Repositorium für die Medienwissenschaft Gerrit Lungershausen Jörn Ahrens: Überzeichnete Spektakel. Inszenierungen von Gewalt im Comic 2020 https://doi.org/10.25969/mediarep/14887 Veröffentlichungsversion / published version Rezension / review Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Lungershausen, Gerrit: Jörn Ahrens: Überzeichnete Spektakel. Inszenierungen von Gewalt im Comic. In: MEDIENwissenschaft: Rezensionen | Reviews, Jg. 38 (2020), Nr. 2-3, S. 217– 218. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/14887. Nutzungsbedingungen: Terms of use: Dieser Text wird unter einer Creative Commons - This document is made available under a creative commons - Namensnennung 3.0/ Lizenz zur Verfügung gestellt. Nähere Attribution 3.0/ License. For more information see: Auskünfte zu dieser Lizenz finden Sie hier: http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/ http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/ Buch, Presse und andere Druckmedien 217 Buch, Presse und andere Druckmedien Jörn Ahrens hat eine Monografi e über Vorwand für die Umsetzung graphi- grafi sche explizite Darstellungen phy- scher Kunststücke“ (S.65). Die „fak- sischer Gewalt vorgelegt und strebt tisch überfl üssig[en]“ Texte würden dabei ausdrücklich keinen historischen lediglich „die Abfolge der Bilder“ ver- oder systematischen Überblick an. binden (S.68). Durch die Reduktion In Abgrenzung zu medienpädago- der Hintergründe und die Konzentra- gischen Engführungen von Comics tion auf Posen zulasten von Sequenzen und Gewalt, die das Medium als Ver- erreiche Sin City den „äußerste[n] Grad ursacher von Gewalt interpretieren, an abstrakter Repräsentation“ (S.70). möchte Ahrens die „Art und Weise Dies untermauert die ese, Comics der Darstellung der Gewalt“ (S.11) in seien im Unterschied zum Film kein den Blick nehmen. Dass die Perspektive Illusionsmedium: „Jedes Panel bei auf Comics als ,gefährliches Medium‘ Miller signalisiert dem Leser: Dies ist inzwischen keinen Stellenwert mehr keine Gewalt; dies ist ein Bild!“ (S.73). habe, sei auch der weitgehenden Margi- Insofern Sin City Ahrens’ Fokus auf die nalisierung des Mediums zu verdanken grafi schen Aspekte und deren stärkere (vgl. S.22). Der methodische Zugriff ist Berücksichtigung gegenüber der Nar- ein kulturwissenschaftlicher, und der ration bestätigt, ist Sin City ein kon- Autor kritisiert den derzeit vorrangig sequenter Einstieg in die lesenswerten literaturwissenschaftlichen Zugang Fallanalysen. zum Medium, der auf die Narration Mit 100 Bullets wendet Ahrens fokussiere und die Bildebene weitge- sich einer amerikanischen Serie von hend vernachlässige (vgl. S.23). Autor Brian Azzarello und Zeichner In acht Fallanalysen widmet er sich Eduardo Risso zu. Ausgehend von höchst disparaten Comics wie Frank einer Rezension im Comics Journal Millers Sin City (1991-1992), Yann und setzt er sich neben dem vermeintlich Conrads Helden ohne Skrupel (1979), absenten Gegenwartsbezug der Serie Brian Azzarellos und Eduardo Rissos vor allem damit auseinander, welches 100 Bullets (1999-2009), Brian Woods Kunstverständnis der Besprechung zu DMZ (2005-2012), Joe Saccos Bosnien- Grunde liege (vgl. S.118f.). Als mar- Comics, Baru, Hermann Huppen und ginalisiertes Medium der „illegitimen Winshluss’ Pinocchio-Adaption. Kultur“ (S.121) sei der Comic nicht Die Kriminalgeschichte von Frank mit den Maßstäben eines „hegemonia- Millers Sin City, so Ahrens, bleibe „ein len Kunstverständnisses“ (S.121) zu 218 MEDIENwissenschaft 02-03/2020 betrachten. 100 Bullets schließe mit Disziplinen. Auf engstem Raum wer- seiner „Ästhetik der Übertreibung“ den etwa das philosophische Konzept (S.122) sowohl an popkulturelle Gen- vom ‚glatten‘ und ‚gekerbten‘ Raum res und Erzähltraditionen wie auch die von Deleuze und Guattari, Panofskys Lebenserfahrung der 1990er Jahre an. Ikonografie und Merleau-Pontys Als zentralen Figurenaspekt hebt Ausführungen über Wahrnehmung Ahrens die „Spannung zwischen dem miteinander arrangiert. Diese Argu- Gewöhnlichen und dem Außerge- mentationsführung macht die lohnende wöhnlichen“ (S.125) hervor. Gewalt Lektüre auch zu einer herausfordernden sei der „Persönlichkeitsmodus“ der Parforcetour durch kulturtheoretische handelnden Figuren, in dessen Rahmen Modelle und Konzepte. sie das ihnen inhärente „Außergewöhn- Die Monografi e basiert zum Teil liche“ freisetzen (S.137). Durchaus ver- auf verstreuten und überarbeiteten gleichbar mit Superheld_innen sei das Einzelveröffentlichungen. Die ein- „Moment der Metamorphose“ (S.148), zelnen Beiträge fügen sich nicht zu insofern die Figuren sich hier von harm- einer durchgehenden Argumentation losen Mitbürger_innen zu kampfer- zusammen, sondern bieten anhand probten Kriminellen transformierten. heterogener Fallanalysen verschiedene Im Unterschied zu Superheld_innen sei Perspektiven an. Dieser eklektizis- diese Transformation aber irreversibel: tische Ansatz führt nicht in die Ver- „Das Kostüm der Minutemen legt nur legenheit, esen belegen zu müssen, der Tod ab“ (S.148). die der Band niemals aufgestellt hat. Das Korpus ist in fast jeder Hinsicht Dieses Verfahren hat aber auch den höchst heterogen, wobei der Fokus Preis, den Charakter einer Monografi e auf europäische und amerikanische zugunsten der Logik eines Sammel- Comics reichlich eng bleibt, wie bandes zu opfern. Ahrens bietet viele Ahrens selbst einräumt – er nennt Anknüpfungspunkte für eine noch zu seine Auswahl „grandios willkür- schreibende systematisierende oder lich“ (S.26). Die Berücksichtigung historisierende Arbeit über Gewalt von Superheld_innencomics wie auch im Comic, oder, wie der Autor selbst Mangas wäre sicher nicht uninteres- schreibt: „Dieses Buch wäre fortzu- sant gewesen. schreiben“ (S.317). Bisweilen kombiniert Ahrens in rascher Folge Konzepte verschiedener Gerrit Lungershausen (Mainz).
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