Professor Dr. Christoph Butterwegge Armutsforscher Im Gespräch Mit Rigobert Kaiser Kaiser: Herzlich Willkommen Zum Alpha-Forum

Professor Dr. Christoph Butterwegge Armutsforscher Im Gespräch Mit Rigobert Kaiser Kaiser: Herzlich Willkommen Zum Alpha-Forum

Sendung vom 26.1.2016, 20.15 Uhr Professor Dr. Christoph Butterwegge Armutsforscher im Gespräch mit Rigobert Kaiser Kaiser: Herzlich willkommen zum alpha-Forum. Die deutsche Arbeitswelt und wohl auch die deutsche Gesellschaft haben sich in den letzten gut zehn Jahren grundlegend verändert. Auslöser dafür war die Agenda 2010, die damals von Bundeskanzler Schröder angeregt wurde, und die damit verbundenen Hartz-Gesetze, die vielen verkürzt als Hartz IV bekannt sind, was aber die Wirklichkeit nicht ganz trifft. Dieses Thema ist nach wie vor umstritten und dies nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft. Wir haben heute einen Studiogast, der sich mit diesem Thema bestens auskennt, nämlich den Politikwissenschaftler Professor Christoph Butterwegge von der Universität Köln. Schön, dass Sie den Weg zu uns nach München gefunden haben. Butterwegge: Gern. Kaiser: Herr Professor Butterwegge, die meisten Menschen sagen nur "Hartz IV", obwohl mit den Hartz-Gesetzen insgesamt vier Gesetze gemeint sind, die damals verabschiedet wurden. Würden Sie zehn Jahre danach sagen, dass wir deswegen einen Grund zum Feiern haben, dass das ein Fortschritt in unserer Gesellschaft war? Oder würden Sie eher sagen, dass das ein Rückschritt gewesen ist? Butterwegge: Es war insofern ein Rückschritt, als einerseits sehr viel mehr Druck auf die von Langzeitarbeitslosigkeit Betroffenen ausgeübt wird, und als andererseits dieses Gesetzespaket, das im Volksmund "Hartz IV" heißt, eigentlich aber "Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt", eben auch die gesamte Gesellschaft verändert hat. Vor allem wurde Druck ausgeübt auf die Belegschaften, auf die Betriebsräte, auf die Gewerkschaften, schlechte Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne in Kauf zu nehmen, weil nämlich immer das Damoklesschwert von Hartz IV über den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schwebt. Dieses Damoklesschwert bedeutet, dass meistens bereits nach einem Jahr Arbeitslosigkeit die Höhe der Sozialhilfe unmittelbar auf Fürsorgeniveau herabsinkt. Und das ist für jemanden, der lange Jahre gearbeitet hat, der z. T. sogar jahrzehntelang eingezahlt hat in die Arbeitslosenversicherung, ein tiefer Fall, der da zu verkraften ist. Diese Vorstellung des sozialen Abstiegs hat sich durch Hartz IV bis in die Mitte der Gesellschaft hinein verbreitet. Und Hartz IV hatte natürlich auch massive Auswirkungen auf die Armut in Deutschland. Denn es ist ja ganz klar, wenn man auf diese Weise einen breiten Niedriglohnsektor schafft – und das war für mich die Absicht der Agenda 2010 und auch der Sinn der Hartz-Gesetze: durch Lohndumping die Bundesrepublik Deutschland als Wirtschaftsstandort auf den Weltmärkten noch konkurrenzfähiger zu machen –, wenn man also durch diese Maßnahmen die Löhne drückt, dann bedeutet das natürlich einerseits hohe Gewinne für die Unternehmen und es bedeutet andererseits für viele Familien, dass sie sich massiv einschränken müssen. 1,46 Millionen Kinder unter 15 Jahren leben heute in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, die man landläufig "Hartz IV-Haushalte" nennt. Das heißt, sie bekommen einen Regelsatz, der gerade mal ausreicht, um nicht zu verhungern, der ihnen aber nicht ermöglicht, auch mal ins Kino oder ins Theater oder in den Zirkus zu gehen oder die Kirmes zu besuchen, denn all das kostet ja in unserer Konsumgesellschaft sehr viel Geld. Dieses Geld haben aber die von Hartz IV Betroffenen nicht. Das bedeutet für mich, dass da eine große Zahl von Menschen sozial abgehängt worden ist. Wir haben heute mehr und mehr eine Gesellschaft, die sich spaltet in Armut auf der einen Seite und in Reichtum auf der anderen Seite, der sich ständig vermehrt und sich zusehends auf immer weniger Hände konzentriert. Kaiser: Die Befürworter der Agenda 2010, also die Befürworter dieses Gesetzespaketes sagen aber, dass dieses Gesetz mutig und notwendig gewesen ist und feiern dieses Gesetz. Es gab ja jetzt doch wirtschaftlich schwierige Jahre, also die Jahre 2007, 2008 der Wirtschaftskrise. Deutschland hat es in dieser Zeit, als in anderen europäischen Ländern die Arbeitslosenquoten nach oben gegangen sind, tatsächlich geschafft, die Arbeitslosenquote zu drücken und auf unter drei Millionen Arbeitslose senken zu können. Würden Sie sagen, dass das nur ein Scheinerfolg ist? Butterwegge: Das ist insofern ein Scheinerfolg, als das nichts mit Hartz IV zu tun hat und mit der Agenda 2010. Wissen Sie, wenn in Brandenburg oder in Schleswig-Holstein gleichzeitig die Zahl der gesichteten Störche und die Anzahl der neugeborenen Kinder steigt, dann zieht doch auch kein Mensch daraus den Schluss, dass der Klapperstorch die Babys bringt. Hier aber ziehen alle diesen Schluss, da die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen zurückging. Das war ja in den letzten Jahren zweifellos der Fall, aber das waren eben auch z. T. statistische Taschenspielertricks, die der Regierung gedient haben, denn man hat z. B. schnell mal 100000 Arbeitslose aus der Statistik entfernt, indem man gesagt hat: "Jeder Arbeitslose, der zu einem privaten Arbeitsvermittler geht, fällt aus der Arbeitslosenstatistik heraus." Und das, obwohl so jemand natürlich nach wie vor arbeitslos ist. Dass die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen gesunken ist, leugne ich gar nicht. Was ich aber leugne, ist, dass Hartz IV der Verursacher dieser Tendenz ist. Stattdessen sind das eben einmal bestimmte statistische Maßnahmen, die man ergriffen hat. Zum anderen sind gerade in dieser Weltwirtschafts- und Finanzkrise Maßnahmen ergriffen worden – denken Sie nur einmal an die beiden Konjunkturpakete, daran, dass z. B. das Kurzarbeitergeld verlängert worden ist, dass es diese Abwrackprämie gab usw. –, die ganz im Unterschied zu Hartz IV bedeutet haben, dass der Staat viel Geld in die Hand genommen hat, um z. B. auch die öffentlichen Investitionen zu beleben, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Dadurch ist die Krise in der Bundesrepublik Deutschland nicht so stark zum Ausdruck gekommen wie in vielen Nachbarländern – aber doch nicht durch Hartz IV oder die Agenda 2010. Diese Konjunkturpakete waren neokeynesianische Maßnahmen: Der Staat hat investiert und Geld in die Hand genommen. Bei Hartz IV ist genau das Gegenteil passiert: Man hat, um willige und billige Arbeitskräfte zu bekommen, Druck ausgeübt und vor allem die Leistungen gekürzt. Ich bezeichne die Tendenz, die sich hier abzeichnet, als den Wandel vom Sozialstaat zum Minimalstaat. Die Leistungen sind gekürzt worden durch Hartz IV und man hat das bemäntelt, indem Gerhard Schröder von der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gesprochen hat. In Wirklichkeit ist da aber gar nichts zusammengelegt worden, sondern die Arbeitslosenhilfe ist schlichtweg abgeschafft worden. Die Arbeitslosenhilfe war jedoch eine Lohnersatzleistung gewesen, durch die die Langzeitarbeitslosen ihren Lebensstandard noch halbwegs sichern konnten. Das, was mit Hartz IV geschaffen und neu eingeführt worden ist, nämlich das Arbeitslosengeld II, ist eben keine Lohnersatzleistung mehr, die den Lebensstandard sichert, sondern nur mehr eine die Existenz sichernde Lohnergänzungsleistung. Und 1,3 Millionen Menschen sind gar nicht arbeitslos, beziehen aber als sogenannte Aufstocker trotzdem das Arbeitslosengeld II, das ihren zu niedrigen Lohn ergänzt. Seit 2005 hat der Staat 75 Milliarden Euro für diese Aufstocker ausgegeben. Man könnte aber auch kritisch einwenden – und ich mache das selbstverständlich so –, dass diese 75 Milliarden nichts als eine Subvention für Unternehmen waren, die Lohndumping betrieben haben. So etwas macht eine Gesellschaft natürlich unfriedlicher. Deswegen bin ich der Auffassung, wir leben heute in einer anderen Republik, als wir sie vor 2005, vor den Hartz-Gesetzen und vor allem vor Hartz IV hatten. Kaiser: "Fördern und Fordern", das ist ja eine der Thesen, der Schlagzeilen, die mit Hartz IV verbunden wird. Ist das tatsächlich so eingetreten? Kann man wirklich sagen, dass jemand, der nach einem Jobverlust oder auch durch private Fehlschläge in diese Lage geraten ist, vom Staat tatsächlich noch gefördert wird? Oder gibt man sich damit zufrieden und speist diese Menschen damit ab? Denn solange die Menschen ruhig bleiben, ist dann auch vermeintlich alles in Ordnung. Butterwegge: Dieses "Fördern und Fordern" war ein wohlklingender Werbeslogan von Gerhard Schröder, um seine Gesetze der Öffentlichkeit verkaufen zu können. Fakt ist: Gefördert wird seit der Einführung der Hartz-Gesetze immer weniger. Die Hartz-Kommission ist im Februar 2002 eingesetzt worden und das Gesetz Hartz IV ist am 1. Januar 2005 in Kraft getreten. In diesen drei Jahren ist die Zahl derjenigen Arbeitslosen, die im Sinne einer beruflichen Weiterbildung, einer Umschulungsmaßnahme gefördert wurden, um zwei Drittel gesunken. Man hat also das schiere Gegenteil dessen gemacht, was man gegenüber der Öffentlichkeit mit Hartz IV in Verbindung gebracht hat. Man hat nicht gefördert, sondern man hat den Druck auf die Betroffenen erhöht, denn sie müssen nun jede Stelle annehmen. Übrigens ist es auch ganz typisch, dass wir heute nur noch von Jobs sprechen: Auch das war eben mit Hartz IV verbunden. Früher hat man von Stellen gesprochen oder von einem Arbeitsplatz oder von einem Beruf. Davon spricht heute niemand mehr, sondern es geht darum, dass die Betroffenen jeden Job annehmen müssen, und zwar auch dann, wenn er weder ortsüblich noch tariflich entgolten wird. Natürlich ist es ein enormer Druck, dass das Jobcenter Sanktionen ergreifen kann, wenn man so einen Job nicht annimmt oder eine Maßnahme wie z. B. ein Bewerbungstraining. Da gibt

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