputtel (KHM 21), König Drosselbart (KHM 52), Rum- pelstilzchen (KHM 55), Spindel, Weberschiffchen und Nadel (KHM 188), etc. In ihrem Deut- schen Wörterbuch grenzen die Grimms Männer- und Frauenarbeit voneinander ab und grup- pieren für das weibliche Geschlecht die Arbeit im Haus: „feine arbeit der frauen mit der na- del, näharbeit, stickarbeit, putzarbeit.“ Jacob Grimm / Wilhelm Grimm: arbeit. In: Dies.: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Leipzig 1854-1961, Bd. 1, Sp. 538-543, hier: Sp. 540. Im Artikel zur Hausarbeit wird anhand von Beispielen in „geringe hawsarbeit als spinnen neen und würken“ im Gegensatz „zum bierbrauen, branteweinbren- nen und anderer groben hausarbeit“ differenziert. Jacob Grimm / Wilhelm Grimm: hausar- beit. In: Dies.: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 10, Sp. 652. 9 In diesem Beitrag wird einheitlich die heute übliche Namensform „Schneewittchen“ ver- wendet. Die parallel strukturierten Namen „Schneewit(t)chen“ und „Schneeweißchen“ ent- stammen der Vergleichsbildung „schneeweiß“ mit mitteldeutscher Diminuierung, wobei die Farbzeichnung in Schneewit(t)chen die niederdeutsche Lautform, in Schneeweißchen die hochdeutsche Form ist. Schneewittchen ist demnach eine Mischform aus hoch- und niederdeutschen Elementen; mit der niederdeutschen Lautform von Schnee heißt es dann „Sneewittchen“. Vgl. Boris Paraschkewow: Wörter und Namen gleicher Herkunft und Struktur. Lexikon etymologischer Dubletten im Deutschen. Berlin 2004, S. 314. Die Grimms betitelten im Verlauf der Textgenese ihr Märchen mit Schneeweißchen, Schneewit- chen und wählten letztlich die Form Sneewittchen. Dass diese Namensform „Sneewittchen“ eher konstruiert und „verkünstelt“ erscheint, beschreibt bereits Bausinger. Vgl. Hermann Bausinger: Anmerkungen zu Schneewittchen. In: Und wenn sie nicht gestorben sind … Perspektiven auf das Märchen. Hg. v. Helmut Brackert. Frankfurt am Main 1980, S. 39-70, hier: S. 46. 10 Die Grimms – vor allem Wilhelm Grimm – veränderten die Märchen vor und auch nach der ersten Publikation zum Teil erheblich. Vorrangig wird in diesem Beitrag die Urfassung von 1810 (UF) mit der Ausgabe letzter Hand von 1857 (ALH) verglichen, wobei an inhalt- lich markanten Stellen für den Arbeitszusammenhang des Beitrages auch andere Textfassun- gen berücksichtigt und gegebenenfalls angeführt werden. UF = Brüder Grimm: 43. Schnee- weißchen. Schneewitchen. In: Kinder und Hausmärchen. Die handschriftliche Urfassung von 1810. Hg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart 2007, S. 75-79; ALH = Brüder Grimm: 53. Sneewittchen. In: Kinder- und Hausmärchen. Gesamtausgabe mit den Originalanmerkun- gen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffent- lichter Märchen und Herkunftsnachweise. Hg. v. Heinz Rölleke, Stuttgart 1980/2010, Bd. 1, S. 258-267..
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