Zachows Kantaten

Zachows Kantaten

Einleitung Die vorliegenden Studien verfolgen das Ziel, die Quellen der Vokalwerke des Hall­ eschen Lehrmeisters Händels, Friedrich Wilhelm Zachow (1663-1712), zu erforschen, kompositions-, gattungs-, stilgeschichtliche Aspekte und stilbildende Elemente seiner erhaltenen Kompositionen zu untersuchen und kritisch zu besprechen. Es ist ein Ver­ such, zu einem besseren Verständnis der Kirchenmusik Zachows zu kommen und den bislang im wesentlichen nur generalisierten Stellenwert dieses wichtigen mittel­ deutschen Komponisten aus der Spätbarockzeit wissenschaftlich erneut zu durchden­ ken und herauszuarbeiten. Ich gehe davon aus, daß nach den beiden - traditionell als größte - anerkann­ ten Bachschen Vorgängern, Dietrich Buxtehude (1637-1707) und Johann Pachelbel (1653-1706), der in seiner besten Schaffenskraft gestorbene F.W. Zachow, Organist und Musikdirektor der Marienkirche zu Halle, als eine der interessantesten Persön­ lichkeiten aus der Zeit zwischen Heinrich Schütz und Georg Friedrich Händel bzw. Johann Sebastian Bach erscheint. Inwieweit konnte Zachow mit seiner „staerksten Vollstimmigkeit“ im Zeitraum von 1684 bis 1712 in Mitteldeutschland als ein Vorbild auch fuer denjuengen Bach auf dem Gebiet der Tonkunst, bzw. des stilistischen Ex- perimentierens dienen? Aufgrund seiner pädagogischen Rolle im Leben des jungen G. F. Händel ist dieser deutsche Komponist weltbekannt geworden. Es wäre viel zu einseitig und nicht ob­ jektiv genug, wollte man die musikgeschichtliche Bedeutung Zachows nur dadurch erklären und ausschließlich auf die Lehrtätigkeit beschränken: Der Meister war vor allem ein Tonkünstler auf dem Gebiet der evangelischen Kirchenmusik, und seine selbständige Bedeutung liegt in seinen Vokal- und Instrumentalwerken. Zachows Werke können auch zu heutiger Zeit in den Festgottesdiensten und Konzertprogram­ men aufgeführt werden. Händels Lehrmeister Zachow gehört auch zu den wichtigsten und im geschichtli­ chen Sinne bedeutendsten Vorgängern J. S. Bachs. Jedoch als solcher wurde Zachow bisjetzt noch nie betrachtet, obwohl diese beiden großen Komponisten aus dem glei­ chen Umfeld stammen. Es sei an dieser Stelle bemerkt, daß im 18. Jahrhundert der Name „Zachau“ injener Epoche im Zusammenhang mit J. S. Bach dreimal und sogar im Druck erwähnt wurde. Sowohl diese Erwähnungen als auch einzelne zeitgenössische Äußerungen über Za­ chow, z. B. diejenige von Mattheson, von J. G. Walther und die in der von John Main- waring geschriebenen allerersten Händel-Biographie überlieferten Aussagen von G. F. Händel über seinen Halleschen Lehrer, weisen deutlich daraufhin, daß alle diese Zeitgenossen Zachows diesen Komponisten als einen wichtigen, bedeutenden Musi­ ker, als einen Großmeister auf dem Gebiet der Tonkunst betrachteten. Sie sprachen 2 Einleitung mit großem Respekt von ihm. Diesen Eindruck gewinnt man bei der Auswertung o. g. Zeugnisse aus damaliger Zeit. Es ist auffällig, daß auch in der späteren Literatur Zachow niemals als Kleinmeister genannt wird, obwohl die Zeit zwischen Schütz und J. S. Bach von den vielen Musikgeschichtsschreibern im 19 Jh. als die „Epoche der deutschen Kleinmeister“ bezeichnet wird. Unter diesen zahlreichen - oft zu unrecht sogenannten - Kleinmeistern jener Epoche zeichnet sich Zachow vor Allem durch ein ganz besonders hohes Niveau der Meisterschaft aus. Seine erhaltenen Partituren erscheinen mir als die technisch kompliziertesten und im künstlerischen Sinne inter­ essantesten ausjener Zeit, und deshalb verdienen sie besondere Aufmerksamkeit und eine spezielle Untersuchung auf dem Gebiet der Stilkritik und Quellenkunde. Die Durchsicht der Vokalpartituren sowie das Studium der Zachowschen Klavierwerke überzeugen folgendermaßen: Es steht in der Tat kein Kleinmeister vor uns, sondern ein ausgezeichneter Tonkünstler des deutschen Spätbarocks, dessen wirkliche Rolle in der Geschichte der evangelischen Kirchenmusik, genauer in der Kantatengattungs­ und Orgelchoralsgeschichte sowie Stilgeschichte, noch zu untersuchen, zu präzisieren und zu ergründen bleibt. Wenn man sagt, daß Zachow nach seinem Tode völlig ver­ gessen worden ist, so trifft das eigentlich nicht auf den Namen des Komponisten zu. Auf sein musikalisches Erbe hingegen schon. Zachows Name ist sowohl durch die Händel-Biographie Mainwarings als auch durch deren sofortige deutsche Überset­ zung Matthesons für immer in die Musikgeschichte eingegangen. Diejenigen Aussagen über die Vokal- und Klavierwerke Zachows und seine musik­ geschichtliche Bedeutung, die von den Händel-Biographen und anderen Musikge­ schichtsschreibern stammen, sind oft lückenhaft, oberflächlich und dabei manchmal auch erstaunlich ungerecht. Diese Äußerungen werden im dritten Teil der Arbeit dis­ kutiert. Im Zusammenhang mit dem oben Gesagten wird leicht verständlich, daß es über Zachow bisjetzt so gut wie keine spezielle Literatur gibt. Die älteren Musik-Lexika, z. B. Riemanns Lexikon, bezeichnen Zachow als Autor von nur 12 Kantaten. Da­ runter sind diejenigen Werke gemeint, die im Jahr 1905 von Max Seiffert in der Rei­ he „Denkmäler der deutschen Tonkunst“ (Band DDT 21/22) herausgegeben worden sind. Die späteren Musiklexika, wie z. B. MGG und Grove, liefern die Angaben über die insgesamt 33 Vokalkompositionen des Halleschen Meisters. In den beiden letzten Fällen stammen die Informationen von Günter Thomas. Nach dem heutigen Stand der Überlieferungskenntnisse sind mehr als 107 Vokalwerke (Kantaten, Messen und Messesätze) des Meisters in Inventaren nachweisbar, die er während der 28 Jahre seines Schaffens als Organist an der Halleschen Marienkirche komponiert hat. Von der Halleschen Amtsverpflichtung Zachows ausgehend, dürfen wir errechnen, daß innerhalb seiner 28-jährigen Tätigkeit Händels Lehrer zumindest 216 Vokalwerke ge­ schrieben hat. Davon sind heute nur die Notentexte der 32 Kantaten und einer Missa brevis erhalten. 70 weitere Kantaten sowie einzelne Messen und Messesätze sind in den Inventaren von A. Meißner (Halle), G. Gneust (Wanzleben), M. Music (Stettin), und J. F. Fasch (Zerbst) belegt. Einleitung 3 Die ganze erhaltene Zachowsche Klaviermusik ist schon gedruckt und dadurch zu­ gänglich geworden. Viel weniger bekannt und noch nicht erreichbar bleibt bis heute seine überlieferte Vokalmusik. Beinahe zwei Drittel davon sind noch nicht veröffent­ licht. Deswegen fällt der Schwerpunkt dieser Arbeit vor Allem auf die Untersuchung der Vokalwerke des Meisters. Dennoch bleibt Zachows Klaviermusik nicht unberücksichtigt, wobei ich im Inter­ esse der Abgrenzung des Stoffes im engen Rahmen dieser Arbeit auf die ursprünglich geplanten Quellenstudien des Orgelwerks verzichten muß. Wegen der lückenhaften Überlieferung der Vokalwerke konnte auf die stilkritische Untersuchung der erhal­ tenen freien und choralgebundenen Klavierwerke Zachows nicht verzichtet werden. Seine Werke sind immer noch zu wenig oder gar nicht bekannt. Meine Anfragen in den vergangenen Jahren haben gezeigt, daß auch hocherfahrene heutige Praktiker im besten Fall nur zwei Choralbearbeitungen Zachows - und zwar dank der weltbekann­ ten Ausgaben von K. Straube und H. Keller - kennen. Die Hauptursache für die Un­ kenntnis der Werke Zachows besteht nur darin, daß eine moderne Notenausgabe für Wissenschaft und Praxis heute immer noch fehlt. Die einzig vorhandene Ausgabe der Vokalwerke Zachows bleibt bis jetzt die o. g. von Seiffert. Trotz aller positiven Sei­ ten ist diese akademische Ausgabe für die heutige Aufführungspraxis nicht geeignet. Die Ausgaben der Zachowschen Klaviermusik von J. Lohmann und K. Beckmann sind relativ wenig verbreitet. Sie sind rein praktisch orientiert, aber keine Quellen­ ausgaben, und somit nützen sie für die Wissenschaft nicht viel. Daher ist es dringend notwendig, die erhaltenen Vokalwerke aufs Neue herauszugeben. Es handelt sich da­ bei um eine Ausgabe für Wissenschaft und Praxis. Eine Faksimile-Ausgabe wäre erwünscht, jedoch würde auch sie für die heutigen aufführungspraktischen Zwecke nicht viel nützen. Es sei hier bemerkt, daß der Notentext auch im Fall der kalligraphi­ schen autographen Partituren nicht fehlerfrei überliefert ist. Die meisten modernen Praktiker sind heutzutage geneigt, die Werke der zahlrei­ chen Meister aus der Zeit zwischen Schütz und Bach nur im historischen Sinne zu bewerten. Der Unterschied zwischen dem historischen und ästhetischen Zugang zur Tonkunst wäre ein Thema für sich. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß Za­ chow als Komponist auch im ästhetischen Sinne interessant ist und seine Komposi­ tionen es verdienen, sowohl an den Hochschulen studiert als auch in Konzerten auf­ geführt zu werden. Zachows Werke dürfen in den Kursen der Harmonie, Polyphonie des freien Satzes, der Orchestrierung und der Musikgeschichte nicht unberücksichtigt bleiben. In diesem Fall wäre der Unterricht im Sinne der historischen Entwicklung der Tonkunst weniger lückenhaft. Was die bisherige Zachow-Forschung betrifft, nenne ich zwei vorhandene spezielle Arbeiten, auf deren Kommentieren ich mich hier beschränke. Die erste Arbeit von Andreas Wicke „Kantaten Zachows in ihrer geschichtlichen Stellung“ wurde 1957 als Diplomarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen. Sie erschien also nicht als Forschungsarbeit, sondern als Leistungsnachweis. Sie stellt den ersten Ver­ such dar, sich mit der Zachowschen Vokalmusik in der historischen Perspektive aus­ einanderzusetzen. Die Arbeit von Wicke ist eine Studienarbeit und als solche ist sie 4 Einleitung von Interesse. Daher bleibt als einzig vorhandene Forschungsarbeit über Zachow die Dissertation von Günter Thomas „Friedrich

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